Beton: Revolution im Inneren des Betons

Die leichteste Brücke der Welt, wie ihre Bauherren sie gerne nennen, hat eine Spannweite von acht Metern und wiegt 3200 Kilogramm. Natürlich stimmt der Superlativ nicht; doch für eine Betonkonstruktion ist die 2017 in Winterthur errichtete Bachquerung außerordentlich zierlich geraten. »Mit zirka 190 Kilogramm auf einem Quadratmeter nutzbarer Fläche ist die Konstruktion extrem leicht«, sagt Josef Kurath von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Eine vergleichbare konventionelle Betonbrücke wäre etwa viermal so schwer. Den Unterschied macht der Werkstoff: Carbonbeton. Dieser mit Kohlefasern verstärkte Beton soll die seit über einem Jahrhundert andauernde Ära des Stahlbetons beenden.
Heutzutage nämlich bestehen nahezu alle größeren Bauwerke aus dieser Kombination zweier Baustoffe, die sich perfekt ergänzen. Beton kann immense Drücke vertragen, ist bei Zugbelastungen aber spröde. Stahl dagegen, eingearbeitet in den Beton, widersteht enormen Zugkräften. Zusammen bilden sie ein ausgesprochen stabiles Material, das hunderte Meter hohe Hochhäuser, filigrane Brücken und andere zuvor undenkbare Konstruktionen möglich macht. Doch der Stahl ist auch der Schwachpunkt des Materials. Wasser und Salz lassen ihn korrodieren.
In Deutschland ist das inzwischen zu einem massiven Problem geworden. Rund 4000 deutsche Brücken sind marode und müssen saniert werden. Experten sprechen von statischen Defiziten im Hinblick auf Querkraft- und Biegetragfähigkeit. Das klingt sehr abstrakt, aber konkret heißt es schlicht: Irgendwann stürzen sie ein. Wie die Carolabrücke in Dresden. Doch auch wenn man sie vorher saniert, geht der wirtschaftliche Schaden in die Milliarden.
Themenwoche: Werkstoffe und Materialforschung
Metalle, Textilien, Kunststoffe, Keramik – fast unsere gesamte Umwelt besteht aus verarbeiteten Materialien. Und das seit Tausenden von Jahren. Die Werkstoffe und ihre Eigenschaften prägen unseren Alltag und unsere Kultur. Doch die nächste Revolution steht schon bevor: nachhaltige Materialien ohne Müll und Treibhausgase. Und dabei sollen sie immer noch mehr leisten. Kann das gelingen?
- Interview: »Materialien sind fundamentaler als Sprache«
- Birkenpech: Das Rätsel um den ältesten Kunststoff der Welt
- Nachhaltige Werkstoffe: Hightech auf dem Holzweg
- Kunststoffe: Die radikale Lösung für die Plastikkrise
- Carbonbeton: Revolution im Inneren des Betons
- Aktive Materialien: Werkstoffe an der Grenze zum Leben
- Materialforschung: Künstliche Intelligenz für smarte Werkstoffe
Carbonbeton könnte diese Zahl womöglich reduzieren – und das auch langfristig. Denn die Brücke in der Schweiz ist kein exotisches Einzelstück. Im Kanton Zürich gibt es bald mehrere Bauwerke aus dem mit Kohlefaser armierten Beton, erklärt Kurath. »In Bülach steht bald eine Brücke mit doppelter Spannweite: 16 Meter. Auch in Dübendorf bauen wir dieses Jahr eine Brücke mit 18 Metern Spannweite.« Diese sei dann auf den Quadratmeter Fläche gerechnet noch leichter als die Brücke in Bülach. »Ich bin überzeugt, dass es noch keine leichtere Betonbrücke gibt«, sagt Kurath.
Kohlefaser statt Stahl
Das Material funktioniert ganz ähnlich wie klassischer Stahlbeton, nur dass die in den Beton eingelagerten Armierungsstäbe, die Zugkräfte aufnehmen, aus korrosionsresistenten Kohlefasern statt aus Stahl bestehen. Deswegen sind daraus hergestellte Bauteile nicht nur leichter, sondern halten weitaus länger. »Der große Unterschied besteht in der Lebensdauer der Bewehrung. Und die ist bei Carbon um ein Vielfaches höher als bei Stahl. Dauerhaftigkeit ist das entscheidende Kriterium für Carbon«, sagt Manfred Curbach, Bauingenieur und Hochschullehrer an der Technischen Universität Dresden.
