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News: Herzschlag in der Petrischale

Beim Blick in die Schale zeigt sich rhythmische Bewegung, ein schnelles, pulsierendes Zucken. Wie ein feines Netz zwischen zwei Röhrchen aufgespannt, ist dort ein Verband hochspezialisierter Zellen an der Arbeit. Das dreidimensionale Gewebe aus Herzmuskelzellen funktioniert in mancher Hinsicht wie ein Herz in einem lebenden Organismus. Dieses Zellkulturmodell nützt zum einen Forschern, die mehr über Funktionsweise und Erkrankungen des Herzens in Erfahrung bringen wollen. Zum anderen kann möglicherweise Ersatz für abgestorbenes Herzgewebe geschaffen werden.
Kulturen von Herzzellen werden schon seit rund 40 Jahren in der medizinischen und pharmakologischen Forschung eingesetzt. Die Erkenntnisse, die dadurch gewonnen werden können, sind jedoch begrenzt. Die Kulturbedingungen halten die Zellen zwar für eine Weile am Leben, haben jedoch mit deren normaler physiologischer Umwelt wenig gemeinsam. Zellschichten auf Plastikoberflächen bilden denn auch kein vernetztes Gewebe aus. Die Proteine, die in den Kulturen fabriziert werden, weichen von dem für Herzmuskelzellen typischen Muster ab. Zytostatika müssen verhindern, daß andere Zellarten die Kulturen überwuchern. Die wichtigste Funktion, die Kontraktionskraft, läßt sich unter derartigen Verhältnissen nicht messen.

Dreidimensionale, zu einer funktionellen Einheit verbundene Zellkulturen bieten dagegen weit bessere Möglichkeiten der Einsicht in Prozesse, die in einem Organismus ablaufen. Für andere Zelltypen – beispielsweise Bindegewebs- und Knochenzellen – war die künstliche Züchtung solcher Gewebe bereits zuvor gelungen. Vernetzte Strukturen von Herzmuskelzellen jedoch erzielte erstmals das Team von Thomas Eschenhagen, seit Anfang 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Pharmakologie und Klinische Toxikologie an der Universität Erlangen-Nürnberg, mit einer 1995 patentierten Methode. Zusammen mit einer amerikanischen Arbeitsgruppe haben er und seine Mitarbeiter den Versuchsaufbau entwickelt, der künstlich gezüchtete Zellen zum Schlagen bringt. Da es sich um Konstrukte handelt, wenn sie auch aus lebendem Material bestehen, wurde dafür die Bezeichnung "Engineered Heart Tissues" (EHT) gewählt.

Für das Herzmuskel-Modell werden Herzzellen embryonaler oder neugeborener Versuchstiere in einer Kollagengelmatrix gezüchtet, einer Nährlösung aus Proteinen des Stütz- und Bindegewebes. Den Zellen werden jeweils zwei Silikonröhrchen als "Gerüst" zur Verankerung angeboten. Sie wachsen und überspannen dabei die Lücke zwischen den Röhren mit einem Geflecht, das einem von der Seite gesehenen Kissen ähnelt. Die freien, nach innen gekrümmten Ränder sind dicht mit Zellen besiedelt, in der Mitte bildet sich ein eher lockerer Zellverband. Bei einem anderen Versuchsaufbau entstehen kompakte Zellringe um aufrechtstehende Zylinder.

Elektrische Kontakte

Unter solchen Bedingungen geschieht in der Kulturschale innerhalb kurzer Zeit Erstaunliches. Die Zellen bilden Kontakte aus, die elektrische Impulse weiterleiten. Schon nach ein bis zwei Tagen beginnen Einzelzellen spontan mit der Kontraktion. Ein gemeinschaftlicher Rhythmus stellt sich nach drei bis fünf Tagen ein. 30 bis 50 Prozent der Zellen formen eindeutig Fasern einer quergestreiften Muskulatur und erweisen sich dadurch als ausgereifte, voll differenzierte Herzmuskelzellen. Das spezifische Expressionsverhalten dieses Zelltyps, die Auswahl unter den im Gencode gespeicherten Bauanleitungen für Eiweißstoffe, zeigen sogar bis zu 80 Prozent. Wachstumshemmer, die andere Kulturen möglichst frei von undifferenzierten Zellen halten sollen, werden dazu nicht gebraucht. Stattdessen können Serum und Wachstumsfaktoren zugefügt werden, wie sie im Organismus zur Umwelt der Zellen gehören.

Engineered Heart Tissues wurden zunächst aus Herzzellen von Hühnerembryonen gezüchtet. Vor kurzem sind weitere Erfolge mit Zellmaterial aus neugeborenen Ratten erzielt worden. Die künstlichen Gewebe unterscheiden sich durch Charakteristika, die für intakte Herzen von Ratten und Hühnern in lebenden Tieren ebenfalls gelten, und bestätigen dadurch die hohe Ausdifferenzierung des Zelltyps. Ratten-Herzmodelle schlagen schneller und weniger regelmäßig als die von Hühnern, aber auch kräftiger: Ihre Kontraktion läßt sich ohne Vergrößerung beobachten.

"Schrittmacher" für Zellkulturen

Mehrere Wochen lang bleiben die künstlichen Herzgewebe aus eigener Kraft aktiv. Sie können aber auch elektrisch stimuliert, also an einen "Schrittmacher" angeschlossen und dann getestet werden. Reproduzierbare Messungen von Kraft, Frequenz, Bewegungen und Anspannung ohne Ausdehnung der Muskelfasern sind an diesen Modellen möglich.

Gewebe aus schlagenden Herzzellen können aber auch durch eine Streckvorrichtung gedehnt werden – so wird ein Herz simuliert, das zunehmender Belastung ausgesetzt ist. Erst kürzlich erwies sich dabei, daß motorische Dehnung das künstliche Gewebe zu Wachstum, besserer Vernetzung und drei- bis fünffach verstärkter Kraftentfaltung anregt. Auf molekularer Ebene bietet sich das Bild einer Hypertrophie, einer "Herzerweiterung". Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, daß zwischen einer funktionellen Anpassung des Herzens an höhere Last und krankhaften Prozessen schärfer unterschieden werden sollte.

Mittels Adenoviren lassen sich einzelne Gene einfach und effizient in die dreidimensionalen Zellkulturen einbauen und in ihrer Funktion untersuchen. Ebenso ist es möglich, in diesem Modell den Einfluß verschiedener chemischer Wirkstoffe auf einen komplexen, funktionsfähigen Zellverband zu überprüfen. So können die "In-vitro-Herzen" an die Stelle von Versuchstieren treten.

Außerdem wird getestet, ob künstliche Zellverbände als Ersatz für abgestorbenes Herzgewebe geeignet sind. Da sich das Herz nicht regenerieren kann, geht körpereigenes Gewebe etwa bei einem Infarkt bisher unwiderruflich verloren. Auch wenn der Weg bis zum Kunstherz noch weit sein mag – die ersten Schritte sind getan.

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