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Schule und Lernen: Hirnstimulation im Klassenzimmer

Mit Hilfe von elektrischer Hirnstimulation wollen Forscher die Lese- oder Rechenfähigkeiten von Kindern mit Lernschwierigkeiten pushen. Doch der Ansatz ist umstritten.
Schulunterricht

Jack* quälte sich in der Regelschule. Er leidet an Dyslexie und dem mathematischen Äquivalent der Störung, Dyskalkulie; Lesen und Rechnen bereiten ihm Schwierigkeiten. Im Unterricht benahm er sich oft daneben, spielte den Klassenclown. Umso erleichterter waren Jacks Eltern, als man dem Jungen einen Platz an der Fairley House School in London anbot, die sich darauf spezialisiert hat, Kindern mit Lernschwierigkeiten zu helfen. Fairley ist außerdem womöglich die erste Schule auf der Welt, die ihren Schülern bereits einmal die Möglichkeit geboten hat, sich einer elektrischen Hirnstimulation zu unterziehen.

Die Stimulation fand im Rahmen eines Experiments statt, bei dem zwölf acht- bis zehnjährige Kinder inklusive Jack eine Kappe mit Elektroden aufgesetzt bekamen, während sie ein Videospiel spielten. Der Neurowissenschaftler Roi Cohen Kadosh von der University of Oxford, der die Pilotstudie 2013 leitete, ist einer von gerade einmal einer Hand voll Wissenschaftlern auf der Welt, die untersuchen, ob sich kleine, spezifische Bereiche im Gehirn von Kinder unter sicheren Bedingungen anregen lassen, um so Lernschwierigkeiten zu überwinden. "Es wäre großartig, wenn wir verstehen würden, wie man Kinderhirne in effektiven Dosen stimulieren kann. Damit könnten wir Entwicklungsbedingungen bald einen Schritt voraus sein, bevor sie die Schüler überhaupt beim Lernen behindern", sagt der Psychologe Nick Davis von der Swansea University in Großbritannien.

Die Idee, Magnete oder elektrische Ströme zur Behandlung von psychischen Erkrankungen oder Lernstörungen einzusetzen – oder schlicht das Denkvermögen damit zu verbessern –, hat in den vergangenen zehn Jahren für jede Menge Aufregung gesorgt. Die Technik aktiviert neuronale Schaltkreise oder erleichtert es den Nervenzellen, zu feuern. Die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen, aber mindestens 10 000 erwachsene Menschen haben sich so schon ihr Hirn stimulieren lassen. Das Verfahren scheint sicher zu sein – zumindest auf kurze Sicht. Eine Variante der Technik, die als transkranielle Magnetstimulation (TMS) bezeichnet wird, ist von der US-amerikanischen Food and Drug Administration sogar als Therapie bei Migräne und Depressionen zugelassen.

Kinder könnten stärker von Hirnstimulation profitieren

Inzwischen steigt aber auch das Interesse an der Frage, ob Kinder von solchen Verfahren nicht noch viel mehr profitieren könnten. Viel versprechend erscheint in diesem Zusammenhang vor allem der kostengünstigere und besser transportable Cousin der TMS, die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS; transcranial direct-current stimulation).

Forscher sagen, dass die Stimulation bei Kindern tiefer vordringen kann, weil ihre Schädel dünner sind als die von Erwachsenen, und dass sie möglicherweise einen größeren Einfluss auf Hirne hat, die sich noch im Wachstum befinden. Die gleichen Faktoren, die die Hirnstimulation für Kinder besonders attraktiv machen, wecken aber auch Bedenken. "Das ist, wie wenn man ein Haus baut: Wenn man den Eindruck hat, dass etwas schiefläuft, dann ist es viel einfacher, die Dinge gleich am Anfang zu richten. Aber die Wahrscheinlichkeit ist auch größer, dass man etwas kaputt macht", sagt Cohen Kadosh. "Wir wissen nicht, wie elektrische Stimulation mit dem sich noch entwickelnden Gehirn interagiert."