Das hat dramatische Konsequenzen. Ein beträchtlicher Teil des Betons in Stalhlbetonteilen ist nämlich gar nicht nötig für die Tragkraft – er bildet einen dicken Mantel, der die Stahlarmierung vor der Witterung schützt. »Mit Carbonbeton kann man mindestens 50 Prozent des Betons einsparen«, bestätigt Curbach deswegen. Das ist eine gute Nachricht für Deutschlands marode Brücken, denn das macht die Reparatur weniger aufwändig – die Brücke in Winterthur zeigt das. Sie nämlich war auch ein Sanierungsfall. Die neue Technik reduzierte die Last auf die bestehenden Auflager um rund 30 Prozent, sodass die Reparatur schneller und billiger war als mit konventionellem Stahlbeton.
Schon jetzt kommen solche Verfahren auch in Deutschland zum Einsatz. Die Firma Carbocon aus Dresden, eins der Unternehmen, die Carbonbeton bereits einsetzen, sanierte beispielsweise drei um die 1970er Jahre erbaute Autobahnbrücken in Frankfurt am Main mit dem neuen Material. Dabei festigte sie das Bauwerk mit einer nur wenige Zentimeter dicken Verstärkung, die schichtweise aus Beton und flexiblen Kohlefasergittern aufgebaut wird. Auch hier nimmt der Beton die auftretenden Druckkräfte auf, während die textile Bewehrung die Zugkräfte aufnimmt. Vor allem ist die Schicht nur wenige Zentimeter dick.
Eine neue Ära für Deutschlands Brücken?
»Wir stehen am Anfang einer neuen Ära in der Brückensanierung«, sagt Alexander Schumann, Geschäftsführer von Carbocon. Im oberfränkischen Naila reparierte die Firma außerdem eine historische Bogenbrücke. Im Vergleich mit anderen Techniken sei das Verfahren die kostengünstigste Lösung gewesen, berichtet das Unternehmen auf seiner Webseite. »Des Weiteren konnte das äußere Erscheinungsbild der historischen Bogenbrücke erhalten bleiben.«
Bei anderen Brücken verstärkt man wiederum die sogenannten Kragarme, die die Fahrbahn tragen, mit Carbon-Lamellen. Dazu fräsen Spezialisten Schlitze in die Träger und setzen dort Streifen aus kohlefaserverstärktem Kunststoff (CFK) dort ein. Die verklebt man dann fest mit einem Epoxidharz-Mörtel. Die Lamellen nehmen ebenfalls Zugkräfte im Beton auf; sie sind leichter als Stahl, korrodieren nicht und man kann sie flexibel anpassen. Außerdem bleiben die Brücken während der Bauarbeiten befahrbar.
»Wir stehen am Anfang einer neuen Ära in der Brückensanierung«Alexander Schumann, Carbocon
Solche innovativen Materialien in der Baubranche zu etablieren, ist ein langwieriger Prozess. Bisher fehlen übergeordnete Normen, die allgemein regeln, wie kohlefaserverstärkter Beton eingesetzt werden darf und muss. Derzeit müssen Bauherren bei solchen Projekten mit entsprechenden Einzelgenehmigungen arbeiten oder sogenannte vorhabenbezogene Bauartgenehmigungen beantragen.
Eine erste Richtlinie gibt es bereits, veröffentlicht vom Deutschen Ausschuss für Stahlbeton für Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung. Der Ausschuss ist eine jener Organisationen, von denen man praktisch nie hört, die aber Technik und Alltag im Hintergrund entscheidend prägen. Inzwischen werden auch Brückenneubauten geplant und errichtet. So arbeiten im baden-württembergischen Albstadt Spezialisten der Firma Solidian mit weiteren Partnern daran, die Brücken der Zukunft wirtschaftlicher, langlebiger und instandhaltungsärmer zu gestalten – und setzen dabei auf Carbonbeton. Brücken aus mit Kohlefasern armiertem Beton wurden bereits in den USA, Kanada, Deutschland und in Japan gebaut.
