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Homo erectus : Der unfassbare Frühmensch

Der Vorläufer von Homo sapiens verblüfft durch seine Uneinheitlichkeit. Neue Fakten erweitern das Bild dieses Frühmenschen – und lassen den herkömmlichen Artbegriff verschwimmen.
Ein Junge aus Afrika, wie er vor zirka 1,6 Millionen Jahren ausgesehen haben könnte.

Kein Zweifel: Homo erectus hat die unangefochtene Pionierrolle in unserer Ahnenreihe – eine Menschenform der Superlative. Er war der Erste, der in seinen Körpermaßen und Proportionen dem Menschen der Gegenwart ähnelte. Er war der erste Hominine, der in der Savanne vom Gejagten zum Jäger wurde. Und vermutlich nutzte er als Erster das Feuer.

Die Liste ist noch länger. Homo erectus (von lateinisch erectus = aufgerichtet) ist laut Fundlage der früheste Hominine, der sich von Afrika aus nach Eurasien ausgebreitet hat. Out of Africa I nennen die Paläoanthropologen das Szenario dieser ersten Expansion aus der Menschheitswiege. Sie hat offenbar ziemlich rasch nach dem ersten Auftritt des Homo erectus auf der Weltbühne stattgefunden: Zwei Millionen Jahre alt ist das bislang früheste Fossil, ein Kinderschädel mit der Katalognummer DNH 134. Der Paläoanthropologe Andy Herries hat es vor wenigen Jahren im Höhlensystem von Drimolen in Südafrika entdeckt, wie er und seine Kollegen in der Fachzeitschrift »Science« berichten. Und bereits vor 1,8 Millionen Jahren tauchte die Menschenform in Eurasien auf, an einer Fundstelle im georgischen Dmanisi im Kaukasus.

Von da an war sie in fast ganz Eurasien präsent, von Spanien bis nach China. Nach Homo sapiens ist Homo erectus die am weitesten verbreitete Menschenform aller Zeiten. Der vorläufige Endpunkt dieser Pionierkarriere wurde 2019 markiert: Bei einer Neudatierung der Fundstelle von Ngandong auf der indonesischen Insel Java fixierte eine Forschergruppe um Yan Rizal vom Institute of Technology in Bandung das letzte Auftreten in das Zeitfenster von 117 000 bis 108 000 Jahren vor heute.

Somit überspannt diese Art eine Ära von fast 1,9 Millionen Jahren. Das berechtigt zu einem weiteren Superlativ. Homo erectus ist mit Abstand die bislang erfolgreichste Spezies der Gattung Homo. Zum Vergleich: Den anatomisch modernen Menschen, die einzige heute noch existierende Menschenform unseres Planeten, gibt es seit gerade einmal 300 000 Jahren. So alt sind die frühesten Sapiens-Funde aus Djebel Irhoud in Marokko. Dennoch wirft Homo erectus, eigentlich ein gut bekannter Akteur der Humanevolution, immer noch große Fragen bei den Paläoanthropologen auf. In Anlehnung an den Philosophie-Bestseller von Richard David Precht könnte das größte Rätsel so lauten: »Wer war Homo erectus – und wenn ja, wie viele?«

Eine Art – viele Namen?

Seit mehr als einem Jahrhundert stoßen Forscher an diversen Fundstellen der Alten Welt auf fossile Schädelreste, die charakteristische Gemeinsamkeiten aufweisen: dickwandige Knochen, vorspringende Überaugenwülste, lang gezogene und niedrige Hirnschädel. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts begann sich die Sammelbezeichnung Homo erectus zu etablieren. Weil diese Schädel jedoch aus verschiedenen Zeiten und geografischen Zonen oft etwas unterschiedlich aussehen, erlagen einige Paläoanthropologen der Versuchung, separate Artnamen zu vergeben: Homo ergaster, Homo georgicus, Homo rhodesiensis, Homo heidelbergensis. Zwei wissenschaftliche Denkschulen liefern sich bis heute heiße Gefechte. Die so genannten »Lumper«, zu Deutsch »Zusammenwerfer«, tendieren dazu, ähnliche Überreste einer einzigen Gruppe zuzuordnen. Demgegenüber teilen die »Splitter« die Fossilfunde auf Grund anatomischer Merkmale in mehrere Arten auf. Genetisch lassen sich die Schädel- und Knochenreste nicht auswerten. Jedenfalls noch nicht. Das Erbgut von Homo erectus ist unbekannt, weil die Knochen schlicht zu alt sind oder in einer nicht genügend kalten Umgebung lagerten, als dass sich nachweisbare Genabschnitte hätten erhalten können.

