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Bionik: Hält besser als Füße

Wenn Sie das nächste Mal Ihr Auto an die Wand hängen wollen, reicht ein Stück Klebefilm von der Größe einer Seite aus dem Schulheft aus. Vorausgesetzt, Sie haben eine Probe des neuesten Nanoklebers zur Hand.
Neuer Kleber
Im Prinzip ist Bionik eine ganz einfache Wissenschaft: Zuerst ist da das Staunen über eine Wunderleistung der Natur – beispielsweise die Fähigkeit von Geckos, ohne zu rutschen an senkrechten Wänden und Glasscheiben empor zu laufen. Dann kommt das eifrige Untersuchen und Experimentieren, wie die Natur in Form der Geckofüße dieses Kunststück wohl fertig bringt – an dessen Ende hoffentlich ein Erfolgserlebnis steht in Form eines winzigen Stückes Klebefilm, das unser Ritual des Anheftens für immer verändern soll.

Und die Chancen stehen nicht schlecht, dass wir tatsächlich eines nicht mehr allzu fernen Tages mit dem Geckokleber unsere Bilder, Fernseher und vielleicht sogar Regale einfach an die Wand bappen. Denn der bionische Prototyp, den ein Forscherteam um Zhong Lin Wan vom US-amerikanischen Georgia Institute of Technology nun entwickelt hat, trägt unglaubliche zehn Kilogramm pro Quadratzentimeter. Genug, um einen neuen Golf VI mit der Klebefläche einer DIN-A5-Seite in der Luft zu halten.

Diese phänomenale Leistung bringt ausgerechnet eine der schwächsten Bindungskräfte zu Stande, die Chemiker kennen: die van-der-Waals-Kraft. Bereits 1869 vom niederländischen Physiker Johannes Diderik van der Waals entdeckt, sorgt sie dafür, dass unpolare Moleküle aneinander hängen, indem diese die dynamische Verteilung ihrer Elektronen aufeinander abstimmen. Denn die Elektronen – und mit ihnen ihre negative elektrische Ladung – sind nicht vollständig gleichmäßig über ihre Atome und Moleküle verteilt. Es kommt ständig zu leichten Verschiebungen, wodurch kurzfristig schwache Dipole entstehen. Deren Felder können die Elektronen in benachbarten Molekülen dazu bringen, ihre eigenen Schwankungen anzupassen. Die Dipole synchronisieren sich, und eine winzige elektrische Anziehungskraft entsteht.

Mit fasrigen Füßen an der Wand lang | Geckos können selbst senkrechte glatte Flächen emporlaufen, weil ihre Füße voller feiner Härchen sind, die sich zu Filamenten von der Dicke eines Bakteriums aufspalten.
Weil eine einzelne van-der-Waals-Bindung extrem schwach ist, müssen für eine nennenswerte Haltekraft sehr viele abgestimmte Dipole zusammenkommen. Und die Flächen müssen einander sehr nahe sein, um überhaupt eine Synchronisation zu ermöglichen. Beides erreicht der Gecko mit einer besonderen Konstruktion seiner Fußsohlen: An seinen Zehen sitzen unzählige feine Härchen, die sich zu den Enden in noch dünnere Filamente aufspalten. Mit Durchmessern von weniger als einem Mikrometer schmiegen sie sich beim Aufsetzen des Fußes eng an jeden beliebig geformten Untergrund. Auf diese Weise ergeben sich ausreichend Kontakte, um den Gecko mit einer Kraft von etwa zehn Newton pro Quadratzentimeter an der Wand zu halten. Eher reißt so ein Beinchen in der Mitte durch, als dass die Haftung unbeabsichtigt abbricht.

Das gleiche Prinzip der faserigen Fäden nutzen auch Wang und seine Kollegen für ihren künstlichen Klebefilm. Als geeignetes Material drängten sich Nanoröhrchen aus Kohlenstoff geradezu auf. In ihnen bilden die Atome gewissermaßen winzige Strohhalme mit einer oder mehreren Wänden. Bei Durchmessern im Bereich weniger hundertstel Mikrometer sind die Nanoröhrchen dennoch extrem reißfest – und bauen sehr gerne van-der-Waals-Kontakte zu anderen Materialien auf.

Geordnet und chaotisch | Der künstliche Haftfilm mit Nanoröhrchen verfolgt eine doppelte Taktik. Zuerst nehmen die wuseligen Enden der Röhrchen (Bild unten rechts in der Aufsicht) mit dem Untergrund Kontakt auf. Wird dann seitlich am Film gezogen, legen sich die langen aufrechten Stiele (Bild unten links in der Seitenansicht) quer und vergrößern dadurch entscheidend die Kontaktfläche.
Allerdings stören sich die Röhrchen dabei leicht gegenseitig und verhindern so eine maximale Haftwirkung. Wangs Team lehnte sich darum an die Konstruktion der Geckos an und schuf einen Haftfilm, bei dem auf einem Siliziumscheibchen als Träger zunächst eine Phalanx gerade ausgerichteter, parallel verlaufender Nanoröhrchen prangt. Schon auf dieser Stufe erreicht der Film die Haltekraft der Tierfüße.

Klein, aber oho! | Nur vier Millimeter Kantenlänge misst der Prototyp (roter Pfeil), an den sich wahlweise Getränkeflaschen oder schwere Metallringe aufhängen lassen.
Aber es geht noch stärker. Indem die Forscher die Enden der Röhrchen weniger steif gestalteten, sodass sie sich leichter an eine Oberfläche anpassen können, stieg die Kontaktfläche noch weiter an – und die Haftkraft nahm auf rund 100 Newton pro Quadratzentimeter zu. Einen Elefanten mit einem Gewicht von vier Tonnen könnten demnach 400 Quadratzentimeter Haftfilm halten – weniger als ein Blatt DIN A4.

Der Elefant müsste jedoch an der Wand aufgehängt werden, von der Decke würde er wieder herabfallen. Der Grund liegt darin, dass die Nanoröhrchen nur deshalb so gut wirken, weil sie sich bei seitlicher Belastung auf den Untergrund legen und mit einem Gutteil ihrer Länge Bindungen ausbilden können. Zieht man sie hingegen senkrecht von der Oberfläche ab, halten sie sich nur mit ihren Enden fest und lassen leichter los. Zum Glück! Denn nur dadurch lässt sich der Haftfilm überhaupt wieder vom Untergrund lösen.

Obwohl die Geckofüße nicht mehr die stärksten Klammerer sind, bleibt ihnen gegenwärtig noch ein Vorteil gegenüber dem Herausforderer aus dem Labor: Sie sind nachhaltiger. Denn wurden die Nanoröhrchen einmal kräftig belastet, sind ihre sorgsam ausgerichteten Mengen ziemlich geknickt und nicht mehr ganz frisch für eine nächste Runde. Aber das bekommen die Forscher sicherlich auch noch hin. Vermutlich sitzen sie bereits an ihren Laborbänken und tüfteln und basteln.

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  • Quellen
Wang, Z. L. et al.:: Carbon Nanotube Arrays with Strong Shear Binding-On and Easy Normal Lifting-Off. In: Science 322, S. 238–242, 2008.

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