Direkt zum Inhalt

Autismus-Spektrum-Störung : Hängen Allergien und Autismus zusammen?

Eine Studie zeigt, dass autistische Kinder überdurchschnittlich häufig an Allergien leiden. Wie lässt sich das erklären?
Ein kleines Mädchen steht hinter einem Baum und guckt etwas traurig

In Deutschland leben schätzungsweise 800 000 Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Menschen mit ASS haben häufig Probleme damit, soziale Beziehungen zu verstehen und aufzubauen und (nonverbal) zu kommunizieren. ASS kann in unterschiedlichen Schweregraden auftreten; oft gibt es fließende Übergänge zwischen den verschiedenen Varianten der Störung. Längst nicht bei allen ist sie diagnostiziert.

Bisher wissen Neurowissenschaftler nicht, was eine ASS verursacht und was bei Menschen mit ASS »anders« im Schaltplan der Neuronennetze ist. Bekannt ist inzwischen, dass viele Autisten mit Begleiterkrankungen zu kämpfen haben. Verbreitet sind Angststörungen, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom), Epilepsie, Schlafstörungen und ein empfindlicher Verdauungstrakt.

Das ist nicht alles: Epidemiologen der University of Iowa fanden heraus, dass autistische Kinder häufiger mit einer Allergie zu kämpfen haben als Kinder ohne Autismus. Guifeng Xu und ihre Kollegen durchforsteten für die Studie die Daten des National Health Interview Survey der Jahre 1997 bis 2016. In dieser repräsentativen Umfrage beantworten Menschen in den USA jedes Jahr Fragen zu ihrem Gesundheitszustand.

Den Forschern lagen so die Daten von knapp 200 000 Kindern im Alter von 3 bis 17 Jahren vor. Bei ungefähr einem Prozent der Probanden war eine ASS diagnostiziert worden. Die häufigsten Allergien bei allen Kindern waren Nahrungsmittelallergien, Allergien der Atemwege – zum Beispiel Heuschnupfen, Hausstaub- oder Tierhaarallergie – und Neurodermitis. Auffällig war, dass es bei allen drei Allergiearten ungefähr sieben Prozent mehr Betroffene unter den autistischen Kindern gab als unter den Kindern ohne ASS. Beispielsweise waren vier Prozent der Kinder ohne ASS von einer Nahrungsmittelallergie betroffen, und bei den Kindern mit ASS waren es rund elf Prozent.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Autismus und Allergien? Und könnte das helfen, die Ursachen von ASS besser zu verstehen?

Was die Studie aussagt und was nicht

Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung haben häufiger Allergien als Kinder ohne Autismus. Das ist das Ergebnis der Forscher. Nicht mehr und nicht weniger. Die Studie kann weder beantworten, ob Allergien und Autismus etwas miteinander zu tun haben, noch löst sie das »Henne-Ei-Problem«: Was war zuerst da? Theoretisch lässt sich die Beobachtung der Forscher auf mindestens drei verschiedene Weisen erklären.

So wäre es plausibel, dass Autismus und die Allergie zwei unabhängige Ereignisse sind, die zwar zusammen auftreten, aber nicht ursächlich miteinander verknüpft sind. Die zweite Möglichkeit ist, dass es für Autismus und Allergie die gleichen oder ähnliche Risikofaktoren gibt. Das könnten Genvarianten und Umweltbedingungen sein, die sowohl Autismus als auch Allergien vorantreiben.

Und drittens könnten sich Autismus und Allergien gegenseitig verursachen oder verstärken. Beispielsweise könnten sich früh ausgeprägte Turbulenzen im Immunsystem auf die Entwicklung des Gehirns auswirken und das Knüpfen von Nervenverbindungen stören.

Kritik an der Studie

Doch wie zuverlässig sind die Ergebnisse aus der Studie überhaupt? Experten meinen, dass die Zahlen zu den Allergien möglicherweise etwas zu hoch gegriffen sind. Die zu Grunde liegenden Daten beziehen sich nämlich nur auf die Auskünfte der befragten Eltern. Laut Matthew Greenhawt, Kinderarzt am University of Colorado Medical Center, könnten sich so leicht Fehler eingeschlichen haben. Da Kinder mit ASS ohnehin häufig ein schwieriges Essverhalten an den Tag legten, bestehe die Möglichkeit, dass das, was die Eltern für eine Allergie hielten, gar keine sei. Besser wäre es gewesen, immunologische Tests durchzuführen, um die Allergie zu bestätigen, so Greenhawt.

