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News: Hochqualifizierte Arbeitslose und fehlende Fachkräfte

Auf der einen Seite Arbeitslose, die trotz hoher Qualifikation keine Stelle finden, auf der anderen Betriebe, die händeringend nach qualifiziertem Fachpersonal suchen: Ohne einschneidende strukturelle Veränderungen ist unser Bildungssystem nicht mehr in der Lage, diese Kluft zu überbrücken. Während die Konturen traditioneller Berufsbilder verschwimmen, hat ein Drittel der Erwerbstätigen den Beruf mindestens einmal gewechselt. Lehrstellen fehlen - allein zwischen 1991 und 1994 nahm das Angebot an Ausbildungsplätzen im alten Bundesgebiet um 25 Prozent ab. Was liegt der gegenläufigen Entwicklung von Arbeitswelt und Bildungssystem zugrunde? Die Akademie für Technikfolgenabschätzung hat in einem umfangreichen Projekt 35 Experten von 25 Institutionen zusammengeführt, um die Frage zu beantworten und neue Wege zu suchen.
Traditionelle Aufstiegswege etwa für Facharbeiter werden durch Quereinsteiger mit höherem Bildungsabschluß blockiert. Die Weiterbildung gewinnt gegenüber der Erstausbildung immer größere Bedeutung: 44 Prozent der Berufswechsler konnten mit den erlernten Kenntnissen wenig oder nichts anfangen. Auch wenn der Wandel im einzelnen nicht vorherzusagen ist: Sicher ist, daß in der künftigen Berufs- und Arbeitswelt die räumliche und geistige Mobilität, kognitive Flexibilität und allgemeine Lernkompetenz ebenso wichtig sein werden wie Fachkenntnisse. Dies bestätigten Studien zahlreicher Wissenschaftler im Rahmen einer Untersuchung der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg. Sie weisen darauf hin, daß das deutsche Bildungssystem eine grundsätzliche Neuorientierung nicht aus sich selbst leisten kann. Vielmehr müßten daran auch Akteure und gesellschaftliche Gruppen mitwirken, die außerhalb des Bildungssystems stehen.

Im Rahmen des Akademieprojektes "Humanressourcen" wurden insgesamt 30 wissenschaftliche Studien erstellt. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß die berufliche Aus- und Weiterbildung reformiert und an die durch Globalisierung veränderte Arbeitswelt angepaßt werden muß. Ziele sind insbesondere

  • die Herstellung einer Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung,
  • eine engere Verzahnung von Aus- und Weiterbildung,
  • der Einsatz verstärkt marktorientierter Konzepte im Bildungswesen.

Unser Bildungssystem ist zunehmend geprägt von Diskrepanzen zwischen den Qualifikationen, die es vermittelt und denen, die vom Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Um Qualifikationsangebot und Qualifikationsnachfrage wieder mehr zur Deckung zu bringen, schlagen viele Wissenschaftler als neues Leitbild ein dezentrales, eigenverantwortliches und marktgesteuertes Bildungssystem mit einem breiten Spektrum von Abschlüssen vor. Es soll neue Anforderungen des Beschäftigungssystems rasch erkennen und neue Bildungsinhalte und Qualifikationsebenen flexibel entwickeln.

Dazu sind geeignete Rahmenbedingungen erforderlich. Insbesondere müßten die Handlungsspielräume der einzelnen Bildungseinrichtungen erweitert werden. Der Staat würde weiterhin die Aufsicht über Schulen, Hochschulen und Bildungsinhalte wahrnehmen. Auch die Qualität der Abschlüsse und die Anerkennung von Studiengängen wären weiter staatliche Aufgaben. Schulen und Hochschulen sollten jedoch eigene Ideen und Pläne über Bildungsziele, -inhalte und -methoden gestalten und Lehrer, Unterrichtsmaterialien und Schüler selbst auswählen dürfen. Die Lehrpläne müßten noch weit mehr teambezogene Lehr- und Lernformen enthalten.

Ein marktgesteuertes Bildungssystem könnte etwa die wirtschaftlich unselbständigen Schulen und Hochschulen privatrechtlich oder als selbständige Körperschaften oder Stiftungen des öffentlichen Rechts organisieren. Damit böte sich ihnen die Chance von Eigenkapitalbeschaffung oder Fremdfinanzierung. Die Bildungs- und Wissenschaftsproduktion würde in einen gesellschaftlichen, quasi-marktlichen Raum verlagert. Eltern, Schüler und Studierende würden als "Kunden" die Leistungsbewertung der Bildungsinstitutionen mitbestimmen, die dann untereinander und international konkurrenzfähig wären.