»Ich denke, es macht keinen Sinn, die unterschiedlichen Populationen des Homo erectus als eigene Arten zu führen«, bricht Friedemann Schrenk eine Lanze für die Lumper. »Sie haben einen gemeinsamen Ursprung und sind durch ihre weltweit verbreitete Kultur verbunden. Das war einfach eine ungeheuer vielfältige Art, mit der höchsten Variabilität innerhalb sämtlicher Homininen.« Schrenk ist Professor für Paläobiologie der Wirbeltiere an der Goethe-Universität und Leiter der Sektion Paläoanthropologie am Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt am Main.

Technologien je nach Gebrauch

Das Staunen über die Uneinheitlichkeit des Homo erectus hat sich 2020 durch eine neue Studie in »Science Advances« weiter verstärkt: Offenbar war nicht nur die Schädelform dieser Frühmenschen sehr variabel, sondern auch ihr Verhalten – abzulesen an ihrer Werkzeugkultur. Zu dem Schluss kommen eine Forschergruppe um Sileshi Semaw vom Centro Nacional de Investigación sobre la Evolución Humana (CENIEH) im spanischen Burgos und Michael J. Rogers von der Southern Connecticut State University.

Kalotte | Der 1,5 bis 1,6 Millionen Jahre alte, fragmentierte Hirnschädel mit der Fachbezeichnung DAN 5 fand sich in Gona. Er gehörte zu einem vergleichsweise grazilen Homo erectus, womöglich einem weiblichen Individuum.

In der Region Gona im äthiopischen Afar-Dreieck, an den Fundstellen Busidima North und Dana Aoule North, stießen die Wissenschaftler auf je einen Schädelrest von Homo erectus: den 1,26 Millionen Jahre alten, stark fragmentierten Teil eines grobschlächtigen Schädeldachs, der nun die Fachbezeichnung BSN 12 trägt. Und einen eher grazilen, 1,5 bis 1,6 Millionen Jahre alten, fast vollständigen Hirnschädel. Die Anthropologen bezeichneten ihn als DAN 5. Nur selten entdecken Ausgräber an ein und derselben Fundstelle Fossilien und direkt damit vermengt Steinwerkzeuge. Hier hatten die Forscher gleich bei beiden Erectus-Funden dieses Glück: Sowohl Busidima North als auch Dana Aoule North lieferten eine reiche Ausbeute. Allerdings sind die Werkzeuge zwei unterschiedlichen Steintechnologien zuzuschreiben, dem Oldowan und dem Acheuléen. Das hätte nach der traditionellen Sichtweise nicht sein dürfen. »One species – one technology«, lautete bisher ein Mantra der Paläoanthropologen. »Eine Art – eine Technologie.«

Der unberechenbare Vorfahre

Bei den Oldowan- oder Mode-I-Werkzeugen handelt es sich um simple Geröllbrocken mit einer einzigen Schneidkante. Forscher ordneten sie bislang nur den frühesten Vertretern der Gattung Homo zu:

  • Homo rudolfensis – er lebte von vor 2,8 bis vor 1,8 Millionen Jahren,
  • Homo habilis – dieser Frühmensch lässt sich für die Zeit von vor 2,1 bis vor 1,5 Millionen Jahren nachweisen,
  • dem frühesten afrikanischen Homo erectus. Er erschien vor 2 bis 1,7 Millionen Jahren auf der Weltbühne. Manche Wissenschaftler bezeichnen ihn mit dem separaten Artnamen Homo ergaster, dem »arbeitenden Menschen«.

