Hörverlust: Was hast du gesagt?
»Sprecht lauter!«
»Hör du halt richtig zu!«
Wenn das Gesprochene beim Gegenüber nicht verstanden wird, kann die Stimmung schnell ins Aggressive kippen. Derjenige, der schlecht hört, ist frustriert und fühlt sich von der Unterhaltung ausgeschlossen. Die anderen sind genervt, jeden Satz mehrfach auszusprechen oder schreien zu müssen. Nicht umsonst bedeutet »sich nicht mehr verstehen« im übertragenen Sinn, dass Beziehungen nicht mehr funktionieren. Ist jemand schwerhörig, kann das für das Umfeld eine enorme Belastung sein. »Die Kommunikation ist sehr mühsam, wenn jemand im Familien- oder Freundeskreis schlecht hört«, sagt Annette Limberger, Professorin für Hörakustik an der Hochschule Aalen. »Viele wissen nicht, wie man mit einem Schwerhörigen umgehen soll.«
Ein grundsätzliches Problem: Menschen, die einen Hörverlust erleiden, merken davon lange nichts. »Ein Hörverlust entwickelt sich in der Regel schleichend, so dass die Betroffenen diese Einschränkung nicht bemerken«, sagt die Fachärztin für Phoniatrie und Leiterin der entsprechenden Abteilung an den SLK-Kliniken Heilbronn. »Meistens ist das auch der Grund, warum Betroffene denken, die anderen seien schuld.« Das hat die HNO-Ärztin selbst in der Familie erlebt. Es fiel ihr über Jahre auf, dass ihr Vater immer schlechter hörte, wenn sie mit ihm sprach. Doch er verweigerte einen Hörtest und behauptete stattdessen, dass die anderen Familienmitglieder nuscheln würden. Ein Phänomen, das viele Angehörige von Schwerhörigen kennen – und das in der Anatomie und Physiologie des Hörens begründet ist.
Wie sich Schall in Sprache wandelt
Im Ohr werden Töne schrittweise in elektrische Impulse verwandelt. Das ist die Sprache, die das Gehirn versteht und verarbeiten kann. Zunächst lässt der Schall das Trommelfell schwingen, dann wird diese Bewegung über die Gehörknöchelchen auf die Hörschnecke (Cochlea) übertragen. Sie ist gefüllt mit einer Flüssigkeit, der »Endolymphe«, die als Reaktion auf die Schwingung des Trommelfells Wellen schlägt und so feine Härchen bewegt, die sich auf der Oberfläche der so genannten Haarzellen befinden. Dabei liegen je drei Lagen äußere Haarzellen über einer Lage innere Haarzellen. »Die äußeren Haarzellen verstärken leise Geräusche und dämpfen laute«, sagt Annette Limberger. Die inneren Haarzellen dagegen sind die eigentlichen Hörzellen, die die Impulse direkt an das Gehirn weiterleiten. Sie sind in der Hörschnecke so angeordnet, dass die hohen Frequenzen an der Schneckenbasis und die tiefen Frequenzen an der Schneckenspitze wahrgenommen werden.
»Das ist wie bei Orgelpfeifen, es gibt jeweils Zellen für bestimmte Tonhöhen«, erklärt Mark Praetorius, Professor für Otologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die räumliche Abfolge der Haarzellen bestimmt, wie die Schwerhörigkeit fortschreitet. »Man kann sich das vorstellen wie in einem Hochhaus mit Teppichboden im Treppenhaus«, sagt Annette Limberger. »Unten müssen alle drüber laufen, da nutzt sich der Teppich am schnellsten ab, oben bleibt er länger in gutem Zustand.« Übertragen auf die Hörschnecke bedeutet das: Über die Zellen am Anfang, die für hohe Frequenzen zuständig sind, rauschen alle Schallwellen hinweg. Sie verschleißen daher zuerst. »Schwerhörigkeit beginnt deshalb meistens damit, dass Menschen die leise gesprochenen und hochfrequenten Konsonanten wie S und F nicht mehr wahrnehmen«, sagt sie. Gleichzeitig werden laute Geräusche von Schwerhörigen als sehr unangenehm empfunden. Das hängt ebenfalls mit dem verloren gegangenen Verstärker- und Dämpfeffekt der äußeren Haarzellen zusammen. Für Schwerhörige klingt es also tatsächlich so, als ob alle um sie herum nuscheln würden. Dies kann demnach ein Warnsignal sein, dass eine Schwerhörigkeit eingetreten ist.
Die gute Nachricht: Schlecht zu hören ist schon lange kein unabwendbares Schicksal mehr. Hörgeräte können heute auch Hörgeschädigten ein normales Leben ermöglichen. Anders als in vielen ärmeren Regionen der Erde, wo ein Gros der Gesellschaft keinen Zugang zu Hörhilfen hat, übernehmen in Deutschland die gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherungen die kompletten Kosten oder bei höherwertigen Modellen zumindest zu einem Großteil. Wichtig ist vor allem, nicht zu lange zu warten, bevor man ein Hörgerät testet.
