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Moderner Hochwasserschutz: Wie sich Flutkatastrophen verhindern lassen

Einst sollten Deiche und Dämme Deutschlands Flüsse bändigen. Doch Rhein & Co waren stärker. Heute setzt man beim Schutz vor Hochwasser auch auf naturnahe Ansätze – und Vorsorge.
Eine mobile Sperre aus Stahlwänden verhindert, dass Wasser in ein Wohngebiet fließt.
Eine Sperre aus Stahlwänden verhindert, dass ein Hochwasser an der Oder in ein Wohngebiet strömt.

Auf der großen Leinwand erscheinen Furcht einflößende Filmaufnahmen von unbändigen Wassermassen, die durch Wohngebiete strömen. Mit diesen Schreckensbildern will Boris Lehmann, Professor an der TU Darmstadt, in seiner Wasserbau-Vorlesung zum Hochwasserschutz den zukünftigen Ingenieurinnen und Ingenieuren einbläuen, nie das Gefährdungspotenzial des Wassers zu unterschätzen.

Den Horror der verheerenden Flutkatastrophe 2021 im rheinland-pfälzischen Ahrtal haben viele Menschen noch im Gedächtnis. Dort verloren 135 Menschen ihr Leben, über 750 wurden verletzt, 65 000 waren insgesamt betroffen. Über 8000 Gebäude an der Ahr waren ruiniert, darunter Schulen, Krankenhäuser und Pflegeheime. Zahllose Brücken, Kilometer an Straßen und Bahnstrecken sowie Leitungen waren zerstört. Dass sich so etwas wiederholt, sollen die Studentinnen und Studenten in Lehmanns Vorlesung zukünftig verhindern. Der Auftrag an den Wasserbau lautet: die Voraussetzung für sichere Infrastrukturanlagen in Gewässernähe zu schaffen und diese vor Überschwemmungen zu schützen.

Hochwasser ist erst einmal bloß ein Naturereignis, bei dem Wassermenge, Fließgeschwindigkeit und Wasserstand in den Gewässern deutlich über den statistischen Mittelwerten liegen. Sie können regelmäßig wiederkehren, etwa durch immer wieder auftretende Wetterlagen oder den alljährlich schmelzenden Schnee. Doch Flüsse können auch unregelmäßig durch außergewöhnliche Wetterlagen mit besonders starken Niederschlägen extrem ansteigen.

Das bloße Naturereignis wird zur Katastrophe, wenn es auf Menschen und ihre Einrichtungen trifft. Und dann kann es extrem schnell gefährlich werden, besonders wenn die Betroffenen die Gefahr unterschätzen. So ahnen viele nicht, dass sie sich in Lebensgefahr begeben, wenn sie bei nahendem Hochwasser noch schnell etwas aus dem Keller oder der Tiefgarage retten wollen: Wasser kann rasant über Wände und Hausöffnungen hereinbrechen und einen Stromschlag verursachen, wenn es in Kontakt mit offenen Elektroleitungen oder Steckdosen kommt.

Der erste Hochwasserschutz waren begradigte Flüsse

Besonders heimtückisch ist das schiere Gewicht des Wassers. Ein scheinbar geringer Wasserstand von wenigen Zentimetern Höhe vermag so viel Druck auf Türen und Fenster auszuüben, dass diese sich nicht mehr öffnen lassen und der Keller zur Todesfalle wird. Im Juni 2024 barg die Feuerwehr die Leichen zweier Menschen, nachdem sie einen Keller im nach Starkregen überschwemmten Schorndorf in Baden-Württemberg leer gepumpt hatte.

Man kann zwar bereits beim Bau eines Hauses vorsorgen, dass Keller nicht gleich volllaufen, etwa durch Rückschlagklappen an den Abwasserrohren oder baulich entsprechend gestaltete Kelleröffnungen. Doch das ist nur eine von vielen Gefahren für Leib und Leben durch Hochwasser. Entsprechend breit ist die Palette an Schutzmaßnahmen dagegen.