Vor 1,7 Millionen Jahren, so die bisherige Vorstellung, entwickelte Homo erectus die fortschrittlichere Acheuléen- oder Mode-II-Kultur. Hierzu zählen steinerne Hackmesser und Faustkeile mit beidseitig scharfen Kanten. Wo solche Werkzeuge ans Licht kamen, deuteten Forscher sie als Hinterlassenschaft des weiterentwickelten Homo erectus. Stieß man hingegen auf Mode-I-Geräte, galt als gewiss, dass diese Fundstelle dem frühen Homo zuzuordnen war.

Acheuléen-Werkzeuge | Die fünf Steingeräte, die jeweils von zwei Seiten abgelichtet wurden, stammen vom Fundort Dana Aoule North in der Region Gona in Äthiopien. Sie zählen zur Steintechnologie des Acheuléen und sind nicht älter als 1,6 Millionen Jahre.

Aus der Gona-Region ist bisher nicht das winzigste Fossil von älteren Homininen als Homo erectus bekannt. Und nun das – Mode-I- und Mode-II-Werkzeuge in ein und denselben Fundschichten mitsamt Erectus-Fossilien, die deutlich diesseits der 1,7-Millionen-Jahre-Zeitmarke liegen. »Die Mode-I-Technologie blieb offenbar die gesamte Altsteinzeit über in Gebrauch«, folgert Sileshi Semaw laut einer Pressemitteilung der Southern Connecticut State University. Michael J. Rogers betont: »Das widerspricht der einfachen Sichtweise, wonach einer Homininen-Spezies jeweils nur eine einzige Werkzeugtechnologie zuzuordnen ist. Die Evolutionsgeschichte des Menschen ist komplizierter.«

Oldowan-Werkzeuge | Auch diese Steingeräte fanden sich am Fundplatz Dana Aoule North. Sie sind einfacher gestaltet als die Achéuleen-Werkzeuge und ungefähr gleich alt, nicht mehr als 1,6 Millionen Jahre.

Homo erectus, der Unberechenbare, nutzte anscheinend beide Technologien parallel. Der Frühmensch reagierte damit wahrscheinlich flexibel auf seine aktuelle Situation – je nachdem, welche Rohmaterialien rund um seinen Wohnplatz verfügbar waren und wofür er das Werkzeug brauchte. Wer etwa die zähe Haut eines verendeten Elefanten aufschneiden will, tut sich mit einem »fortschrittlichen«, beidseitig scharfkantig zugehauenen Faustkeil leichter. Geht es indes nur darum, eine hartschalige Knolle aufzubrechen, genügen ein einfacher Abschlag von Geröll aus dem nahe gelegenen Flussbett und ein unbearbeiteter Hammerstein, um das faserige Innere der Knolle zu Mus zu stampfen.

Ein Unterschied wie Mann und Frau

Vielfalt herrscht ebenfalls bei den beiden Schädelfossilien. DAN 5 ist hinreichend gut erhalten, um auf das Gehirnvolumen schließen zu können: etwa 590 Kubikzentimeter. Damit ist dies der kleinste jemals in Afrika gefundene Homo-erectus-Schädel. BSN 12 hingegen ist viel größer und hat einen deutlich ausgeprägteren Überaugenwulst. »Wahrscheinlich war Homo erectus eine sexuell dimorphe Spezies«, nähren Semaw und Rogers einen schon von anderen Forschern gehegten Verdacht. Geschlechtsdimorphismus liegt vor, wenn männliche und weibliche Individuen derselben Art unterschiedlich aussehen. Damit sind Differenzen bezüglich Größe, Färbung oder Skelettbau gemeint. Bei Primaten ist dies sehr häufig der Fall. Allerdings: »Bis vor 15 Jahren dachten die Paläoanthropologen, Homo erectus sei der Erste in der Ahnenreihe des Menschen gewesen, bei dem der Sexualdimorphismus stark abgenommen hat«, sagen Semaw und Rogers auf Anfrage von »Spektrum Geschichte«. »Aber inzwischen liegen deutlich mehr Funde vor. Jetzt sieht es danach aus, dass die Geschlechter in ihrem Erscheinungsbild unterschiedlicher waren als früher vermutet.«

Die beiden Wissenschaftler erinnern an die weltberühmte Fundstelle von Dmanisi in Georgien. Dort kamen bei Grabungen seit 1991 fünf Schädel, rund 50 Skelett- und ein Hüftknochen ans Licht. Alle sind 1,8 Millionen Jahre alt und lagen auf engstem Raum beieinander. Die plausibelste Annahme dazu lautet: Diese Individuen gehörten derselben Spezies an. Umso frappierender ist daher, wie zusammengewürfelt die Schädel aussehen, mit Gehirnvolumina zwischen 546 und 775 Kubikzentimetern. Im Schnitt entspricht das dem Anderthalbfachen eines heutigen Schimpansen. Die Röhrenknochen lassen auf eine Größe von 1,4 bis 1,6 Metern schließen.