Das Material hat durchaus auch Nachteile. Es ist teuer – und die Klimabilanz ist alles andere als grün. Dennoch kann der Einsatz vorteilhaft sein, wie Manfred Curbach erklärt: »Auf die Leistung bezogen ist Carbon schon heute billiger als Stahl; und wenn man statt 400 Kilogramm Stahl nur 14 Kilogramm Carbon verwendet, ist auch die Umweltbilanz besser.« Carbonbeton sei nicht nur halb so schwer wie gewöhnlicher Stahlbeton, sondern auch leistungsfähiger und öffne zudem Gestaltungsräume. »Weniger bauen ist ja keine Option, also müssen wir anders bauen. Vor allem langlebiger.« Insbesondere aber helfe er, Massen an klimaschädlichem Kohlendioxid einzusparen.
Ein Balkon mit Carbon
Der klassische Beton wird zunehmend zum Problem: Jedes Jahr ergießen sich zwölf Milliarden Tonnen Beton über unseren Planeten. Einerseits verschlingt das Ressourcen wie Sand, Kies und Wasser. Andererseits entstehen beim Herstellen des Bindemittels Zement Milliarden Tonnen Treibhausgase – jede Tonne verursacht rund 600 Kilogramm CO2. Etwa acht Prozent der globalen CO2-Emissionen gehen auf das Konto der Zementindustrie. Diese Zahl könnte Carbonbeton deutlich verringern. Anders als bei Stahlbewehrungen muss keine dicke Betonhülle die eingegossenen Kohlefaserstreben vor der Witterung schützen. »Der ökologische Effekt der CO2-Einsparung kommt durch die Einsparung von Beton«, bestätigt Curbach.
Brücken sind darum erst der Anfang. Der Schweizer Ingenieurwissenschaftler Kurath konzentriert sich inzwischen auf Balkonplatten – also jene wuchtigen Bauteile aus Stahlbeton, auf denen Sie im Frühjahr Ihre Balkonmöbel aufstellen und die warmen Tage genießen. Mit einer Größe von etwa zwei mal fünf Metern und einer Dicke von 30 Zentimetern sind diese Platten für gewöhnlich rund 7,5 Tonnen schwer – wie ein kleiner Laster. Entsprechend solide muss das Gerüst sein, das den Balkon trägt.
Kuraths Unternehmen CPC AG fertigt solche Balkonpatten nun aus Carbonbeton. So bringen sie weniger als zwei Tonnen auf die Waage. Das geringe Gewicht reduziert nicht nur die Anforderungen an die Tragstruktur, sondern auch die Logistik. Ist ja klar: Leichtere Bauteile sind leichter zu bewegen. Obendrein seien die Bauwerke bis zu 80 Prozent emissionsärmer, verspricht Kurath.
Mehr als 200 solcher Balkone hat Kurath mit seiner Firma bereits gefertigt. Der Bauingenieur ist der geistige Vater der CPC-Platten. Das Kürzel steht für »Carbon prestressed concrete«-Technologie. »Prestressed« ist englisch für vorgespannt – und Spannung ist der Clou. »Die hauchdünnen Carbonfäden an sich sind schlaff. Erst wenn sie gespannt werden, entwickeln sie ihre Fähigkeit, enorme Zugkräfte aufzunehmen; viel mehr, als es mit einer Stahlbewehrung je möglich wäre«, sagt Kurath, der seit fast zwei Jahrzehnten an Carbonbeton forscht.
Neues Material, neue Bauweise
Die Carbonbetonplatten sind Standardprodukte, die in einer Fabrik vorgefertigt werden, ähnlich wie Spanholzplatten. Große computergesteuerte Maschinen bearbeiten sie und bringen sie in Form. »Wir arbeiten wie die Zimmerleute – alles wird vorgefertigt. Auf der Baustelle wird nur noch montiert«, sagt Kurath. So ist man wetterunabhängig und kann präziser fertigen.