Die Sicht auf den Hochwasserschutz hat sich in den letzten 100 Jahren drastisch geändert. So wurden früher Flüsse nicht nur aus wirtschaftlichen oder geopolitischen Überlegungen heraus begradigt, sondern auch zum Bevölkerungsschutz vor Hochwasser: Das Wasser wurde von Städten und Gemeinden weggeleitet. Aber Begradigungen und Verengungen beschleunigen die Strömung. Damit flussabwärts gelegene Anlieger (»Unterlieger«) nicht die volle Wasserwucht abkriegen, muss es zwischendurch entlastende Überschwemmungsgebiete geben.

So hatte es Johann Gottfried Tulla (1770–1828) ursprünglich sogar geplant. Neben einer Landesgrenzen-Fixierung und besserer Schiffbarkeit wollte der Ingenieur mit der Begradigung des Rheins auch die in den Auen grassierenden Krankheiten wie Malaria (damals »Sumpffieber« genannt) bekämpfen und die Überflutungen der anliegenden Dörfer reduzieren. 1817 startete er das Riesenprojekt, das erst Jahrzehnte nach seinem Tod abgeschlossen wurde. Zu Beginn stieß Tullas Projekt bei den örtlichen Bauern und Fischern auf heftigen Widerstand, weil sie durch den Eingriff in die Naturlandschaft wirtschaftliche Folgen fürchteten. Als aber in den 1820er Jahren ein Hochwasser auftrat und die begradigten Gebiete – wie von Tulla geplant – von Überschwemmungen verschont blieben, stieg die Akzeptanz.

Hochwasser selbst ist unvermeidlich

Heute betrachten manche Naturschützer Tulla kritisch – den Rheinbändiger, der dem Fluss seine natürlichen Schlingen und Auen nahm. Denn inzwischen wissen wir: Die Begradigung ist die Hauptursache für die häufiger und stärker auftretenden Hochwasser in den nördlicher gelegenen Anliegergebieten. Dabei hatte Tulla durchaus wichtige Entlastungsauen geplant, die nur posthum leider nicht umgesetzt beziehungsweise erhalten wurden. Doch das kann man ihm kaum ankreiden.

»Die Aufgabe des Wasserbaus im ›historischen‹ Hochwasserschutz war es, das Wasser lokal rasch abfließen zu lassen«Boris Lehmann, TU Darmstadt

»Die Aufgabe des Wasserbaus im ›historischen‹ Hochwasserschutz vor 1990 war es, für ein festgelegtes Bemessungsereignis das Wasser lokal rasch abfließen zu lassen – ohne große Abstimmungen mit den Unterliegern«, fasst Boris Lehmann zusammen. »Im modernen Hochwasserschutz muss der Mensch vor allem begreifen, dass er immer Hochwasserereignissen unterschiedlichster Art und Stärke ausgesetzt sein wird und sich anpassen muss«, betont der Wasserbauingenieur.

Hinzu kommt, dass durch den Klimawandel mehr und höhere Hochwasser auftreten können. Denn mit steigender Temperatur verdunstet mehr Wasser, das die Luft aufnimmt. Mehr Wasserdampf in der Atmosphäre führt zu größeren Niederschlagsmengen. Dürreperioden erhöhen zudem die Hochwassergefahr, weil ein ausgetrockneter Boden zunächst wenig Regen aufnimmt und große Wassermassen in bewohnte Ortschaften ableiten kann.

Seit der Zeit von Tulla hat sich der Hochwasserschutz dramatisch verändert. Wenn Boris Lehmann seinen Studentinnen und Studenten die modernen Maßnahmen gegen die überbordenden Wassermassen nahebringt, muss er dazu vier ganz unterschiedliche Komponenten oder »Puzzleteile« erklären, die eng miteinander verzahnt sind: technischer Schutz, Flächen-, Hochwasser- und Risikovorsorge.