Somit hatten die Dmanisi-Homininen Körpermaße am unteren Rand dessen, was man Erwachsenen der Spezies Homo erectus zubilligt. »Das ist entweder eine sehr frühe Homo-erectus-Population, die sich im Kaukasus regional weiterentwickelt hat«, sagt Paläobiologe Friedemann Schrenk, »oder Homo rudolfensis hat sich schon vor mehr als zwei Millionen Jahren dorthin ausgebreitet.« Diese Art hatte ja bereits vor dem Homo erectus existiert.

Egal wie viel Zeit verstreicht, ein Hominine ist immer ein möglicher Sexualpartner

Viele Forscher halten die Dmanisi-Homininen für sehr frühe Individuen von Homo erectus. Dann würde die plausibelste Erklärung für deren enorme Größen- und Formunterschiede lauten: Die größeren waren männlich, die kleineren weiblich. Das dürfte auch im 6000 Kilometer südlich gelegenen heutigen Äthiopien so gewesen sein, argumentieren Sileshi Semaw und Michael J. Rogers: »Das ist derzeit die einfachste Erklärung.«

Gleichwohl räumen die beiden Forscher ein, dass dies nicht der einzige Grund für das unterschiedliche Aussehen von Homo erectus sein muss: »Die Gruppen waren weit verstreut, die Bevölkerungsdichte wahrscheinlich niedrig. Das begünstigte die Entwicklung regionaler anatomischer Varianten, als Folge von zeitweiser genetischer Isolation.« Wenn Gruppen immer wieder abgeschieden voneinander leben, sie sich also nicht vermischen und damit der Genaustausch unterbrochen wird, kann das mit der Zeit zu einer hochgradig vielgestaltigen Spezies führen. Genetiker sprechen dann vom »Gründereffekt«. Was ist damit gemeint? Gerade an den Rändern einer expandierenden Population erhalten sich oft primitivere Merkmale und seltenere Genvarianten. Im Stammland hingegen ist die Bevölkerung in aller Regel genetisch homogener und entwickelt Merkmale, die Anthropologen als moderner einstufen. Kommt es nach langer Isolation zu Kontakten zwischen den Gruppen, findet wieder Genfluss statt. »Selbst nach mehreren hunderttausend Jahren getrennter Entwicklung betrachten Homininen einander immer als mögliche Sexualpartner«, betonen Semaw und Rogers.

Die Nachfahren vermischen sich mit ihren Vorfahren

Zu solchen Kreuzungsereignissen ist es im Verlauf der Menschheitsgeschichte immer wieder gekommen. Genetiker haben im zurückliegenden Jahrzehnt Einsprengsel von Neandertalern und Denisovanern im Erbgut heute lebender Menschen nachgewiesen, die von Vermischungen vor 45 000 bis 65 000 Jahren stammen. Sogar 400 000 Jahre zurückreichende Kreuzungsspuren haben Genetiker um Kay Prüfer und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig 2013 identifiziert. Es handelt sich um DNA-Bausteine von sehr archaischen Homininen, die sich vor mehr als einer Million Jahren von den gemeinsamen Vorfahren des modernen Menschen, des Neandertalers und des Denisovaners abgespalten hatten. Als wahrscheinlichster Kandidat dafür gilt eine der diversen Populationen von Homo erectus. Denisovaner, Neandertaler und anatomisch moderne Menschen waren letztlich allesamt Nachfahren des Homo erectus.

