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Koevolution: Hörnchen mit Weitblick

Im erbitterten Kampf des Fressens und Gefressenwerdens ist für den eigenen Vorteil kein Trick zu hinterhältig. Eichhörnchen schauen ihren Nahrungsbäumen in die Karten und ziehen rechtzeitig einen höheren Trumpf aus dem Ärmel.
Amerikanisches Rothörnchen
Vegetarier haben es bequem: Sie müssen nur eine geeignete Pflanze finden, und schon können sie sich genüsslich über ihr Futter hermachen. Wie viel schwerer haben es da die viele Fleischfresser, die ihrer Beute erst einmal hinterher jagen müssen! Doch laufen die Pflanzen auch nicht weg, ganz ohne Gegenwehr ergeben sie sich nicht in ihr Schicksal: Mit Brennhaaren, Dornen und Giften versuchen sie, sich die gefräßigen Feinde vom Leib zu halten.

Eine besondere Taktik haben sich Pflanzen einfallen lassen, deren Samen auf dem Speiseplan von Tieren stehen: In unregelmäßigem Wechsel produzieren ganze Populationen auf einmal massenhaft Samen und dann wieder über mehrere Jahre hinweg nur ganz wenige. Der Vorteil für die Pflanze: Der Fressfeind muss sehen, wie er über die dürren Jahre kommt, und bekommt in dieser Zeit dann meist nur wenig Junge. Ist der Tisch dann auf einmal reichlich gedeckt, hängt der Samenfresser mit seiner Nachwuchsproduktion hinterher – folglich kommen mehr Samen durch.

In der Regel funktioniert diese Taktik gut. Manchen Tieren aber gelingt es, die Pläne ihrer Futterquelle auszuspionieren und doch pünktlich mit reichem Kindersegen am üppig gedeckten Tisch zu erscheinen, wie Stan Boutin von der Universität von Alberta in Edmonton zusammen mit seinen Kollegen herausfand.

Über 15 Jahre hinweg zeichneten die Wissenschaftler die Populationsgröße, deren Überlebensraten und die Anzahl der Jungen von zwei Gruppen amerikanischer Rothörnchen (Tamiasciurus hudsonicus) in Kanada sowie über drei bis neun Jahre hinweg entsprechende Daten von drei Populationen europäischer Eichhörnchen (Sciurus vulgaris) in Belgien und Italien auf.

Dabei zeigte sich, dass die Hörnchen nicht etwa – wie erwartet – im Folgejahr auf ein plötzlich erhöhtes Futterangebot reagierten, sondern den Nahrungsreichtum antizipierten: Nicht erst im Jahr, das einer reichen Samenproduktion folgte, hatten sie viele Sprösslinge, sondern bereits im fetten Jahr.

Bei den europäischen Eichhörnchen setzten mehr Weibchen mehr Junge in die Welt, wenn im Herbst eine reiche Samenernte anstand. Die amerikanischen Rothörnchen hatten sogar eine doppelte Strategie auf Lager: Sie hatten im Frühjahr schon einen größeren Wurf als in mageren Jahren, und legten außerdem später im Jahr noch einmal mit einem zweiten Wurf nach. Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil die Muttertiere zum Zeugungszeitpunkt des zweiten Wurfes den ersten noch säugten – normalerweise sind sie dann überhaupt nicht empfängnisbereit. "Diese Hörnchen kennen irgendeinen Trick, mit dem sie die physiologische Barriere umgehen", sagt Stan Boutin.

Die Tiere merkten demnach bereits im Frühjahr, dass der Herbst ihnen einen reichen Futtersegen bringen würde und reagierten umgehend mit entsprechend reichem Kindersegen. "Viele Tiere stimmen den Zeitpunkt ihrer Reproduktion
"Diese Eichhörnchen haben einen Weg gefunden, vor einem nicht vorhersehbaren Nahrungsreichtum zu einem Zeitpunkt einen zweiten Wurf zu bekommen, an dem ihnen nur wenig Nahrung zur Verfügung steht"
(Stan Boutin)
mit vorhersehbaren Anstiegen ihrer verfügbaren Nahrung ab wie beispielsweise mit dem Pflanzenwachstum in jedem Frühjahr", sagt Boutin. "Das Interessante in diesem Fall ist, dass diese Eichhörnchen einen Weg gefunden haben, vor einem nicht vorhersehbaren Nahrungsreichtum zu einem Zeitpunkt, an dem ihnen nur wenig Nahrung zur Verfügung steht, einen zweiten Wurf zu bekommen."

Die Hörnchen sind also dem Trick der Bäume eine Nasenlänge voraus und profitieren davon. An welchen Zeichen die Tiere die anstehende reiche Ernte erkennen, blieb den Wissenschaftler bislang aber noch verborgen.

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