Das Ziel der wasserbaulichen Schutzbauwerke ist es, eine Überflutung zu verhindern; damals wie heute. Gemäß dem modernen Ansatz soll sich der technische Hochwasserschutz aber vorrangig auf den Schutz von Menschenleben und hochwertigen Sachgütern beschränken, wobei Belange von Naturschutz und Landschaftspflege zu beachten sind. »Konkret bedeutet das, dass man bei der Maßnahmenplanung stets schauen und bewerten sollte, wie die Situation aussieht, wenn ein über dem Bemessungsereignis liegendes Hochwasser kommt.«

Wie im 20. Jahrhundert gehören zu den technischen Elementen auch heute noch Deiche und Bauwerke, die regeln, wie das Wasser im Fluss abfließt. Diese werden beispielsweise für Rückhaltebecken entwickelt, die Abflussspitzen bei Niederschlag speichern. Man steuert sie bei Hochwasser so, dass sie bei jeder Stauhöhe eine kontrollierte, für die Unterlieger gerade noch ungefährliche Wassermengen ablassen und den Rest im Beckenraum zurückhalten. Ebenso haben gesteuerte Polder – das sind eingedeichte Rückhalteräume neben Flüssen – regelbare Einlass- und Auslassbauwerke, um den höchsten Wasserstand für die Unterlieger zu senken und so zu verhindern, dass flussabwärts Deiche überlastet werden.

Schutzbauten aus dem Wasserlabor

Solch große technische Bauten für den Hochwasserschutz planen Ingenieurbüros nach den Vorgaben der Hydrologie – der Wissenschaft des Verhaltens von Wasser auf dem festen Land. Lehmanns Team erprobt diese Pläne mit Modellbauern im wasserbaulichen Forschungslabor der TU Darmstadt. Dort beweisen seine Mitarbeitenden und die Studierenden einen ausgeprägten Spieltrieb, barfuß im viele Meter langen wassergefüllten Modellbecken nebst Flusslandschaft, Siedlungen und Rückhaltebecken in Miniatur. Wie Riesen wirken sie vor der um den Faktor 20 maßstabsgetreu verkleinerten Landschaft.

Modelle im Wasserbaulabor | Im Wasserbaulabor testen Fachleute nicht nur die Bauwerke zum Hochwasserschutz selbst. Während im Vordergrund ein Modell eines Hochwasserrückhaltebeckens auf seinen Einsatz wartet, wird im Hintergrund eine gewendelte Fischtreppe getestet. Denn Wehre und Dämme sollen die Tiere im Fluss möglichst wenig an ihren Wanderungen hindern.

Ihre Beobachtungen und Messungen können sie dank der Erkenntnisse der so genannten Ähnlichkeitsmechanik auf Echtgröße übertragen. Dieser eigenständige Forschungszweig untersucht, wie man hydraulische Prozesse und deren Messwerte wie Wassertiefe oder Fließgeschwindigkeit aus dem Modell- in den Naturmaßstab umrechnet. Die damit entwickelten Formeln nutzen Lehmanns Doktorandinnen und Doktoranden, um die hydraulischen Funktionen von geplanten Anlagen zu prüfen und zu optimieren sowie Regeln dafür zu erarbeiten, wie man die Bauwerke in unterschiedlichen Hochwasserszenarien betreibt. »Eine bewährte Methode seit über 100 Jahren«, so der Professor. Denn die im Wasserbaulabor beobachtete Strömung macht zuweilen unerwartete Effekte sichtbar.

So stellten die Fachleute bei einem Projekt fest, dass ein aus statischen Gründen geplanter Pfeiler das Wasser am seitlichen Einströmen in eine vorgesehene Öffnung hinderte. »Dann ändern meine Mitarbeiter die Pfeilerform mittels Blechen hier oder Hölzern und Kanten da, und bewerten die Wirkung auf die Strömung«, erläutert Lehmann. Solche Experimente im Labor lassen sich mit Strömungsmodellierungen am Computer verknüpfen, um damit auch Wirkungen weitab des im Labormodell abgebildeten Flussbereiches bewerten zu können.