Weitere Hinweise verdichten das Bild einer Gattung Homo, die im Lauf ihrer Entwicklung immer wieder mit so genannten »Superarchaics« sexuelle Kontakte hatte. Diese sehr frühen »ghost populations« sind ausschließlich genetisch fassbar, das heißt, ihnen lassen sich noch keine Fossilien zuordnen. Im Februar 2020 veröffentlichte der Populationsgenetiker Alan R. Rogers von der University of Utah molekulargenetische Indizien, wonach die gemeinsamen Vorfahren von Neandertalern und Denisovanern sich vor etwa 700 000 Jahren mit einer superarchaischen Menschenform kreuzten – wahrscheinlich irgendwo in Eurasien. Er schätzt, dass sich die beiden Linien zu diesem Zeitpunkt bereits 1,2 Millionen Jahre lang getrennt voneinander entwickelt hatten. Die superarchaische Population stammte womöglich von den Erstankömmlingen in Eurasien ab, die vermutlich vor 1,9 Millionen Jahren den Kontinent betreten hatten.

Typisch Homo erectus | Paläoanthropologen ordnen Fossilfunde meist anhand anatomischer Merkmale einer bestimmten Spezies zu. Am rund 1,6 Millionen Jahre alten Schädel KNM-ER 3733 aus der Fundregion Koobi Fora in Kenia sind charakteristische Merkmale von Homo erectus zu sehen.

Ebenfalls im Februar 2020 berichteten die Genetiker Arun Durvasula und Sriram Sankararaman von der University of California in Los Angeles, sie seien bei einigen westafrikanischen Bevölkerungen – etwa den Yoruba in Nigeria und den Mende in Sierra Leone – auf extrem alte DNA-Varianten gestoßen. Diese gehen auf eine Vermischung mit einer sehr ursprünglichen Homininenform zurück, so die Vermutung der Forscher. Sie errechneten, dass diese Linie sich vor rund einer Million Jahren von den Vorfahren des modernen Homo sapiens abgespalten habe. Beide Male liegt es nahe, erneut auf Kreuzungen mit Homo-erectus-Populationen beziehungsweise Mischbevölkerungen zu schließen – im ersten Fall mit einer eurasischen Gruppe, im zweiten Fall mit einer afrikanischen.

Der herkömmliche Artbegriff verschwimmt

Eine biologische Spezies ist eine geschlossene Fortpflanzungsgemeinschaft, deren Mitglieder miteinander fruchtbare Nachkommen zeugen können. Von anderen Arten ist diese Gemeinschaft durch eine Artengrenze getrennt. So lautet die traditionelle Definition für eine Spezies. Bei den Homininen konnte sich aber anscheinend selbst nach Äonen der geografischen Isolation jeder mit jedem kreuzen. Hat es da noch Sinn, Etiketten mit Namen à la »Homo XY« auf Knochen zu kleben?

Der herkömmliche Artbegriff verschwimmt mehr und mehr ins Nebulöse. Jean-Jacques Hublin, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, kennt dieses Dilemma zur Genüge. Schon 2014 schrieb er in einem Beitrag für die Fachzeitschrift »Current Biology« mit Blick auf Homo erectus: »Das ist die Herausforderung für die Paläoanthropologen. Sie versuchen, phänotypisch (anhand ihres äußeren Erscheinungsbilds) unterschiedlichen Populationen durch Zeit und Raum zu folgen, noch bevor diese schließlich zu separaten Arten werden.« Wie der biologische Artbegriff habe auch das Konzept der paläontologischen Art – die Definition zusammengehöriger Gruppen auf Grund von gemeinsamen morphologischen oder genetischen Merkmalen – offensichtlich Grenzen, räumt der Leipziger Wissenschaftler ein. »Aber ich sehe gegenwärtig keinen anderen Weg, mit den Fossilienfunden umzugehen. Wir sollten uns lediglich immer bewusst sein, dass wir nie mehr als einen kleinen Ausschnitt aus der einstigen Vielfalt des Lebens sehen«, unterstreicht Hublin.

Und er hat ein Trostwort für alle bereit, die sich auch künftig mit dem so vielgestaltigen Homo erectus herumschlagen wollen: »Die Natur hat es denen, die werdenden Spezies mitten in ihrer Entwicklung zusehen wollen, nun mal nicht leicht gemacht.«

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