Direkt zum Inhalt

Kosmologie: Hubbles Konstante wird immer rätselhafter

Zwei Forscherteams sind sich weiterhin uneins über eine der wichtigsten Messgrößen der Kosmologie. Läuft die Diskrepanz auf eine Revolution unseres Weltbilds hinaus?
Große Magellansche Wolke

Das Universum expandiert, aber wie schnell genau? Die Frage hat in den vergangenen 100 Jahren immer wieder für Streit gesorgt. Seit einigen Jahren rätseln Wissenschaftler erneut über den Wert der maßgeblichen Größe: der so genannten Hubble-Konstante.

Die Streitigkeiten in den 1980er und 1990er Jahren waren von einem Konkurrenzkampf der damals führenden wissenschaftlichen Autoritäten geprägt. Heute geht es weniger ums Recht haben. Vielmehr vermuten immer mehr Forscher, dass sich hinter einer kleinen Diskrepanz zweier Messmethoden eine fundamentale neue Erkenntnis über die Natur des Universums verbergen könnte. Stehen wir vor einer kosmologischen Revolution?

Die Hubble-Konstante beschreibt, wie schnell der Raum durch die Expansion des Universums gestreckt wird. Sie verdankt ihren Namen einer Beziehung zwischen Geschwindigkeit und Abstand, dem so genannten Hubble-Gesetz. Sein Name geht auf den US-Astronomen Edwin Hubble zurück. In den 1920er Jahren haben jedoch auch andere Forscher an der Etablierung des Hubble-Gesetzes mitgewirkt, etwa der belgische Priester Georges Lemaitre.

Wie schnell wächst das All in unserer Nachbarschaft?

Die Hubble-Konstante ist der Spezialfall des Hubble-Lemaitre-Gesetzes für unser lokales Universum. Sie gibt an, wie sich die Ausdehnungsgeschwindigkeit rund um unsere Heimatgalaxie mit dem Abstand verändert. Dabei wird die Konstante in der Masseinheit Kilometer pro Sekunde und Megaparsec angegeben: Ein Megaparsec entspricht einer Entfernung von etwa 3,3 Millionen Lichtjahren. Beträgt der Wert der Hubble-Konstante beispielsweise 100 Kilometer pro Sekunde und Megaparsec (km/s/Mpc), dann entfernt sich eine 3,3 Millionen Lichtjahre entfernte Galaxie in jeder Sekunde um 100 Kilometer von uns, ein 6,6 Millionen Lichtjahre entferntes Objekt hingegen doppelt so schnell.

Die Erkenntnis, dass der Raum zwischen den Galaxien aufgeht wie der Hefeteig im Backofen, war eine der revolutionärsten wissenschaftlichen Durchbrüche des 20. Jahrhunderts. Sie legte den Grundstein für die Urknalltheorie, also der Vorstellung, dass unser Kosmos nicht seit Ewigkeiten existiert, sondern seinen Anfang in einem unendlich heißen und dichten Urzustand genommen hat.

Seit dem Urknall streben alle Teile des Universums voneinander fort – für den heutigen Kosmos in Zahlen beschrieben durch die Hubble-Konstante. Eine Unterscheidung ist dabei wichtig: Die Expansionsgeschwindigkeit hat nichts mit den Bewegungen von Galaxien im Raum zu tun, sondern drückt eine davon unabhängige Eigenschaft des Raums aus.

Das kosmologische Standardmodell könnte an einem entscheidenden Punkt falsch sein

Edwin Hubble selbst ermittelte einen Wert von 500 km/s/Mpc, spätere Messungen korrigierten den Wert auf unter 100. Bis in die späten 1990er Jahre drehte sich der Streit der Gelehrten darum, ob 100 oder doch eher 50 km/s/Mpc der Wahrheit näher kommen. Die Diskrepanz war enorm, eine Lösung des Streits lange Zeit nicht in Sicht. Erst in den späten 1990er Jahren zeigten Messungen mit Hilfe des Hubble-Weltraumteleskops, dass beide Gruppen falsch lagen: Hubble, das Teleskop, fand einen Wert von 72, bei einer Messungenauigkeit von elf Prozent.