»Am Ende geben wir dem Planungsbüro Rückmeldung, wie sowohl Bauwerkskonturen und -öffnungen als auch benötigte Pfeiler, Klappen und Rechen anzupassen sind, um eine optimale hydraulische Bauwerksfunktion zu haben«, erklärt der Forscher weiter. Das sei der Grund, dass dann zum Beispiel der eine Pfeiler etwas kürzer, der andere etwas länger gebaut wird, um die Strömung optimal ins Bauwerk leiten zu können. »Genau solche Details will man natürlich vor der Ausführung eines Millionen Euro teuren Bauwerks wissen! Zudem zeigen Modellversuche an, wo man ein Bauwerk bei gleicher Leistungsfähigkeit kleiner und einfacher ausführen kann.« Das kann beim Bau wie im Betrieb sehr viel Geld einsparen.

Brücken, die zum Staudamm werden

Vom ersten Plan eines größeren Polders bis zur tatsächlichen Umsetzung könne locker eine Dekade vergehen: »Da muss man einen sehr langen Atem haben«, weiß Lehmann, der die Prozedur aus etlichen Projekten und Abstimmungen mit Naturschutz, Landwirtschaft und Umweltschutz nur zu gut kennt. Den Gutachten folgen Gespräche und Berichte unter Einbeziehung der Bürgerinteressen, und im Falle der Genehmigung komplexe, EU-weite Ausschreibungen.

Deshalb entsorgt Lehmann die zeitaufwändig erbauten Modelle nicht gleich nach Versuchsende, sondern verstaut die einzelnen Baumodule noch einige Jahre griffbereit im Keller. Für den Fall, dass sie im Lauf des langwierigen Genehmigungsprozesses wieder gebraucht werden.

Auch die Computermodelle, die großräumig Überflutungen und die Strömungen bei Hochwasser simulieren, können sich später noch einmal als wertvoll erweisen. So beauftragte der rheinland-pfälzische Untersuchungsausschuss zur Ahrtal-Katastrophe Lehmann als Experten mit einem Gutachten. Der Wasserbauingenieur schlug vor, die neuen Daten in bestehende Hochwassermodelle einzuspeisen, um die Katastrophenflut am Rechner zu simulieren und daraus zu lernen: Welche Korridore sollten zum Beispiel künftig auf jeden Fall frei sein, damit keine Sturzflut entsteht?

»Das Dilemma bei starkem Hochwasser sind oft diese schönen, alten Brücken über die Ahr«, erklärt er. In einem Fall verstopfte Treibgut den bogenförmigen Brückendurchlass wie ein Biberdeich. Als die solide Steinbrücke trotz dagegen geschwemmter Autos, Camper und Gartenhütten hielt, sei der Wasserstand in weniger als einer Stunde dort um zwei Meter angestiegen, berichtet Lehmann weiter. »Das Wasser suchte sich neue Wege und donnerte durch die Hauptstraße – so schnell kann man sich kaum in Sicherheit bringen. Und wer dann noch versucht, Sachen aus dem Keller hochzubringen oder das Auto rauszufahren, gerät überraschend schnell in Lebensgefahr!«

Lehmann beobachtet aber auch hier, wie immer bessere Rechner und Modelle die Entwicklung vorantreiben: »Die Reise geht dahin, dass wir komplizierte, hochaufgelöste Modelle derart leistungsfähig machen, dass sie in Echtzeit für den operationellen Hochwasserschutz betrieben werden können. Damit kann man in viel kürzerer Zeit deutlich genauere Aussagen zum Hochwasserflutgeschehen machen, um zielgenauer auf die Lage zu reagieren.«

Wie man vor Hochwasser gewarnt bleibt

Der operationelle Hochwasserschutz gehört zur Komponente Risikovorsorge. Er versucht das Überflutungsrisiko einzuschätzen und nutzt dafür Hochwassergefahrenkarten, die auf detaillierten Satellitenmessungen der Topografie sowie hydrologischen und hydraulischen Simulationen für verschiedene Hochwasserszenarien basieren. Starkregengefahrenkarten helfen ebenfalls.

Für den Hydrologen Manfred Bremicker von der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) ist es besonders wichtig, dass potenziell von Hochwasser gefährdete Menschen sich vorab informieren und vorsorgen. Allerdings liefern die Pegelinformationen, Gefahrenkarten und Vorhersagemodelle von Manfred Bremickers Team auch eine Grundlage für ein effizienteres Frühwarnsystem für den Katastrophenschutz sowie für Kommunal- und Regionalplanungen.