Im Mai 2025 hat Kurath mit seinem Team einen 120 Quadratmeter großen Pavillon aus CPC-Platten errichtet. Er steht in der Nähe des Innovationslabors Grüze in Winterthur. Das Bauwerk wurde aus Fertigteilen vor Ort zusammengesteckt – ähnlich wie Lego. Anschließend wurden die Fugen mit einem hydraulischen Mörtel verfüllt.
»Wir konkurrieren hier mit einer Baumethode, die seit 100 Jahren etabliert ist«Josef Kurath, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Diese Steckbauweise ermöglicht die Kreislaufwirtschaft: Dank des flexiblen Baukastensystems kann der Pavillon später in seine Einzelteile zerlegt und recycelt werden, aus den Platten kann dann anderswo ein neues Bauwerk errichtet werden. Im Vergleich zur konventionellen Bauweise mit Stahlbeton betrage der Betonbedarf nur rund 25 Prozent. Die Bewehrungsmasse sei gar auf drei Prozent geschrumpft.
Im Lauf des Jahres 2025 will Kurath ein erstes Mehrfamilienhaus errichten. Das Bauen mit CPC-Platten sei zwar teurer, die Qualität aber viel höher, sagt Kurath. Auf dem Bau jedoch zähle der Preis, nicht der Umweltschutz. Deshalb ist er vorsichtig optimistisch: »Wir konkurrieren hier mit einer Baumethode, die seit 100 Jahren etabliert ist.« Auch das Thema Zulassung und Brandschutz sei eine Herausforderung. Wobei inzwischen selbst die penible deutsche Zulassung erfolgt sei.
Ende 2020 ist der Baustoffproduzent Holcim mit der CPC AG eine Kooperation eingegangen und hat im niedersächsischen Essen bei Oldenburg ein Werk für das neue Baumaterial errichtet. »Uns erreichen täglich Anfragen – für unsere Branche ungewöhnlich aus aller Welt, von England bis nach Australien«, sagt Stefan Gramberg, Leiter Betonfertigteile Holcim Deutschland »Wir gehen daher davon aus, dass wir mittelfristig ausverkauft sein werden. Auch wenn die Nachfrage infolge der Baukrise in vielen Regionen langsamer anzieht als erwartet.«
Beton mit neuer Leichtigkeit
An der TU Dresden, etwa 700 Kilometer nordöstlich von Kurath in Winterthur, arbeitet Manfred Curbach ebenfalls daran, dem Hightech-Baustoff den Weg in den Massenmarkt zu ebnen. Mit Partnern hat er im September 2022 ein Gebäude eröffnet, dem man schon von Weitem ansieht, dass es nicht aus gewöhnlichen Baustoffen besteht: Das Dach des 220 Quadratmeter großen »CUBE« genannten Experimentalbaus – ein Wortspiel aus Carbon Concrete Composite – schwingt sich um 90 Grad und wird in der Fortsetzung zur Wand. Bei näherer Betrachtung wird klar, dass hier keine konventionellen Werkstoffe verbaut wurden: Die Wand ist nur sieben Zentimeter dick und besteht, nun ja, aus Carbonbeton.
Die geschwungene Wand-Decken-Einheit wurde allerdings nicht vorgefertigt, sondern vor Ort in Form gebracht. Im Inneren des CUBE sind jedoch ebenfalls zahlreiche Carbonbeton-Fertigteile verbaut, etwa Wände und Treppenstufen. Und vor dem Gebäude stehen Bänke aus CPC-Platten.
Mit dem außergewöhnlichen Bauwerk wollen Curbach und seine Kollegen von der Technischen Universität Dresden der Welt zeigen, was mit Carbonbeton möglich ist. Denn CUBE wurde nicht nur als ein Haus konzipiert, in dem Menschen arbeiten und interagieren, sondern soll zugleich eine Pilgerstätte einer zukunftsweisenden Bauweise werden. »Es liegt an uns, zu zeigen, dass man auch mit Beton leicht bauen kann. Es entsteht eine neue Architektursprache, die helfen kann, Beton zu einem begehrten, interessanten, schönen Baumaterial zu machen.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.