Warum so wenige Schwerhörige ein Hörgerät tragen
Doch die Skepsis gegenüber Hörgeräten ist groß. Viele, die an Schwerhörigkeit leiden, nutzen keine Hörhilfe. In einer groß angelegten Studie der Universitätsmedizin Mainz wurde das Hörvermögen von rund 5000 Personen untersucht. Es stellte sich heraus, dass über alle Altersstufen hinweg 35 Prozent der Menschen schwerhörig waren. Dabei hörten rund 41 Prozent der Teilnehmenden auf mindestens einem Ohr schlecht, etwa 29 Prozent auf beiden Ohren. Bei den Probanden zwischen 55 und 59 Jahren fand sich bei rund 17 Prozent eine Schwerhörigkeit, während es bei den 75- bis 79-Jährigen schon 71 Prozent waren. Entscheidend aber: Nur 7 Prozent der Teilnehmenden hatten auch ein Hörgerät. Die Unterversorgung ist also eklatant. Die meisten Menschen, die eine Hörhilfe bräuchten, haben keine. Woran liegt das?
»Das Hörgerät gilt zu Unrecht als Stigma des Älterwerdens«, sagt Annette Limberger. »Dabei gibt es heute Modelle, die optisch kaum noch wahrzunehmen sind.« In der Produktklasse »In dem Ohr«-Hörgeräte (IdO) etwa gibt es so genannte »Unsichtbar im Gehörgang«-Modelle, abgekürzt »IIC IdO«, was für »invisible in the canal« steht. Diese sitzen im Gehörgang und sind von außen kaum zu sehen. Manche Modelle sind sogar komplett versteckt. Ob nun sichtbar oder verborgen, teuer oder vergleichsweise günstig: Alle Hörgeräte funktionieren nach dem gleichen Prinzip: Sie registrieren Geräusche per Mikrofon, verstärken den Schall und spielen ihn quasi mit einem kleinen Lautsprecher, der im Ohr angebracht wird, lauter wieder ab. »Das funktioniert aber nur, solange noch funktionsfähige Haarzellen vorhanden sind«, sagt Annette Limberger. »Wenn im Hochtonbereich nicht mehr genügend übrig sind, kann der Hörakustiker auch einen Frequenzwechsel einstellen.« Die vormals hohen Frequenzen werden nun im tieferen Frequenzbereich wahrgenommen. Zwar klinge das erst mal ungewohnt, das Gehirn gewöhne sich aber rasch daran, »wenn man das Hörgerät mindestens acht bis zehn Stunden am Tag trägt und am besten anfangs auch ein Hörtraining macht«. Das geht per App oder per Kurs beim Hörakustiker.
»Wenn man eine Beinprothese braucht, dann wartet man damit auch nicht bis ins hohe Alter«Mark Praetorius, Professor für Otologie
Gut zu hören ist gut fürs Gehirn
Doch wie kann man nahestehende Personen überzeugen, sich beim Hören unterstützen zu lassen? Mark Praetorius zieht den Vergleich zu anderen Hilfsmitteln, wenn der Körper Hilfe benötigt: »Wenn man eine Beinprothese braucht, dann wartet man damit auch nicht bis ins hohe Alter«, sagt er. »Stattdessen versucht man, sich möglichst früh daran zu gewöhnen, so dass der Umgang damit normal wird.« Das empfehlen die Audiologen ebenso für das Hörgerät. Ein Argument, das womöglich viele überzeugt: »Ich zeige schwerhörigen Patienten, welches Demenzrisiko sie ohne Hörgerät haben – dann willigen die meisten ein, eines auszuprobieren«, sagt Annette Limberger. »Viele merken dann erst, wie viel ihr Leben schon durch den Hörverlust verloren hatte.« Schwerhörigkeit ist neben Depression der wichtigste bekannte Risikofaktor für das Auftreten von Demenz. Eine groß angelegte Studie hat 2023 zudem erstmals belegt, dass ein Hörgerät die Gefahr für eine Demenzerkrankung tatsächlich maßgeblich verringern kann. Die Forschenden werteten Daten von mehr als 400 000 Menschen im Alter zwischen 40 bis 69 Jahren aus, die über ihr Hörvermögen Auskunft gaben und anfangs noch keine Demenz hatten. Etwa drei Viertel der Teilnehmenden waren dabei nicht schwerhörig. Ein Viertel, von dem mehr als ein Zehntel ein Hörgerät trug, klagte über einen Hörverlust. Im Schnitt wurden die Angaben der Personen rund zwölf Jahre später wieder ermittelt. Dabei kam heraus: Schwerhörige Menschen ohne Hörgerät hatten ein um 42 Prozent erhöhtes Risiko, eine Demenz zu bekommen, als solche, deren Hörvermögen normal war. Trugen Schwerhörige dagegen ein Hörgerät, glich das Risiko dem von normal hörenden Menschen.