Wetter- und Hochwasserwarnungen, inklusive Verweise auf Gefahrenkarten, würden demnächst deutschlandweit gebündelt und seien dann auf dem Naturgefahrenportal abrufbar, das der DWD gerade mit allen deutschen Hochwasserzentralen aufbaut, freut sich Bremicker. Die Ahrtal-Katastrophe soll sich nicht wiederholen, und dafür brauchen Anwohner bessere Warnungen.

Aktuelle Hochwasserpegel und Vorhersagen für viele Flüsse findet man auf der Webseite der deutschen Hochwasserzentralen. Allerdings hängen Hochwasservorhersagen von den oft unsicheren meteorologischen Wetterprognosen ab. Stabile, großräumige Wetterverhältnisse wie die berüchtigte Vb-Wetterlage mit Dauerniederschlag lassen deswegen zuverlässigere Hochwasservorhersagen zu. Da können die Hochwasserzentralen zum Beispiel über die Hochwasser-App »Meine Pegel« frühzeitig warnen, damit die Gemeinden rechtzeitig Vorkehrungen treffen und notfalls Evakuierungen veranlassen.

Anders verhält es sich aber bei lokalem Starkregen oder kleinräumigen Gewittern, die bereits kleinste Gewässer in kurzer Zeit über die Ufer treten lassen. Solche Wetterprozesse laufen chaotisch ab und lassen sich meteorologisch nicht präzise vorhersagen. Entsprechend schwierig werden dann Hochwasserwarnungen – und Überschwemmungen können Anwohner überraschen. Für solche Fälle muss man anders vorsorgen.

Schon Details können einen Unterschied machen

Bei der Hochwasservorsorge, einer weiteren der vier Hauptkomponenten, geht es um den Schutz von Gebäuden und das richtige Verhalten ihrer Bewohner. Diese müssen im Ernstfall das Mobiliar sichern, Fenster und Türen abdichten, Sandsäcke und Fluchtwege vorbereiten oder gar Notquartiere vorhalten. Mit entsprechender Aufklärung bringt man sich auch nicht unnötig in Lebensgefahr. Wer zudem die zugehörigen Hochwassergefahrenkarten kennt, sich vorbereitet und zusammen mit Nachbarn organisiert, senkt die Gefahr durch Fluten unter Umständen erheblich.

Hochwassergefahrenkarte | Spezielle Karten, hier vom Rhein zwischen Köln und Leverkusen, zeigen detailliert, welche Flächen bei Hochwasser gefährdet sind. Solche Karten werden von den Bundesländern erstellt und sind öffentlich einsehbar.

Bei Gebäuden in gefährdeten Gebieten gilt es unter anderem, die Sicherheit des Kellers zu verbessern. So können Häuser dort auf Stützen oder mit einer darunter liegenden Abdichtungswanne errichtet werden – oder gleich ganz ohne Keller. Oder die Baustelle wird auf einen Hügel verlegt, wo kein Hochwasser hinkommt.

Lehmann sensibilisiert die zukünftigen Bauingenieure und Architekten: »Objekte in hochwassergefährdeten Bereichen müssen so ausgerüstet werden, dass keine Fallen entstehen!« Mögliche Wassereintrittsöffnungen wie Kellerfenster, Haustüren, Abwasserrohre und Lichtschächte müssen also wasserdicht oder außer Reichweite von Hochwassern sein. Technische Gebäudeausrüstung wie Heizung oder Stromsicherungskasten gehören bei Häusern in potenziellen Überschwemmungsgebieten eher auf den Dachboden als in den Keller.

Auch vermeintliche Kleinigkeiten haben zuweilen große Auswirkungen. So verhindere eine eingebaute Rückstauklappe etwa, dass der steigende Wasserdruck Fäkalien der Kanalisation durch die Haustoilette presst; den Schlamassel wolle nämlich keiner erleben, fügt Lehmann an. Ein höher gelegter Hauseingang über ein paar Stufen verhindert wiederum, dass Wasser durch die Tür dringt. »Selbst jahrhundertealte Bauwerke an Flüssen haben solche Eingangstreppen. Den früheren Erbauern war die letzte Jahrhundertflut wohl noch gegenwärtiger. Für neue Häuser sollte man das wieder berücksichtigen«, fordert Lehmann.

