Direkt zum Inhalt

Kosmologie: Hat das Universum eine Schlagseite?

Eine neue Studie über Galaxienhaufen legt nahe, dass der Kosmos in manchen Regionen schneller expandieren könnte als in unserer Nachbarschaft. Aber die Arbeit ist umstritten.
Heißes Gas in Galaxienhaufen (lila)

Wenn einem das Leben manchmal richtungslos erscheint, kann man durchaus das Universum dafür verantwortlich machen: Laut einer der Grundannahmen der modernen Physik sieht der Kosmos in jeder Blickrichtung gleich aus – zumindest, wenn man ein mehrere Milliarden Lichtjahre großes Volumen betrachtet. In solch einem »isotropen« Universum gelten überall dieselben Naturgesetze. Das müsste unter anderem dazu geführt haben, dass sich das All seit dem Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren überall gleich schnell ausgedehnt hat.

Tatsächlich stimmt diese Annahme gut mit dem überein, was Astronomen aus dem kosmischen Mikrowellenhintergrund herauslesen. Dieses Nachleuchten des Urknalls ist für Radioteleskope als eine Art Grundrauschen an jedem Flecken des Firmaments aufspürbar. Die Strahlung ist dabei – von winzigen Schwankungen abgesehen – in jeder Blickrichtung gleich stark, so wie man es von einem isotropen Universum erwarten würde.

Expandiert das All mancherorts besonders schnell?

Nun stellt eine neue Studie die Isotropie dennoch in Frage: Manche Galaxienhaufen könnten demnach eine andere Entfernung zur Erde haben, als man in einem komplett gleichmäßigen Universum annehmen würde. Das All wäre in diesem Fall »anisotrop« und würde mancherorts schneller expandieren. In den Weiten des Kosmos könnte es also doch so etwas wie eine bevorzugte Richtung geben.

Die Studie stammt von einem internationalen Team unter der Leitung des Astronomen Konstantinos Migkas von der Universität Bonn. Sie stützt sich auf neue und alte Beobachtungsdaten von fast 850 Galaxienhaufen, die vom Röntgenobservatorium Chandra der NASA, dem XMM-Newton-Satelliten der Europäischen Weltraumorganisation ESA und dem japanischen Advanced Satellite for Cosmology and Astrophysics stammen.

Die Studie, die im Fachmagazin »Astronomy & Astrophysics« erschienen ist, behandelt jeden der Galaxienhaufen wie einen fernen Leuchtturm: Ihre Entfernung zu uns ergibt sich daraus, wie hell oder dunkel jeder einzelne Cluster erscheint. Anhand der Art und Menge von Röntgenstrahlen, die von dem heißen Gas zwischen den Galaxien ausgeht, konnte das Team jeweils die Temperatur der dünn verteilten Materie bestimmen. Auf diese Weise ließ sich die Röntgenleuchtkraft des Haufens abschätzen – und damit auch seine Entfernung.

Als Nächstes berechneten die Astrophysiker die Leuchtkraft jedes Galaxienclusters mit einem anderen Verfahren, das sich auf die Annahme einer isotropen Expansion des Universums stützt. Anschließend verglich das Team beide Leuchtkraftwerte, die ja unabhängig voneinander ermittelt wurden. Das ermöglichte den Forschern eine Abschätzung darüber, ob die Expansionsrate in manchen Himmelsbereichen größer ausfällt als erwartet.

Angriff auf die Säulen der Physik

Tatsächlich stieß die Gruppe in ihrer Studie auf zwei Gebiete, in denen die Galaxienhaufen etwa 30 Prozent heller oder schwächer leuchteten als angenommen (und damit möglicherweise näher oder weiter entfernt sind als gedacht). »Eine der Regionen scheint schneller zu expandieren als der Rest des Universums, die andere langsamer«, sagt Migkas.

Etwas Ähnliches haben in der Vergangenheit bereits andere Studien nahegelegt, die Daten von Supernovae-Explosionen oder Infrarotlicht von Galaxien ausgewertet haben. Gleichzeitig gibt es auch eine Vielzahl von Untersuchungen, die für ein gleichmäßiges Universum sprechen. Die Situation ist daher nach wie vor unklar.

Expansionsgeschwindigkeit | Je nachdem, in welche Richtung man blickt, expandiert das All ein klein wenig anders. Das sagt zumindest eine aktuelle Forschungsarbeit, die jedoch unter Astrophysikern umstritten ist. Im Mittelpunkt des hier abgebildeten Ovals befindet sich unsere Milchstraße. Wenn man von dort entlang der galaktischen Scheibe blickt, bewegt man sich in x-Richtung. Richtungen ober- und unterhalb der Scheibe sind in y-Koordinaten aufgetragen. Unterschiedliche Farben geben verschiedene Werte der Hubble-Konstanten an – das gängige Maß für die gegenwärtige Expansionsrate des Weltalls.

Wäre das All in Wahrheit anisotrop, würde das an den Säulen der modernen Physik rütteln. Eine Expansion, die in manchen Richtungen stärker ausfällt, wäre »sowohl erstaunlich als auch deprimierend«, sagt Megan Donahue von der Michigan State University, die an der aktuellen Studie nicht beteiligt war. Denn eine Anisotropie würde darauf hindeuten, dass wir uns die Struktur und Entwicklung des Universums bisher falsch vorstellen – und vielleicht auf ewig dazu verdammt sind, im Dunkeln zu tappen.

