FDA-Zulassung: Hilft Leucovorin bei Autismus?

Laut Martin Makary, dem Leiter der US-Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA), soll das Medikament Leucovorin »Hunderttausenden von Kindern« mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) helfen. Doch nur einen Tag nach seine Lobeshymne im Weißen Haus warnen Fachleute: Die wissenschaftliche Basis für seine Begeisterung sei alles andere als solide. Sie bezweifeln, dass die Wirksamkeit der Substanz – auch bekannt als Folinsäure, die aktive Form der Folsäure – ausreichend belegt ist. Zudem sei unklar, welche Dosis geeignet ist und wie sie eingenommen werden sollte. Darüber hinaus fehlten Sicherheitsdaten für Kinder.
Nach den aktuellen Plänen der FDA soll Leucovorin nur einem kleinen Teil autistischer Menschen zugänglich sein. Das sorgt für Verwirrung, sagen Ärztinnen und Ärzte. Sie sind besorgt über die Erwartungen, die Makary und andere Regierungsvertreter unter Präsident Donald Trump geweckt haben. »Ich habe von vielen Familien gehört. Sie fragen ›Was ist das? Was sollen wir tun?‹«, sagt die Psychologin Catherine Lord von der University of California in Los Angeles. »Ich möchte keine falschen Hoffnungen wecken, dass das hier ein Wundermittel ist«, sagt Rebecca Schmidt, Molekularepidemiologin an der University of California in Davis. »Es ist nicht für alle geeignet.«
Am 22. September 2025 kündigte Martin Makary die bevorstehende Zulassung von Leucovorin an. Das Medikament werde »die Tür zu einem von der FDA anerkannten Behandlungsweg für Autismus öffnen«. Tatsächlich können Menschen mit niedrigen Folatwerten in der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit autismusähnliche Symptome zeigen, etwa Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation. Diese sogenannte zerebrale Folatmangelstörung entstehe möglicherweise durch fehlgeleitete Antikörper, die körpereigene Proteine angreifen – in diesem Fall solche, die den Folattransport ins Gehirn ermöglichen.
In der Vergangenheit gab es bereits klinische Studien mit Leucovorin zur Behandlung von Autismus, doch sie waren klein. An einer kürzlich durchgeführten Untersuchung nahmen rund 80 Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren teil. Etwa die Hälfte von ihnen erhielt Leucovorin, die andere Hälfte ein Placebo. Es handelte sich dabei um eine Doppelblindstudie: Weder die Kinder noch die Ärztinnen und Ärzte wussten, wer was bekam. Kinder, die das Präparat erhielten, berichteten von größeren Verbesserungen bei sozialen Interaktionen und Sprachfähigkeiten als diejenigen der Placebogruppe. Doch nach Veröffentlichung der Studie äußerten einige Fachleute Bedenken: Die Bewertung der Fortschritte sei subjektiv gewesen, und die Probandenzahl zu klein, um subtile Unterschiede in der Reaktion zu erkennen.
Forderung nach größeren Studien mit Leucovorin
Die Anzahl der Untersuchten allein sei allerdings nicht entscheidend, sagt Dan Rossignol. Der Hausarzt in Aliso Viejo, Kalifornien, hat die Daten zu Leucovorin studiert und verschreibt das Mittel gelegentlich autistischen Kindern. Die Wirkung sei in den Studien so groß gewesen, dass sie selbst bei solchen kleinen Teilnehmerzahlen sichtbar wurde. Rossignol verweist insbesondere auf eine frühere klinische Studie mit nur 48 Kindern, bei der sich Patienten, die Leucovorin einnahmen, in standardisierten Sprachtests deutlich verbesserten. »Es wäre trotzdem gut, wenn weitere Studien mit mehr Kindern gemacht würden«, sagt er. »Dann könnten wir herausfinden, welche Kinder besser darauf ansprechen.«
Normalerweise enthalten Untersuchungen, die der FDA zur Zulassung eines Medikaments vorgelegt werden, Daten von hunderten Kindern, erläutert der Mediziner. Doch es sei schwer, Geld für größere Studien zu erhalten. Rossignol sagt, er habe zusammen mit einem Kollegen mit der Trump-Regierung gesprochen, um für Leucovorin zu werben. Am 22. September 2025 teilte die Regierung mit, die US-Gesundheitsbehörde NIH plane, die Auswirkungen der erwarteten FDA-Zulassung zu beobachten und mögliche weitere Vorteile von Leucovorin bei Autismus zu untersuchen. Wie diese Studien aussehen sollen, ist nicht bekannt.