Das Versicherungsparadox

Doch nicht jeder Schaden lässt sich abwenden. Deswegen spielen für die Risikovorsorge auch Versicherungen und private Rücklagen eine wichtige Rolle. Nicht versicherte Schäden werden in den Medien heiß diskutiert, im Ahrtal ging diese Summe in die Milliarden. Zuweilen hört man den Vorwurf, dass sich Betroffene schließlich hätten absichern können. Aber so einfach ist das nicht, denn das Angebot deckt nicht den Bedarf.

Versicherer bewerten die Gefährdung eines Gebäudes durch Naturgewalten anhand des Zonierungssystems für Überschwemmung, Rückstau und Starkregen (ZÜRS). Das hat in Deutschland vier Stufen. In ZÜRS-Zone 1 kommt Hochwasser quasi nie vor, in der höchsten Zone 4 dagegen im Schnitt mindestens einmal pro Dekade. Lehmanns Beobachtung: Für Zone 1 finden sich viele Versicherungsangebote. In höheren Stufen verringert sich die Anzahl der Anbieter, während die Beiträge steigen. Ausgerechnet in der ZÜRS-Zone 4, wo eine Versicherung wirklich wünschenswert wäre, scheint es fast unmöglich, sich bezahlbar zu versichern. Mit anderen Worten: Je weniger man eine Versicherung braucht, desto eher bekommt man sie.

»Objekte in hochwassergefährdeten Bereichen müssen so ausgerüstet werden, dass keine Fallen entstehen!«Boris Lehmann, TU Darmstadt

Risikovorsorge, Hochwasservorsorge und technischer Schutz reichen aber nicht aus – das vierte Puzzleteil im modernen Hochwasserschutz bildet die Flächenvorsorge. Hier sollen zumindest einige menschengemachten Ursachen der Hochwasserentstehung langfristig umgekehrt werden, wie zerstörte Vegetation, entwässerte Feuchtgebiete und Bodenverdichtung auf landwirtschaftlich genutzten Arealen. Denn eine vegetationslose, vertrocknete oder komprimierte Erdoberfläche nimmt kaum Regenwasser auf und lässt daher mehr davon aus dem Einzugsgebiet hin zum Gewässer strömen.

Auch mit Asphalt und Bauten versiegelte Böden hindern Wasser daran, im Boden zu versickern, wodurch es rasch oberflächlich oder in die Kanalisation abfließt. Und hier zu Lande nimmt die Bodenversiegelung rasant zu: Durch Siedlungs- und Verkehrsbauten verschwanden in Deutschland dem Umweltbundesamt zufolge innerhalb des Jahres 2022 etwa 64 Quadratkilometer Versickerungsfläche, was einem Fußballfeld pro Stunde entspricht.

Die Stadt soll zum Schwamm werden

Bei der Flächenvorsorge will man also gewässernahe Überflutungsräume sowie überall im Einzugsgebiet versickerungsfähige Böden erhalten oder wiederherstellen: Deiche vom Flusslauf in das Hinterland zurückverlegen und alte Auenbereiche wieder anbinden, Bäche und Flüsse renaturieren. So fließt die Hochwasserwelle verzögert ab und wird dadurch flacher. Weitere naturverträgliche Möglichkeiten sind, ehemalige Feuchtgebiete und Moore wieder zu vernässen, Wälder aufzuforsten, Grünland in der Landwirtschaft zu schaffen sowie Maßnahmen zum Regenwasserrückhalt im Gelände, um Bodenerosion durch abfließendes Regenwasser zu vermindern.

Populär wird zunehmend das Konzept der »Schwammstadt«. Dabei entstehen inmitten versiegelter Ballungszentren grüne, saugfähige Flächen – wie ein Schwamm –, die auch dem Stadtklima guttun. Zum einen dienen sie als grüne, kühlende Frischluft-Oase für Mensch und Tier, zum anderen speichern sie mehr Regenwasser, das zum Grundwasser versickert, statt über versiegelten Asphalt in Gullys zu fließen. Vor allem aber schützt ein Boden, der Wasser wie ein Schwamm aufnimmt, vor zerstörerischen Starkregenabflüssen und Sturzfluten.