Eine spektakuläre Erklärung für die Diskrepanz könnte dagegen die Dunkle Energie liefern. Die geheimnisvolle Kraft, die das Wachstum des Universums beschleunigt, ist schon länger bekannt. Bisher gehen Forscher davon aus, dass sie überall gleich stark wirkt. Aber vielleicht hat sich die rätselhafte Antischwerkraft in den Äonen zwischen dem »frühen« Universum, aus dem die kosmische Hintergrundstrahlung stammt, und dem »späten« Universum, in dem Galaxienhaufen durchs All treiben, verändert: In einigen ausgewählten Teilen des Kosmos könnte die Dunkle Energie das All kräftiger aufgeblasen haben, was zu einer ungleichmäßigen Expansion geführt hätte.

Gewaltige Materieströme würden das Weltall stark verändern

Doch auch das Gegenteil ist möglich: Vielleicht ist das Universum so gleichförmig wie gedacht – und die Studie der Bonner Forscher zieht eine falsche Schlussfolgerung. So ist es durchaus denkbar, dass die Galaxienhaufen, die aus der Reihe tanzen, schlicht in großen Materieströmen gefangen sind. Diese würden von der Gravitationskraft noch größerer und weiter entfernter Haufen ausgehen. Die anormalen Galaxienhaufen wären dann wie Schiffe, die auf dem Meer in eine schnelle Strömung geraten sind. Es sähe in diesem Fall also nur so aus, als würde der Raum dort schneller expandieren – in Wahrheit wären die Massen in diesen Regionen schlicht etwas stärker in Bewegung.

Gegen dieses Szenario spricht, dass die meisten Kosmologen auf Basis bisheriger Daten nicht an derart große Materiebewegungen glauben. Die bislang bekannten Ströme bewegen sich über weit kürzere Strecken als die rund fünf Milliarden Lichtjahre, die in der Bonner Studie untersucht wurden. Aber ausschließen lasse sich das nicht: »Es könnte sehr wohl ein Massenfluss sein«, sagt Migkas. »Aber auch das wäre eine sehr wichtige Erkenntnis, eben weil die meisten Studien solche Strömungen bisher nicht berücksichtigen – dabei könnten sie Messungen stark beeinflussen.«

Die naheliegendste Erklärung wäre natürlich, dass die scheinbaren Unstimmigkeiten in den Abständen der Galaxienhaufen auf Mängel in den Daten oder der Analyse der Bonner Forscher zurückzuführen sind. »Studien, die solche Cluster als Sonden der Kosmologie verwenden, liefern seit einiger Zeit verrückte Ergebnisse«, sagt Adam Riess von der Johns Hopkins University, der 2011 den Nobelpreis für die Entdeckung der beschleunigten kosmischen Expansion erhalten hat.

Blinde Flecken im Kosmos

Riess zitiert aktuelle Analysen anderer Forscher, die Unstimmigkeiten zwischen clusterbasierten Arbeiten und anderen Messtechniken aufzeigen. Diese Inkonsistenzen legen aus seiner Sicht nahe, dass die Korrelationen zwischen Temperatur und Leuchtkraft von Galaxienhaufen nicht so eindeutig sind, wie Forscher es gerne hätten.

Darüber hinaus gibt es laut Riess noch andere potenzielle Probleme, vor allem die mit Gas und Staub gefüllte Scheibe unserer Milchstraße, die den Blick auf manche Gegenden des Weltalls erschwert. Davon sei auch die Bonner Studie betroffen: Sie sieht die größte Anisotropie in einer Himmelsregion in unmittelbarer Nähe der dichtesten Gas- und Staubansammlungen unserer Galaxie. Dass die Studienautoren ausgerechnet in diesem »toten Winkel« einen großen Effekt sehen, sei verdächtig, findet Riess.

David Spergel, Kosmologe an der Princeton University, geht ebenfalls von einem Fehler in der Analyse aus – auch weil so viele andere Techniken grundsätzlich widersprüchliche Ergebnisse liefern. »Sollte das Paper korrekt sein, wäre das eine sehr wichtige Erkenntnis, aber ich halte das für sehr unwahrscheinlich«, sagt er. Man verfüge über viel genauere Werkzeuge, die eine mögliche Anisotropie aufspüren könnten. Sie basieren auf Beobachtungen des Mikrowellenhintergrunds und der Untersuchung großräumiger Strukturen im All.

»Diese Tests sind einfacher, sauberer und wurden außerdem auf viele verschiedene Arten reproduziert«, sagt Spergel. Sollte es Anisotropien von der Größenordnung der Bonner Studie geben, wären sie laut Spergel längst bemerkt worden: Unter anderem würden tausendfach größere Schwankungen in der kosmischen Hintergrundstrahlung auftauchen, als jene, die man bisher beobachtet hat.

Dennoch halten Migkas und seine Kollegen an ihrem Ergebnis fest: Bisher könne man schlicht nicht sagen, ob das Universum eine bestimmte Richtung bevorzugt. Es seien weitere Studien nötig. Das Team will künftig nach neuen Hinweisen in den Karten der kosmischen Hintergrundstrahlung suchen, auch wollen die Forscher ihre röntgenbasierten Studien von Galaxienhaufen durch Infrarotbeobachtungen ergänzen.

Neue Ergebnisse könnten letztlich von Weltraumteleskopen kommen. Beispielsweise von dem deutsch-russischen Röntgenobservatorium eROSITA oder der bevorstehenden Euclid-Mission der ESA. »Generell sind wir der Meinung, dass sich mehr Menschen mit der Isotropie des Universums befassen sollten«, sagt Migkas. Schließlich sei das Thema enorm wichtig für die Kosmologie. »Es wäre schon großartig zu erfahren, ob das heutige Universum überall gleich aussieht oder nicht.«

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.