"Das ist, wie wenn man ein Haus baut: Wenn man den Eindruck hat, dass etwas schiefläuft, dann ist es viel einfacher, die Dinge gleich am Anfang zu richten. Aber die Wahrscheinlichkeit ist auch größer, dass man etwas kaputt macht"Roi Cohen Kadosh

Cohen Kadosh macht sich außerdem Sorgen über den Missbrauch der Technik. Auch wenn Geräte, die zur medizinischen Behandlung gedacht sind, gewisse Sicherheitsstandards erfüllen müssen, gibt es bisher weder in Europa noch in den USA Gesetze, welche die Nutzung von tDCS bei Menschen reglementieren, die einfach nur hoffen, damit ihrem Denkvermögen auf die Sprünge helfen zu können. Aktuell verkaufen Firmen tDCS-Headsets sogar im Internet. Eltern könnten also dazu verführt werden, mit solchen Geräten selbst zu versuchen, die kognitiven Fähigkeiten ihrer Kinder zu pushen, außerhalb von kontrollierten Bedingungen im Labor. Nachdem Cohen Kadosh Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen hatte, entschloss er sich dennoch dazu, an Fairley House mit einer Idee für ein Experiment heranzutreten. Er musste sich außerdem auch um eine ethische Zulassung für seinen Versuch bemühen, die ihm erteilt wurde. "Wir waren sehr besorgt wegen der Hirnstimulation, denn als Schule wussten wir nichts darüber. Aber wir wurden bezüglich der ethischen Vertretbarkeit und der Sicherheit beruhigt", sagt Jenny Lim, die als Ergotherapeutin mit den Kindern an der Schule arbeitet.

Besser rechnen dank tRNS

Die Studie folgt einer Untersuchung, in der Cohen Kodosh bereits 2013 zeigte, dass eine Variante der tDCS namens transkranieller Rauschstromstimulation (tRNS; transcranial random-noise stimulation) die Rechenfähigkeit von Erwachsenen verbessern kann. In der Fairley-House-Studie ließ sein Team zwölf Kinder mit Mathelernschwierigkeiten neun 20-minütige Trainingseinheiten absolvieren. Bei der einen Hälfte der Probanden wurde mittels tRNS eine Region im Gehirn stimuliert, die für Planung und abstraktes Denken zuständig ist; die andere Hälfte der Teilnehmern trug zwar auch eine tRNS-Kappe, erhielt aber keine Stimulation. tRNS beeinflusst vermutlich die Hirnsignale während des Lernens. Im Versuch mussten die Kinder deshalb ihre Körper von links nach rechts bewegen, um so einen Ball auf einem Bildschirm an eine ganz bestimmte Stelle auf einem Zahlenstrahl zu bugsieren. Die Schwierigkeit stieg dabei langsam an.

Die Probanden, deren Hirne tatsächlich stimuliert worden waren, machten größere Lernfortschritte in dem Spiel als die Kontrollteilnehmer – sie erreichten im Schnitt Level 17, während die anderen nur bis Level 14 kamen – und zeigten außerdem Verbesserungen in Mathetests. Cohen Kadosh präsentierte die Ergebnisse seiner Untersuchung auf einem Meeting der British Association for Psychopharmacology im Juli 2015 und reichte sie außerdem zur Veröffentlichung ein. Nun will er weiterforschen.

Der Neurowissenschaftler Vincent Walsh vom University College London findet Studien zur Hirnstimulation bei Kindern allerdings verfrüht. Die Vorteile, die sie jungen Erwachsenen bringt, zeigen sich oft nicht mehr bei älteren Menschen, sagt er, zudem müssten viele der Ergebnisse zur elektrischen Stimulation erst einmal repliziert werden. "Die wissenschaftliche Basis ist einfach nicht solide genug, um derart schlechte Arbeit auch noch auf Kinder auszuweiten."

Im Gegensatz zu Walsh findet Davis solche Experimente gerechtfertigt, er macht sich aber Sorgen über den Trend, die Verfahren auch außerhalb von formalen Studien zu nutzen. Er schätzt, dass wenigstens 1000 Kinder weltweit bereits irgendeine Form von Hirnstimulation im Rahmen irgendwelcher klinischen Studien erhalten haben – und er rechnet damit, dass es in Zukunft noch mehr werden. Er betont, wie wichtig es sei, die Ergebnisse eines jeden solchen Versuchs zu veröffentlichen: "Ich möchte alle Wissenschaftler dazu ermahnen, ihre Ergebnisse von Hirnstimulationsversuchen mit Kindern oder Jugendlichen zu teilen, damit andere Forscher aus schiefgegangenen Experimenten lernen und ihr eigenes Vorgehen im Zweifelsfall anpassen können."

* Name von der Redaktion geändert

Dieser Artikel ist unter dem Titel "Brain stimulation in children spurs hope – and concern" in Nature 525, S. 436-437, 2015 erschienen.

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