Allerdings kann man nicht allzu viel Asphalt aufbrechen, wenn eine Stadt begeh- und befahrbar bleiben soll. Eine Lösung wären wasserdurchlässige Bodenbeläge. Auch andere Maßnahmen stärken den Wasserrückhalt, etwa Gebäude- und Dachbegrünungen sowie Wassersammelbehälter wie Zisternen, Rinnen und Versickerungsmulden in Wohngebieten.

Grünfläche im Neubaugebiet | Parkanlagen in der Stadt sind nicht nur Naherholungsgebiete, sondern lassen Niederschlag langsamer abfließen und das Wasser im Boden versickern. Dadurch dämpfen sie bei Starkregen Überschwemmungen entlang der Oberflächengewässer.

Längst haben einige Städte begonnen, Teile ihrer Infrastruktur zum Schwamm umzubauen. Kopenhagen setzt bereits seit über einem Jahrzehnt Konzepte der Schwammstadt zur Überflutungsvorsorge um und gilt hier als Vorreiter. Harbin in China ist ebenfalls eine erfolgreich umgesetzte Schwammstadt, Berlin, Hamburg, Leipzig und Wuppertal wollen es noch werden. Solche gesamtstädtischen Wasserspeicherkonzepte erfordern eine gute Verzahnung von Siedlungswasserwirtschaft mit Stadt-, Verkehrs- und Freiraumplanung. Wie wichtig die Kombination von Flächenvorsorge und technischem Schutz ist, hatten auch Fachleute erst allmählich begriffen.

So zeigt das Beispiel des Rheins die Schwächen des frühen technischen Hochwasserschutzes ebenso auf wie die Lehren daraus für den modernen Wasserbau. Nachdem der Fluss erstmals begradigt wurde, baute man kräftig weiter – ab 1912 Dämme und Buhnen, um den Fluss weiter zu kanalisieren. Ab 1928 entstanden insgesamt zehn Staustufen, die den Wasserstand des Flusses regulieren und die erst 1977 fertig waren. Immer mehr Menschen siedelten immer dichter am Fluss. Das war ebenso Ursache wie Folge einer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung im Rheinstromgebiet, für die der Wasserbau mitentscheidend war.

Doch dabei verschwanden großflächig die Auen, während der Fluss immer flotter wurde: 1955 brauchte der Rhein von Basel nach Karlsruhe 65 Stunden; heute nur noch 30 Stunden. Und das hatte ungewollte, negative Folgen. So kommt der Scheitel einer auftreffenden Hochwasserwelle entsprechend schneller an und ist dann auch höher. Aufzeichnungen aller Pegelmarken in Maxau bei Karlsruhe zeigen, dass der Wasserstand dort seit den 1950er Jahren immer häufiger über 800 Zentimeter steigt. Zur Einordnung: Ab einem Pegel von 650 Zentimetern läuft der Hochwasserschutz an, und wenn das Wasser 900 deutlich übersteigt, strömt es über die Kronen der Rheindämme. Rund sechs Millionen Menschen entlang des Rheins wären von den Überschwemmungen betroffen.

Um diese Hochwassergefahr zu reduzieren, begannen die Bundesländer 2015 im Rahmen des nationalen »Integrierten Rheinprogramms« (IRP) mit dem Bau etlicher Hochwasserrückhalteräume in ehemaligen Überflutungsflächen. 13 Polder entstehen zwischen Basel und Mannheim, weitere in Rheinland-Pfalz sowie in Frankreich. Durch die Rückhaltung der Hochwasserwellen im Oberrheinabschnitt sollen die Höchststände des Rheins und anderer Zuflüsse wie des Neckars nicht gleichzeitig aufeinandertreffen und sich gegenseitig verstärken. Das sollte die Hochwasserlage im Bereich um Karlsruhe und Mannheim deutlich verbessern und sich positiv bis nach Köln und in die Niederlande auswirken.