Seither haben Astronomen viel Mühe darauf verwendet, die Ungenauigkeit dieser Messung weiter zu reduzieren. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Anstrengungen hat nun ein Team um Adam Riess von der Johns Hopkins University in Baltimore präsentiert. Der Wert der Hubble-Konstante liegt demnach bei 74 km/s/Mpc, bei einer Unsicherheit von nur noch 1,9 Prozent. Das Team ist zuversichtlich, dass die Genauigkeit der Messungen noch auf ein Prozent verbessert werden kann.

Drei Schritte zur Hubble-Konstante | Eine der Methoden zur Bestimmung der Ausdehnungsgeschwindigkeit des Alls basiert auf der so genannten Entfernungsleiter: Zunächst messen die Forscher die Entfernung vergleichsweise naher Riesensterne, der so genannten Cepheiden. Dann orten sie diesen Sterntyp in weiter entfernten Galaxien und kalibrieren damit deren Entfernung. Schließlich können sie Supernova-Explosionen in noch weiter entfernten Galaxien aufspüren und auf Basis der unteren Sprosse der Leiter deren Entfernung exakt bestimmen.

Doch damit beginnen die Probleme. Die Resultate des Nobelpreisträgers Riess sind nun so genau, dass sie unübersehbar im Konflikt zu einer anderen prominenten Messung der Hubble-Konstante stehen. Die Rede ist vom europäischen Satelliten Planck. Zwischen 2009 und 2013 hat dieser mit nie dagewesener Genauigkeit den kosmischen Mikrowellenhintergrund vermessen, also die Reststrahlung des einst heißen Urknalls, die vor rund 13,8 Milliarden Jahren freigesetzt wurde, nur 380 000 Jahre nach der Entstehung unseres Universums.

Diese Strahlung hat sich im Lauf der Zeit auf drei Grad über dem absoluten Nullpunkt abgekühlt, ist aber nach wie vor als schwaches Echo im Radiowellenlängenbereich vorhanden und überall am Nachthimmel messbar. Aus ihren genauen Eigenschaften lassen sich grundlegende Eigenschaften des Universums ableiten, darunter die Hubble-Konstante. Für sie fanden die Planck-Forscher einen Wert von 67 km/s/Mpc – zehn Prozent weniger als der mit dem Hubble-Teleskop ermittelte Wert.

Die Sprossen der Entfernungsleiter

Die beiden Messungen sind voneinander unabhängig, und genau das macht die fehlende Übereinstimmung möglicherweise bedeutsam. Riess und seine Kollegen ermitteln die Hubble-Konstante mit einer Methode, die auch schon die Astronomen der 1920er Jahre anwandten: Sie messen die Entfernung von Himmelsobjekten, in diesem Fall die von fernen Galaxien, und bestimmen außerdem die Geschwindigkeit, mit denen sie von uns fortdriften. Trägt man diese Messdaten gegeneinander in einem Diagramm auf, ergibt sich eine Gerade, deren Steigung eine Geschwindigkeit ist: Die Expansionsrate des heutigen Universums, also die Hubble-Konstante.

Das Verfahren klingt einfach, aber der Teufel steckt im Detail. Nahe Galaxien eignen sich nicht für diese Methode, denn ihre Eigenbewegung im Raum ist meist schneller als die Ausdehnung des Alls. Erst bei sehr weit entfernten Objekten dominiert die kosmische Expansion. Je weiter weg eine Galaxie ist, desto komplizierter ist es allerdings, ihre Entfernung zu messen. Die Geschwindigkeit lässt sich im Vergleich dazu recht genau aus der Rotverschiebung des Lichtspektrums der Galaxien bestimmen.