»Über geeignete Dosierungen in der Schwangerschaft weiß man noch weniger«Rebecca Schmidt, Molekularepidemiologin
Leucovorin ist kein Wundermittel
Unabhängig von der Wirksamkeit wird Leucovorin kein Allheilmittel sein. Die geplante FDA-Zulassung – die noch nicht endgültig beschlossen ist – würde nur für Menschen mit niedrigen Folatwerten in der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit gelten. Das betrifft etwa 7 bis 30 Prozent der autistischen Menschen, je nachdem, wie der Folatspiegel gemessen wird, sagt Alycia Halladay, wissenschaftliche Leiterin der Autism Science Foundation in New York. »In Facebook-Gruppen sagen Familien: ›Wir können jetzt ein Rezept bekommen‹«, sagt sie. »Aber das wird nicht passieren.« Autismus ist komplex und entsteht vermutlich durch ein Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren. Vermutlich gibt es keine Therapie, die sich für alle eignet. »Wenn jemand behauptet, er habe ein Wundermittel gegen Autismus gefunden – seien Sie skeptisch«, sagt Halladay. »Es gibt nicht nur eine Ursache und eine einzige Behandlung.« Weil große Studien fehlen, hätten Ärztinnen und Ärzte kaum Anhaltspunkte, welche Dosis sie verschreiben oder wie lange Kinder Leucovorin einnehmen sollen. »Wir hoffen, dass es irgendwann Leitlinien geben wird«, sagt Halladay. Rossignol erklärt, dass in den meisten Studien zu Leucovorin dieselbe Dosis verwendet wurde – das könne ein Ausgangspunkt für Ärztinnen und Ärzte sein.
Leucovorin wird seit Langem eingesetzt, um Nebenwirkungen von Chemotherapien und immunsuppressiven Behandlungen zu lindern. In diesem Zusammenhang gilt es als sicher. Doch für autistische Kinder fehlen Sicherheitsdaten, sagt Schmidt. »Ich kenne keine Hinweise auf eine tatsächliche Schädigung«, sagt sie. »Aber es gibt eben auch noch nicht viele Daten für diese Gruppe.« Schmidt ist vor allem besorgt, dass Schwangere beginnen könnten, Leucovorin einzunehmen. »Über geeignete Dosierungen in der Schwangerschaft weiß man noch weniger«, sagt sie.
Falsche Hoffnungen
Manche Familien mit autistischen Kindern fragen schon seit Jahren nach Leucovorin. Sie suchen gezielt nach Ärztinnen und Ärzten, die es ihnen verschreiben – trotz fehlender FDA-Zulassung als Autismusmedikament. Rossignol sagt, Menschen aus 80 Ländern hätten seine Klinik aufgesucht. Auch seine beiden eigenen autistischen Kinder hätten von der Behandlung profitiert.
»Das Ganze ist eine Ablenkung, eine Verschwendung von Zeit, Ressourcen und Mühe«James Cusack, Geschäftsführer der britischen Autismus-Stiftung Autistica in London
Catherine Lord kennt Neurologinnen und Neurologen, die das Medikament trotz Bedenken verschreiben. So könnten sie zumindest die Sicherheit ihrer Patienten überwachen. Lord erinnert sich an frühere kleine Studien zu anderen Autismustherapien. Sie weckten erst große Hoffnungen – und enttäuschten später, als größere Studien zeigten, dass die Ergebnisse falsch positiv waren. »In der Autismusforschung erhält man sehr leicht falsch positive Ergebnisse«, sagt James Cusack, Geschäftsführer der britischen Autismusstiftung Autistica in London, der selbst autistisch ist. »Die Schwelle, um die Wirksamkeit zu belegen, ist bei Autismus extrem hoch.«
Zudem würden sich nicht alle Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung überhaupt eine Behandlung wünschen, sagt Cusack. Andere hofften stark auf eine Therapie. »Ihre Stimme ist wichtig in dieser Diskussion«. Aber viele Menschen empfinden die von der Trump-Regierung verbreitete Darstellung und die Angstmacherei rund um Autismus als stigmatisierend und negativ. »Das Ganze ist eine Ablenkung, eine Verschwendung von Zeit, Ressourcen und Mühe.« Cusack betont, das dringendste Ziel sei, die Ungleichheiten zu erkennen, die autistische Menschen erleben – und Wege zu finden, ihnen Zugang zu Gesundheitsversorgung, psychologischer Hilfe und Unterstützung bei der Arbeit zu ermöglichen.
Menschen mit Autismus oder autistische Menschen – wie heißt es richtig?
Die beiden großen internationalen Diagnosemanuale (DSM und ICD) zählen alle autistischen Störungen zu den Autismus-Spektrum-Störungen. Der Kürze wegen ist aber oft nur von Autismus die Rede. Doch auch der offizielle Begriff ist umstritten, weil er Autismus als Störung definiert. Viele Betroffene argumentieren, Autismus sei eine Variante in der Funktionsweise des Gehirns, und bezeichnen sich als neurodivers. Manche bevorzugen dagegen Autist oder Autistin, andere wiederum Mensch mit Autismus-Spektrum-Störung. Die Vorlieben können sich auch von Land zu Land unterscheiden. Der Selbsthilfeverband Autismus Deutschland e.V. verwendet viele verschiedene Begriffe, zum Beispiel Autisten, Autist:innen, Menschen mit Autismus und autistische Kinder. Dem schließen wir uns an: Spektrum der Wissenschaft wechselt mehrere Begriffe ab, wie auch beim Gendern. So schreiben wir der Kürze halber in der Überschrift häufig nur Autisten, in längeren Texten auch Autistinnen und Autisten oder Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung.
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