Sensationelle Entdeckung: Homo naledi - eine neue Frühmenschenart
Es war der ergiebigste Fund frühmenschlicher Fossilien, den Forscher je verzeichneten. Im verwinkelten Rising-Star-Höhlensystem in Südafrika stießen Hobbyforscher im Jahr 2013 auf zahllose verstreute Knochen, die sich in einer Kammer häuften. In Windeseile trommelte der Paläoanthropologe Lee Berger von der University of the Witwatersrand eine Expedition zusammen. Nur besonders zierliche Forscherinnen konnten durch die rund 20 Zentimeter breite Lücke schlüpfen, die Zutritt zu den Funden gewährte.
Rund 1550 Knochenfragmente förderten sie damals ans Tageslicht – dann hüllten sie sich in Schweigen. Wenig bis gar nichts erfuhr die Öffentlichkeit über den Schatz aus der Tiefe, während die Auswertung lief. Erst jetzt präsentiert Berger gemeinsam mit einem vielköpfigen internationalen Forscherteam die Resultate.
Das Ergebnis ihrer Analyse [Studie 1, Studie 2]: Alle Knochen gehören wohl zu Individuen einer einzigen, bislang unbekannten Frühmenschenart, der sie nun den Namen Homo naledi gaben. Benannt ist sie nach dem Sesotho-Wort für "Stern". Die Höhlenkammer selbst tauften sie Dinaledi. Von mindestens 15 Individuen seien Überreste erhalten – damit ist die neue Art gleich um ein Vielfaches besser belegt als sämtliche anderen frühen Angehörigen unseres Stammbaums. Schließlich finden Forscher oft kaum mehr als ein paar einzelne Fragmente.
Doch trotz dieser Fülle an Informationen blieben noch viele Rätsel offen, urteilt Chris Stringer vom Natural History Museum in London in seinem passend betitelten Begleitkommentar "The many mysteries of Homo naledi".
Ein einzigartiges "Mosaik" von Merkmalen
Der Auswertung der Forscher ist zu entnehmen, dass es sich um einen noch recht urtümlichen Vertreter der Gattung Homo handelt. Vor allem fällt auf, dass der zierliche H. naledi auf Grund seiner teils noch sehr archaischen, teils sehr modernen Merkmale wie ein evolutionäres "Mosaik" wirkt. So hatten Vertreter der Art offenbar recht menschenähnliche Füße, aber ihr Gehirn erinnert in seiner geringen Größe eher an Australopithecinen – es hat gerade einmal das Volumen einer Orange und liegt damit außerhalb der Spannbreite, die von frühen ostafrikanischen Vertretern der Gattung Homo bekannt ist, wie etwa dem Homo habilis oder dem Homo rudolfensis.
"Das ist eine höchst seltsame Kombination von Merkmalen"John Hawks
In seinem zierlichen Gebiss unterscheidet sich H. naledi von anderen Australopithecinen und dem robusten Paranthropus. Anders als Letzterer war er demnach wohl weniger auf zähe Pflanzen und Nüsse spezialisiert. Stattdessen bevorzugte er vermutlich genau wie alle späteren Angehörigen der Gattung Homo eine leichtere und vermutlich auch nahrhaftere Kost.
Auch die Hände und Handgelenke wirken modern, die gebogenen Finger dagegen erinnern an nichtmenschliche Primaten und könnten, ebenso wie seine Schultern, dem rund 1,50 Meter großen und 40 bis 50 Kilogramm schweren Frühmenschen beim Baumklettern geholfen haben. Genauso gut könnte seine moderne Hand ihm allerdings auch den Werkzeuggebrauch ermöglicht haben, erklärt Tracy Kivell vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, die die Handknochenfossilien eingehend studiert hat. Einen ganz ähnlichen Merkmalsmix beobachteten Forscher jüngst an Australopithecus sediba, der ebenfalls von Berger in Malapa unweit des Rising-Star-Höhlensystems gefunden wurde.
Hände zum Klettern – und Halten von Werkzeugen?
"Das ist eine höchst seltsame Kombination von Merkmalen, einige davon haben wir nie zuvor gesehen, und von anderen hätten wir nie erwartet, dass wir sie einmal beieinander finden", erklärt daher auch Teammitglied John Hawks von der University of Wisconsin in Madison. Der Forscher war maßgeblich an der Organisation der Untersuchung beteiligt.
Die Vielfalt an Ausprägungen geht so weit, dass sich längst nicht alle Forscher der Interpretation von Berger und Kollegen anschließen mögen. So etwa der Evolutionsbiologe Jeffrey Schwartz von der University of Pittsburgh in Pennsylvania, der im Magazin "Nature" erklärt, die Funde seien zu verschiedenartig, um zu einer einzelnen Spezies zu gehören. Zweifel an der Einstufung als Homo – und nicht etwa als Australopithecus – wurden allerdings bislang nicht laut. Dabei ist diese Einsortierung häufig der umstrittenste Knackpunkt bei der Beschreibung neuer Fossilfunde.
Unklar bleibt bei alldem freilich auch, welche verwandtschaftliche Verbindung der Neufund zu anderen Hominiden, etwa dem Homo habilis oder dem Homo ergaster, aufweist. Zum jetzigen Zeitpunkt dürften wohl nur wenige Forscher in dieser Art einen direkten Vorläufer des modernen Menschen sehen – an welcher Stelle sich sein Ast von der Hauptlinie abspaltete, ist unbekannt.