Für die Entfernungsmessung nutzen Astronomen eine ganze Abfolge von Messungen, die als »kosmische Entfernungsleiter« bekannt ist. Dabei baut jede einzelne Methode, jede »Sprosse« der Leiter, auf der jeweils vorangehenden auf. Die unterste Sprosse basiert auf der Triangulation naher Sterne. Höhere Sprossen nehmen hingegen stets gleich ablaufende Supernova-Explosionen zu Hilfe oder pulsierende Riesensterne, so genannte Cepheiden, bei denen sich die Entfernung aus der Lichtkurve rekonstruieren lässt.

Die Unsicherheiten jeder Sprosse addieren sich dabei, so dass die Entfernungen weit entfernter Objekte stets mit systematischen Unsicherheiten behaftet sind. Mittlerweile haben Astronomen bedeutende Fortschritte gemacht und glauben, alle Sprossen der Entfernungsleiter gut verstanden zu haben.

Die Arbeit von Riess und seinen Kollegen ist die bisherige Krönung dieser Arbeiten: Mit Hilfe von Cepheiden in der Großen Magellanschen Wolke habe man den Fehler der Entfernungsleitermethode noch einmal um 0,5 Prozent gesenkt, schreiben die Forscher im »Astrophysical Journal«. Nun sei man bei 1,9 Prozent Fehlergröße. Damit gilt der von Riess und seinen Kollegen gefundene Wert von 74 km/s/Mpc als gut etabliert – und die Diskrepanz zur Planck-Messung wirkt noch frappierender.

Das Resultat des ESA-Satelliten beruht auf einem ganz anderen Prinzip. Die Strahlung des Mikrowellenhintergrunds bietet keine Möglichkeit, die Hubble-Konstante direkt zu messen. Stattdessen lassen sich aus den ultrafeinen Temperaturschwankungen der Strahlung und unter Annahme eines bestimmten kosmologischen Modells die Eigenschaften des heutigen Kosmos rekonstruieren – darunter auch die Hubble-Konstante. Im weithin akzeptierten kosmologischen Standardmodell ist etwa festgelegt, wie groß der Anteil der Dunklen Materie und der Dunklen Energie sind, die, so glauben die Kosmologen, die Entwicklung des Universums entscheidend beeinflussen.

Wenn das Standardmodell das Universum korrekt beschreibt, dann sollte die aus ihm über die Planck-Messung ermittelte Hubble-Konstante mit der direkt gemessenen übereinstimmten. Doch das tut sie nicht. Dabei gilt die Messung auf Basis der Hintergrundstrahlung mittlerweile als so genau, dass sie nur noch mit einem Fehler im Prozentbereich behaftet ist. Systematische oder statistische Messfehler können die Differenz zur Messung von Riess und Kollegen nicht wirklich erklären.

Zu allem Überfluss ist es auch so, dass sich hier nicht bloß zwei Forscherteams gegenüberstehen: Sowohl der Wert des Planck-Teams als auch der von Adam Riess und Kollegen wird von anderen Gruppen und anderen Messungen gestützt. So kommt etwa der Vergleich großräumiger Strukturen im heutigen Weltall mit den Dichtemustern in der kosmischen Hintergrundstrahlung zu einem ähnlichen Ergebnis wie das Planck-Team. Für die Entfernungsleitermethode sprechen hingegen unter anderem durch Gravitationslinsen betrachtete Quasare, auch wenn hier die Messunsicherheit noch etwas größer ist.

Messfehler oder neue Physik?

Insgesamt halten es immer mehr Wissenschaftler für möglich, dass niemand einen Fehler gemacht hat und beide Lager Recht haben. Das kosmologische Standardmodell wäre dann an einem entscheidenden Punkt falsch oder zumindest unvollständig. In diesem Fall wäre die Entwicklung des Universums vom Urknall bis heute etwas anders abgelaufen. So könnte zum Beispiel die Dunkle Materie etwas andere Eigenschaften haben als vermutet. Auch eine zusätzliche Art Neutrinos könnte verantwortlich sein. Beides könnte die Entwicklung des frühen Universums beeinflusst haben und zu einem anderen Wert der Hubble-Konstanten aus der Mikrowellenhintergrundstrahlung führen. Leider vermag bislang keine dieser Ideen alle Beobachtungen widerspruchsfrei zu erklären.