Christine Freitag vom Autismus Therapie- und Forschungszentrum (ATFZ) am Universitätsklinikum Frankfurt ist ebenfalls skeptisch, was die neuen Daten anbelangt. Die verwendete Methode sei fragwürdig, die gefundenen Zusammenhänge womöglich nur eine Pseudoassoziation, also ein Zufallsbefund. Wenn autistische Kinder an Magen-Darm-Problemen litten, sei dies wohl eher eine Folge als die Ursache ihres Verhaltens. Viele Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung sind beim Essen nämlich extrem wählerisch oder stecken Sachen schnell in den Mund.

Wie entsteht Autismus?

Christopher McDougle vom Lurie Center for Autism an der Harvard Medical School bewertet die Studie positiver. Sie bestätige, dass es eine Untergruppe der Autismus-Spektrum-Störung gibt, die durch die Aktivität des Immunsystems vorangetrieben werde. Wie kommt McDougle darauf?

Die Entwicklung unseres Gehirns ist ein extrem empfindlicher Prozess. Sie beginnt in der dritten Schwangerschaftswoche und erfordert ein präzises Ineinandergreifen von regulatorischen Signalstoffen, Genaktivierungen, Zellteilungen und Zellwachstum. Zum Zeitpunkt der Geburt haben rund 86 Milliarden Nervenzellen die unvorstellbare Zahl von etwa 100 Billionen Kontakten untereinander geknüpft.

Es gibt einige Hinweise darauf, dass eine Aktivierung des mütterlichen Immunsystems in der Schwangerschaft, etwa durch eine Infektion, Auswirkungen darauf haben kann, wie sich das so genannte Salience-Netzwerk ausbildet. Dieses Nervennetzwerk verknüpft Areale in der Hirnrinde mit darunterliegenden Gebieten, etwa den Mandelkernen (Amygdalae). Das Salience-Netzwerk ist an Prozessen wie der Kommunikation, dem Sozialverhalten und der Selbstwahrnehmung beteiligt. Folglich spielt es bei der ASS eine große Rolle.

Die Autismus-Spektrum-Störung entwickelt sich wahrscheinlich vor der Geburt, in einem Zeitfenster, in dem wichtige Verbindungen im Salience-Netzwerk geknüpft werden. Viele Immunbotenstoffe beeinflussen die kindliche Gehirnentwicklung ohnehin schon. Wird das Immunsystem der Mutter aktiviert, können die Botenstoffe sogar auf das 1000-Fache ihrer ursprünglichen Konzentration ansteigen. Dadurch kommen vielleicht die fein regulierten Prozesse durcheinander.

Eine Theorie lautet also, dass eine Infektion der Mutter in der Schwangerschaft – zusammen mit genetischer Veranlagung und Umwelteinflüssen – Auswirkungen darauf hat, ob sich beim Kind später eine Autismus-Spektrum-Störung entwickelt. Bewiesen ist das allerdings noch nicht.

Fest steht, dass die genetische Veranlagung für die Entstehung einer Autismus-Spektrum-Störung bedeutend ist. Welchen Einfluss man den Genen dabei zumisst, schwankt je nach Studie – einige sprechen von 60, andere von 90 Prozent. Da bei der Erkrankung eines eineiigen Zwillings an ASS der zweite zwar sehr häufig, aber nicht immer ebenfalls betroffen ist, müssen Umweltfaktoren beteiligt sein.

»In den meisten Fällen werden eine genetische Vorbelastung und ein Umweltfaktor zusammenwirken, obwohl es sicherlich Fälle geben kann, die rein genetisch bedingt oder rein auf Umweltfaktoren zurückzuführen sind«, sagt Andreas Grabrucker. Er ist Biologe an der University of Limerick in Irland.