Größtes Fragezeichen: Das Alter
Überhaupt enden seine Mysterien längst nicht bei der Anatomie. Eine der größten bislang ungelösten Fragen betrifft das Alter der Funde. Die Wissenschaftler des Berger-Teams haben noch keinen Versuch unternommen, die Fossilien zu datieren – nicht einmal eine grobe zeitliche Einordnung sei vorgenommen worden, kritisiert Stringer erkennbar verwundert in seinem Kommentar. Das erschwere jegliche weiter gehende Interpretation. Es könnte durchaus sein, dass die Funde ein sehr hohes Alter von über zwei Millionen Jahren aufweisen. Dann würden sie aus der Frühzeit der Homo-Entwicklung stammen und aufschlussreiche Einblicke in die kritische Phase der Herausbildung unserer Gattung geben. Hier stünde etwa die Frage im Raum, ob die entscheidenden Schritte der Menschwerdung nicht wie lange angenommen in Ostafrika, sondern im Süden des Kontinents abliefen.
Sind sie dagegen deutlich jünger, könnten es die Wissenschaftler mit einem ähnlichen Phänomen wie beim (nicht minder rätselhaften)Homo floresiensis zu tun haben. Nach Meinung mancher Forscher handelt es sich bei dieser Art um eine verzwergte Form des Homo erectus, die auf der Insel Flores beheimatet war und bis in jüngste Zeit überlebte. Kam es im Süden Afrikas zu einem ähnlichen Effekt? Freilich sind bislang außerhalb der Rising-Star-Höhle keine weiteren Funde von H. naledi bekannt, die klären könnten, ob es sich bei den Individuen aus der Dinaledi-Kammer um Angehörige einer isolierten Population handelte – oder ob die Art stattdessen sogar weit verbreitet war.
Auszuschließen ist Letzteres jedenfalls nicht. Jüngst gab es in Forscherkreisen viel Verwunderung über rund 1,8 Millionen Jahre alte Homo-erectus-Funde aus dem georgischen Dmanisi. Die fünf dort über einen längeren Zeitraum ausgegrabenen Individuen wirken teils recht urtümlich und weisen insgesamt eine große Merkmalsvielfalt auf. Laut Stringer erinnert H. naledi am ehesten an die grazilen Individuen aus dem georgischen Fund. Am Ende könnten die Dinaledi-Funde sogar in einem Zusammenhang zu einer über die Grenzen Afrikas hinaus verbreiteten Menschenart stehen.
Anzeichen für eine absichtliche Bestattung?
Fast noch größer ist das Rätselraten bei der Frage, wie die Homo-naledi-Individuen so geschlossen ihren Weg in die Kammer fanden. Das Team um Berger hat verschiedene Szenarien dazu durchgespielt – nur eines konnte sie überzeugen: Die Frühmenschen scheinen in irgendeiner Form absichtlich dorthin gebracht worden sein. Es könnte sich mithin um den bislang frühesten Beleg für Bestattungen handeln. Die Verhältnisse ähneln denen der Sima de los Huesos im spanischen Atapuerca, wo zahlreiche Angehörige der Art Homo heidelbergensis offenbar von ihren Artgenossen in eine unzugängliche Grube geworfen wurden.
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Die Dinaledi-Kammer befindet sich ungefähr 80 Meter vom Eingang der Rising-Star-Höhle entfernt und hatte nie einen direkten Zugang zur Außenwelt. Zudem fanden die Ausgräber ausschließlich die menschlichen Fossilien, von einigen Kleintieren abgesehen. Es scheint sich daher nicht um den einstigen Bau eines Raubtiers zu handeln, das seine hominine Beute dort versteckte – zudem fanden sich keine typischen Biss- und Verletzungsspuren. Auch die Interpretation als "Wohnhöhle" des H. naledi komme nicht in Betracht.
"Nachdem wir alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hatten, blieb uns als plausibelste Variante nur die bewusste Beseitigung der Toten durch Homo naledi", fasst Berger zusammen. Das allerdings wäre eine beachtliche kognitive Leistung für einen frühen Menschen mit einem Gehirn, das in der Größe dem eines Gorillas entspricht. Ein derartiges Verhalten ist eigentlich nur für Homo sapiens typisch – und außerhalb des Funds in der Sima de los Huesos für keine andere Art wirklich eindeutig belegt.
Umfassende Artikelserie geplant
Um die 1550 Einzelfunde auszuwerten, hatte Berger per Aufruf in den sozialen Medien ein 30-köpfiges Team junger Wissenschaftler zusammengestellt, das in einem einmonatigen Intensivworkshop mit der Analyse der Knochen begann. In rund einem Dutzend Fachartikel sollen in nächster Zeit die Ergebnisse der Fachwelt präsentiert werden. Die beiden aktuellen Paper machen den Anfang und widmen sich der Anatomie und allgemeinen Beschreibung sowie dem Fundkontext.
Gleichzeitig wollen die Anthropologen 3-D-Scans der Knochen in eine frei zugängliche Datenbank laden. Forscher aus aller Welt können dadurch selbst einen Blick auf die Knochen werfen und sich vielleicht sogar einen eigenen Reim auf den wohl ungewöhnlichsten Fund der letzten Jahrzehnte machen.
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