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Adonis-Komplex: Hinter Muskelsucht steckt oft ein verletzliches Ego

Muskelsucht geht mit Narzissmus Hand in Hand. Doch mit Arroganz und Größenfantasien hat die Beschäftigung mit dem eigenen Körper nichts zu tun: Die Betroffenen neigen eher zu einem schwachen Selbstwertgefühl.
Ein muskulöser Mann betrachtet sich in einer Trainingspause im Spiegel
Dieser Anblick lässt gewiss nicht an ein schwaches Selbstwertgefühl denken. Aber es handelt sich ja auch nur um ein Symbolbild.

Muskelsucht kann in Narzissmus gründen – und damit indirekt in der Vater-Sohn-Beziehung. Das berichtet eine Gruppe von Sportwissenschaftlern und Psychologen in der Fachzeitschrift »Personality and Individual Differences«. Wie die (durchweg männlichen) Forscher aus den Angaben ihrer rund 500 männlichen Probanden schließen, könnte die Muskelsucht ein Weg sein, mit Unzulänglichkeitsgefühlen umzugehen.

Muskelsucht ist fachsprachlich auch als Muskeldysmorphie und umgangssprachlich als Adonis-Komplex bekannt. Im Diagnosehandbuch DSM-5 zählt sie zur »körperdysmorphen Störung«, einer übermäßigen Konzentration auf körperliche Makel, die jedoch eingebildet oder geringfügig sind. Im Fall der Muskelsucht halten sich die Betroffenen, darunter überwiegend Männer, für zu schmächtig. Sie beschäftigen sich deshalb ständig damit, Muskeln aufzubauen: Sie trainieren beispielsweise so viel, dass andere Lebensbereiche darunter leiden, oder sie nehmen Muskelaufbaupräparate ein, selbst wenn ihnen davon gesundheitliche Schäden drohen.

Nun wollten Matt Boulter von der University of the West of Scotland und seine Kollegen mehr über die Psychologie der Muskelsucht wissen. Dafür warben sie rund 500 Männer an, im Mittel Ende 20, die seit mindestens einem Jahr regelmäßig Kraft und Ausdauer trainierten. Die Probanden gaben Auskunft über etwaige Symptome von Muskelsucht, ihre Beziehung zum Vater sowie Merkmale von zwei Formen von Narzissmus: den verletzlichen, »vulnerablen« Narzissmus, gekennzeichnet durch ein schwaches Selbstwertgefühl sowie überempfindliche Reaktionen auf Kritik und Ablehnung. Und den »grandiosen« Narzissmus, für den Größenfantasien, Arroganz, Dominanzstreben und Anspruchsdenken typisch sind. Die beiden Varianten schließen einander nicht aus; sie können allein oder gemeinsam auftreten.

Die Forscher fanden einen starken positiven Zusammenhang von Muskelsucht mit vulnerablem Narzissmus, aber keine mit grandiosem Narzissmus. Bei der Muskelsucht gehe es demnach nicht darum, Größenfantasien zu verwirklichen, schreiben die Autoren. Vielmehr könnte die körperliche Stärke wohl dazu dienen, das schwache Selbstwertgefühl zu stabilisieren.

Darüber hinaus hing die Muskelsucht indirekt – vermittelt über den vulnerablen Narzissmus – auch mit einer schlechten Beziehung zum Vater zusammen. Frühere Studien hatten bereits gezeigt, dass beide Arten von Narzissmus mit unterschiedlichen elterlichen Erziehungsstilen verbunden sind: Die grandiose Variante entwickelt sich eher, wenn Eltern ihrem Kind das Gefühl vermitteln, etwas Besonderes zu sein und eine Sonderbehandlung zu verdienen. Die vulnerable Variante hat eher mit zu wenig elterlicher Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu tun sowie mit häufiger Kritik und emotionaler Distanz. Dagegen sorgt elterliche Wärme für ein gesundes Selbstwertgefühl.

Die Forscher schließen daraus, dass eine schlechte Vaterbeziehung zu Muskelsucht beitragen kann und im Rahmen einer Psychotherapie Thema sein sollte. Mehr als eine Interpretation ist das aber nicht. Um auf Ursache und Wirkung schließen zu können, bräuchte es Langzeitstudien, wie die Autoren selbst einräumen. In Folgestudien wäre außerdem der Einfluss der Mutter und anderer enger Bezugspersonen zu untersuchen.

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