Welche Bedeutung den Umweltfaktoren überhaupt neben den Genen zukommt, ist unter Experten umstritten und womöglich von Fall zu Fall verschieden. Viele potenzielle Kandidaten wurden in den letzten Jahren vorgeschlagen: Luftverschmutzung, Umweltchemikalien wie PCB, Dioxine, Pestizide, Phthalate, das Alter der Eltern, die mütterliche Ernährung, Zigarettenrauch, Alkohol und Autoimmunerkrankungen der Mutter.

Was hat das Mikrobiom damit zu tun?

Die Bakteriengesellschaft in unserem Darm wird heutzutage im Zusammenhang mit vielen Krankheitsbildern diskutiert, auch bei Allergien und Autismus-Spektrum-Störung. Der Darm ist das größte Immunorgan und der Hauptsitz für die Entwicklung des Immunsystems. Darm und Hirn stehen in engem Informationsaustausch, über Immunzellen und deren Botenstoffe, über den Vagusnerv, über die Regulation des Tryptophanstoffwechsels und über die Stoffwechselprodukte der Bakterien, die den Darm besiedeln.

Das Mikrobiom beeinflusst, ob Nervenzellen gebildet werden und wie beweglich neue Nervenverknüpfungen sind. Es kann außerdem Stimmung, Verhalten und Denken eines Menschen beeinflussen. Um das Ausmaß des Mikrobioms zu untersuchen, haben Forscher Mäuse im Labor komplett ohne Bakterien, also keimfrei, aufwachsen lassen. Im Darm dieser Mäuse entwickelte sich so kein Mikrobiom, was die Neurogenese, die Neubildung von Nervenzellen, störte; zudem schüttete das Gehirn inkorrekte Mengen an Neurotransmittern aus. Die Tiere waren gestresst, ängstlich und in ihrem Sozialverhalten gestört.

Bei autistischen Menschen ist das Mikrobiom häufig anders zusammengesetzt als bei Menschen ohne Autismus-Spektrum-Störung. Womöglich ist das auch bei Menschen mit Allergien so. Doch dieses »anders« sieht bei Menschen mit ASS sehr unterschiedlich aus; bei den einen dominieren diese, bei den anderen jene Bakterienarten. Autistische Kinder ernähren sich wie gesagt häufig sehr wählerisch, wodurch sich das Mikrobiom verändert. Daher ist umstritten, ob das veränderte Mikrobiom Ursache oder Folge der ASS (oder möglicherweise einer Allergie) ist.

Was könnte betroffenen Kindern helfen?

Die Forschung lässt noch keine klaren Schlüsse zu. Gibt es etwas, was die Eltern von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung tun können? Hilfreich mag zum Beispiel sein, Allergien möglichst rasch zu diagnostizieren. Einigen Kindern mit ASS fällt es schwer auszudrücken, welche Probleme oder Schmerzen ihnen der Verzehr bestimmter Speisen bereitet. Eine eventuelle Allergie könnte daher auch Reizbarkeit und aggressives Verhalten auslösen.

Obwohl nicht bekannt ist, wie genau das Mikrobiom die ASS zusammen mit Genen und Umweltfaktoren beeinflusst, mag es sinnvoll sein, auf das Mikrobiom einzuwirken. Manche Wissenschaftler schlagen vor, »Psychobiotika« zu entwickeln. Diese sollen Bakterien enthalten, die nicht wie bei den Probiotika die Darmflora regulieren, sondern sich positiv auf die Psyche auswirken. Christine Freitag verfolgt die Forschung zu Mikrobiom und ASS mit Skepsis. Es würde heftig spekuliert, vieles sei nicht erwiesen, und sicherlich spielten auch wirtschaftliche Interessen mit hinein, sagt sie. Hersteller könnten viel Geld damit verdienen, betroffenen Familien Psychobiotika zu verkaufen.

Da es bisher noch keine eindeutigen Risikofaktoren für ASS gebe, sollte alles dafür getan werden, dass Frauen eine gesunde Schwangerschaft durchleben, meint der Kinderarzt Scott Rivkees von der University of Florida in Gainesville. Kürzungen bei den Ausgaben für die pränatale Vorsorge seien keinesfalls der richtige Weg. Zu so einer Vorsorge gehört es auch, schwere Infektionen der werdenden Mutter in der Schwangerschaft zu verhindern. Das gelingt mit den verfügbaren Impfungen zum Beispiel gegen Mumps, Masern, Röteln und Grippe.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.