Vorbild Niederlande: Mehr Raum für die Flüsse

Die Niederländer haben schon lange ein ausgeprägtes Bewusstsein für Hochwasserrisiken – die Hälfte der Bevölkerung lebt in Gebieten, die ohne Dämme nicht bewohnbar wären. Daher erstaunt ihre Vorreiterrolle im wasserbaulichen Hochwasserschutz wenig. Seit den Überflutungen von 1993 und 1995 verfolgen sie ihre neue Strategie »Raum für die Flüsse«, die auch unter Naturschutzverbänden hohe Anerkennung genießt.

Das Grundkonzept ist simpel: Hochwasser im Stromgebiet festhalten, im Oberstromgebiet temporär zurückhalten und im Unterstromgebiet den Raum für die Flüsse vergrößern, damit es abfließen kann. Hierfür wurden verschiedene Maßnahmen erprobt: Engpässe beseitigt, Deiche zurückverlegt, Seitenarme angelegt, das Niedrigwasserbett vertieft und Rückhaltegebiete geschaffen. Das Konzept verbindet erfolgreich die verschiedenen Interessen von Hochwasserschutz, Schifffahrt und ökologischer Wiederherstellung.

Im föderalistischen Deutschland wäre ein solches Vorgehen kaum denkbar. Die niederländische Wasserbehörde ist eine Zentrale, die für das ganze Land entscheidet, während Hochwasserschutz in Deutschland Ländersache ist. Um dem Problem entgegenzuwirken und den natürlichen Hochwasserrückhalt überregional besser zu koordinieren und zu beschleunigen, beschlossen Bund und Länder nach der Hochwasserkatastrophe 2013 im Elbe- und Donaugebiet ein Nationales Hochwasserschutzprogramm (NHWSP). Dieses sieht insgesamt 243 Einzel- und Teilmaßnahmen an Donau, Elbe, Oder, Weser und Rhein vor, die zum Teil schon umgesetzt sind; auch das IRP gehört dazu.

Hochwasserschutz braucht mehr Pragmatismus

Das NHWSP hat Hochwasserstände an einigen Stellen der Flüsse bereits merklich gesenkt – das allerdings überwiegend durch technische Lösungen. Von den geplanten naturverträglichen Maßnahmen zur Flächenvorsorge wie zurückverlegten Deichen sind bislang jedoch nur wenige umgesetzt oder im Bau. Die meisten befinden sich noch in der Konzeption, Vorplanung oder Genehmigung.

»Für einen nachhaltigeren Schutz vor Hochwasser sollten aber zunehmend naturbasierte Lösungen im Fokus stehen«, fordert die Gewässerökologin Sonja Jähnig, Abteilungsleiterin am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Denn technischer Hochwasserschutz sei zum einen durch die Instandhaltungskosten der Bauwerke sehr teuer und biete zum anderen keinen absoluten Schutz. Zusätzlich vermindern solche Konstruktionen den Wert eines Flusses für Mensch und Natur. »Beim rein technischen Schutz gehen wertvolle Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten im und am Wasser verloren – und damit auch viele Vorteile für uns Menschen.«

Jähnig betont, dass der Wechsel von Tief- zu Hochständen, den manche Menschen als Gefahr wahrnehmen, für einen Fluss typisch und normal ist. Menschen müssten die ökologische Bedeutung dieser wiederkehrenden Flussphasen verstehen und anerkennen, und entsprechend sollten Hochwasserschutzkonzepte nicht nur dem Menschen, sondern auch der Umwelt nützen.

Wasserbauprofessor Boris Lehmann kann sich ebenfalls vor allem für Projekte begeistern, die Flüssen mehr Raum geben. Sein Forschungsschwerpunkt liegt deswegen genauso bei naturnahem Hochwasserschutz wie Deichrückverlegung oder naturnaher Gewässerentwicklung. Vergessen darf man den technischen Schutz dabei keineswegs – doch letztlich kann man Flüsse nicht vollständig kontrollieren. Denn das Wasser sucht sich seinen Weg, so oder so. Der Mensch kann nur dafür sorgen, dass er ihm nicht im Weg steht.

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