Das Team um Riess macht sich daher nun für eine andere Erklärung stark: Die rätselhafte Dunkle Energie, die das Weltall laufend auseinanderdrückt, könnte sich mit der Zeit verändert haben. Im kosmologischen Standardmodell tritt die rätselhafte Antischwerkraft eigentlich als Konstante auf. Diesem Bild zufolge handelt es sich um eine mit dem Vakuum verschweißte Energieform, deren Dichte pro Raumvolumen stets gleich groß ist.

In den vergangenen Jahren diskutieren Wissenschaftler mit wachsendem Ernst das Szenario, dass diese Dichte mit der Zeit geschwankt haben könnte. Riess und sein Team spekulieren nun über drei verschiedene Phasen, die es seit dem Urknall gegeben haben könnte. In der Kinderstube des Alls könnte die Dunkle Energie demnach für einen ungewöhnlich starken Schub gesorgt haben, was die Diskrepanz der Hubble-Werte laut Riess erklären würde.

Sollte sich dieser Verdacht erhärten, wäre es nicht das erste Mal, dass genauere Beobachtungen zu einer radikalen Umwälzung der Kosmologie führen. Schon die Entdeckung der Dunklen Energie im Jahr 1998 markierte eine Zeitenwende, Gleiches galt für die Entdeckung der Expansion des Alls in den 1920er Jahren.

Sind die Messungen wirklich vergleichbar?

Aus Sicht vieler Astrophysiker ist es noch zu früh, erneut eine Revolution auszurufen. Schließlich dürfe man nicht vergessen, dass die beiden Messmethoden zur Hubble-Konstante zwei sehr verschiedene Zustände des Kosmos betrachten: Die Entfernungsleitermethode betrachtet das heutige Weltall und misst dessen momentane Expansionsrate. Sie beschränkt sich dabei auf einen vergleichsweise kleinen, »lokalen« Teil des Kosmos.

Der Mikrowellenhintergrund hingegen stammt aus einer Zeit, als das Universum gerade einmal 380 000 Jahre alt war und statt aus Galaxien nur aus Gas und Strahlung bestand. Bei der Analyse dieser Strahlung am heutigen Nachthimmel hat Planck also Strahlung im Blick, die sehr weit gereist ist und alle Epochen des Alls miterlebt hat. Sowohl in zeitlicher als auch räumlicher Dimension sind die beiden Messungen also nicht direkt vergleichbar.

Tatsächlich gehen Kosmologen davon aus, dass sich die Hubble-Konstante im Lauf der kosmischen Entwicklung verändert hat: einerseits durch die bremsende Wirkung der sich gegenseitig anziehenden Materie, die gerade anfangs dominierte, andererseits durch die Wirkung der Dunklen Energie, die das All mit wachsendem Abstand zwischen den Galaxien immer stärker auseinandertreibt – auch dann, wenn ihre Dichte wie vom kosmologischen Standardmodell vorhergesagt konstant sein sollte.

Die erwähnte Gerade in Hubbles Diagramm wird deshalb zur Kurve, wenn man nur weit genug entfernte Galaxien hinzunimmt und damit weit in die Vergangenheit des Kosmos zurückblickt. Außerdem halten es Astrophysiker für möglich, dass sich Teile des Kosmos mit unterschiedlichen Raten ausdehnen: Ob unser Teil des Alls ein repräsentatives Beispiel für den Rest des Universums darstellt, ist alles andere als gesichert.

Vielleicht wäre es für die Kosmologie das Beste, wenn sich die neue Kontroverse um die Hubble-Konstante nicht durch eine einfache Justierung des kosmologischen Standardmodells lösen ließe. Denn so elegant das Modell ist – was sich hinter der Dunklen Materie und Dunklen Energie verbirgt, kann es nicht erklären.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.