»Eine sehr spannende Studie«, sagt Robert Perneczky, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Sie habe nur den Nachteil, dass erst im Nachhinein zwei Bevölkerungsgruppen verglichen wurden, so der Leiter der Sektion für Psychische Gesundheit im Alter am LMU-Klinikum. »Es ist methodisch schwierig, vergleichbare Gruppen zu definieren.« Zum Beispiel könne es sein, dass Menschen mit höherem Bildungsniveau eher dazu neigen, eine Hörhilfe zu nutzen. Und diese haben dann ein geringeres Risiko, an Demenz zu erkranken. Ein Kausalzusammenhang sei deshalb noch nicht bewiesen. Viel näher werde man an einen Nachweis jedoch kaum kommen. »Der Beweis, dass Hörgeräte ein wirksames Mittel sind, um das Demenzrisiko bei Menschen mit Hörverlust zu reduzieren, wurde hier so gut wie möglich geführt«, schreiben Gill Livingstone und Sergi Costafreda vom University College London in einem Kommentar in »Lancet Public Health«. »Denn eine randomisiert-kontrollierte Studie ist praktisch unmöglich beziehungsweise ethisch nicht vertretbar, weil Menschen mit Hörverlust nicht von wirksamen Behandlungen ausgeschlossen werden sollten.«
Auch Robert Perneczky schildert, dass übereinstimmend viele Studien feststellen, dass bei Menschen mit Hörminderung mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Demenz auftritt. Das gelte besonders für Personen, bei denen die Schwerhörigkeit im mittleren Lebensalter diagnostiziert werde, also zwischen dem 45. und 60. Lebensjahr. Interessant ist, dass die aktuelle Studie eine Verringerung des Demenzrisikos durch den Einsatz eines Hörgeräts ergibt – gleichgültig, welche Ursache hinter dem mentalen Verfall steht. »Dieses Ergebnis legt nahe, dass Hörhilfen eher die Resilienz des Gehirns stärken, als spezifische Formen von Neuropathologien zu reduzieren«, schreiben Gill Livingstone und Sergi Costafreda. Gut hören ist also wohl einfach gut fürs Gehirn. Es erscheint möglich, dass das Gehirn weniger angeregt wird, wenn akustische Reize fehlen, und dadurch anfälliger für Krankheiten, die zu Demenz führen. »Es ist sicher zu empfehlen, ein Hörgerät zu tragen, wenn eine Schwerhörigkeit diagnostiziert wurde«, sagt Robert Perneczky. »Eventuell kann man damit einer Demenz vorbeugen – aber in jedem Fall hilft es, am Sozialleben teilzuhaben, und das ist mit Sicherheit gut für das Wohlergehen und die Gesundheit.«
»Meine Hoffnung ist, dass in einer Zeit, in der sowieso viele Menschen ständig Kopfhörer tragen, auch die Akzeptanz von Hörgeräten zunimmt«Annette Limberger, Fachärztin für Phoniatrie
Von Kopfhörern und Hörgeräten
Die Akzeptanz, ein Hörgerät zu benötigen und es auch zu tragen, könnte womöglich auch dadurch unterstützt werden, dass viele Menschen heutzutage bereits ähnliche Technologien nutzen: »Meine Hoffnung ist, dass in einer Zeit, in der sowieso viele Menschen ständig Kopfhörer tragen, auch die Akzeptanz von Hörgeräten zunimmt«, sagt Annette Limberger. Beim Joggen die passende Musik hören, während des Kochens der neuesten Podcastfolge lauschen oder beim Spaziergang mit der Freundin telefonieren: Drahtlose Kopfhörer gehören für viele mittlerweile zum Alltag. Auch Hörhilfen nutzen inzwischen Bluetooth. Dabei ermöglicht es die drahtlose Verbindung , problemlos ein Telefonat oder Musik direkt ins Hörgerät einzuspeisen. Zudem wird die bereits angelaufene Einführung von »Low Energy Bluetooth« den Trägern von Hörgeräten helfen. Denn mit dieser Technik kann ein Hörgerät mit vielen Audioquellen gleichzeitig verbunden sein. So können Sender aus dem öffentlichen Raum wie etwa im Theater direkt empfangen und gestreamt werden.
Für diejenigen, die nahestehende Personen noch nicht von einem Hörgerät überzeugen konnten, hat Annette Limberger noch ein paar Tipps: Sie empfiehlt zum einen, Schwerhörige beim Sprechen immer anzuschauen und für gute Lichtverhältnisse zu sorgen. Beides unterstützt die nonverbale Kommunikation. Zudem sollte man langsam und deutlich sprechen und die Umgebungsgeräusche möglichst reduzieren. »Gut zu wissen ist auch, dass Schwerhörige dazu neigen, wenig nachzufragen. Deshalb sollte man sich gerne mal selbst häufiger erkundigen, ob alles verstanden wurde«, sagt sie. Bei ihrem Vater hatte die Audiologin mit einer anderen Strategie letztlich Erfolg: »Ich habe ihn gefragt, ob ich früher auch genuschelt hätte – was er verneinte«, erzählt sie. »Ich fragte weiter, warum er dann meine, dass ich jetzt damit angefangen habe – daraufhin durfte ich endlich einen Hörtest machen.« In der Folge habe er ein Hörgerät bekommen. »Der Familienfrieden war wieder hergestellt.«
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