Kernstück der beruflichen Bildung in Deutschland ist das duale System. Es leidet allerdings unter einem grundsätzlichen Strukturproblem: Während heute 47 Prozent der Auszubildenden in Fertigungsberufen ausgebildet werden, sind nur noch knapp 30 Prozent der Erwerbstätigen in solchen Berufen tätig. Wer Elektriker, Bürokaufmann oder Kfz-Mechaniker werden will, durchläuft einen der etwa 370 anerkannten Ausbildungsberufe, die dual in Betrieb und Berufsschule angelegt sind. Allerdings mehren sich die Zweifel daran, ob das duale System künftig seine Funktionen für den Arbeitsmarkt noch erfüllen kann.

Drängendstes Problem ist die zu geringe Zahl von Ausbildungsplätzen für Schulabgänger. Außerdem wächst die Zahl der Fachkräfte, die von den Betrieben nach der Ausbildung nicht übernommen werden. Die Qualifikationsanforderungen des Beschäftigungssystems verändern sich laufend: Ein Drittel der Erwerbstätigen hat bereits mindestens einmal den Beruf gewechselt und kann mit den Kenntnissen aus der ersten Ausbildung wenig anfangen: Gefragt sind neben fachspezifischen Kernkompetenzen deshalb fach- und berufsübergreifende Qualifikationen und soziale Kompetenzen. Die Studie enthält unter anderem den Vorschlag, rasch zusätzliche Ausbildungsplätze im "tertiären Bereich" (Berufsakademien, Fachhochschulen und Universitäten) anzubieten.

Staatliche Maßnahmen im Bildungssystem sollten sich verstärkt an der Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung orientieren. Dazu zählen zum Beispiel neue Berufs-, Aufstiegs- und Ausbildungschancen für Berufsbildungsabsolventen des dualen Systems, die Nivellierung der Einkommensstrukturen für Berufseinsteiger und eine entsprechende Flexibilisierung der Strukturen im öffentlichen Dienst – etwa die Änderung von Laufbahnvorschriften und von besoldungs- und tarifrechtlichen Einstufungen der Bildungsabschlüsse.

Unter anderem regen manche Gutachten an, das traditionelle duale System auf den Kleinbetrieb, den handwerklichen und hauswirtschaftlichen Bereich zu begrenzen. Folgt man diesem Vorschlägen, so könnte für Abiturienten ein neues duales System Sonderbildungswege in Berufsakademien, Fachhochschulen und Universitäten eingerichtet werden. An den Universitäten würde dann einerseits ein berufsqualifizierendes Erststudium etabliert, das eine betriebliche, praxisorientierte Komponente enthält. Andererseits könnten neue, theoriebetonte Aufbaustudiengänge und forschungsintensive Vertiefungsstudien angeboten werden.

Die Fachhochschulen dagegen könnten das Fächerspektrum um weitere berufsbezogene Gebiete mit zwei obligatorischen Praxissemestern erweitern. Darüber hinaus müßte die Wirtschaft die Zahl und das Fächerspektrum attraktiver Ausbildungsgänge für Abiturienten vermehren – zumal so der Lehrstellenmarkt für Haupt- und Realschüler wieder stärker geöffnet würde. Spezielle Personalentwicklungspläne sollten gewährleisten, daß die Absolventen sich sowohl an tertiären Bildungseinrichtungen wie auch in den Betrieben weiterbilden können. Solche Ausbildungsgänge für Abiturienten würden auch die Berufsschulen entlasten, die den klassischen Ausbildungen in Handwerk und Hauswirtschaft vorbehalten blieben.

Für Realschulabsolventen schließlich könnten spezielle Aus- und Weiterbildungsgänge neue Berufsperspektiven in Industrie, Handel, öffentlichem Dienst und freien Berufen erschließen. Einer 18monatigen beruflichen Grundbildung (Vollzeitschule) würde sich ein einjähriges "Arbeitsplatzlernen" anschließen. Geeignete Absolventen erhielten die Möglichkeit zur Aus- und Weiterbildung an Berufsakademien, Fachhochschulen und Universitäten.

Für Berufstätige mit und ohne Ausbildung, so die Studie, ist in allen Branchen weiterführende Bildung dringend geboten. Zur Diskussion dieser Problematik hat die Akademie 32 Fachleute aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik im Rahmen eines Workshops "Weiterbildung für ein zukunftsfähiges Baden-Württemberg" befragt. Sie bestätigten die Analyse der Experten in wesentlichen Teilen. Dringender Bedarf an prozeß- und entwicklungsorientierten Weiterbildungsstrategien besteht vor allem bei klein- und mittelständischen Handwerksbetrieben.

Durch den strukuturellen Wandel der Wirtschaft wachsen der dualen Ausbildung neue Aufgaben zu. Erforderlich ist eine grundsätzliche Diskussion der beruflichen Ausbildung und der künftigen Rolle des dualen Systems. Das gilt sowohl für das Zusammenwirken mit anderen Ausbildungsformen als auch mit der beruflichen Weiterbildung, das alle wichtigen Akteure einbezieht.

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