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Hypochondrie: Ich glaub, ich hab da was

Leichtes Taubheitsgefühl? Gewiss ein Schlaganfall! Gelbliche Haut? Hilfe, die Leber! Hypochonder fürchten sich übertrieben vor schweren Erkrankungen. Das Gute: Eine Therapie hilft.
Ein Mann liegt verängstigt im Bett.

Da ist es wieder: dieses leichte Kratzen im Hals. Ist es warm hier, oder liegt das an mir? Fühl mal meine Stirn! Viele Menschen achten derzeit besonders auf Veränderungen in ihrem Körper und haben schon bei einem Wehwehchen ein mulmiges Gefühl. Denn was sonst eine Erkältung ankündigt, könnte im Jahr 2020 ein Indiz für eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung sein – Covid-19. Derlei Beunruhigung lässt ansatzweise nachempfinden, wie es manchen Menschen ständig geht: Für 4 von 1000 Personen in Deutschland ist Todesangst nämlich ein täglicher Begleiter. Sie sind Hypochonder und leben in andauernder Sorge vor Keimen und tödlichen Krankheiten.

Bis zu 13 Prozent der Bevölkerung erfüllen zwar nicht das Vollbild einer hypochondrischen Störung, die Betroffenen haben jedoch regelmäßig belastende Krankheitsängste. Bei den meisten kommen sie zumindest hin und wieder vor. Erst wenn die Furcht vor einem schweren Gebrechen das Leben stark einschränkt, spricht man von einer Störung. Diese tritt häufig im jungen und mittleren Erwachsenenalter erstmals auf und ist ohne Behandlung äußerst hartnäckig.

Die Betroffenen beschäftigen sich übermäßig mit ihrer Gesundheit. Körperliche Symptome wie Herzrasen, Schwindel oder Bauchschmerzen deuten sie als Zeichen für eine schwere und lebensbedrohliche Krankheit. Sie fürchten Krebs, Herzinfarkte, neurologische Erkrankungen wie Parkinson und gelegentlich schwere psychische Störungen wie Schizophrenie. Viele suchen ihren Körper regelmäßig nach Hinweisen ab und konsultieren sehr häufig eine Ärztin oder einen Arzt – durchschnittlich 20-mal pro Jahr. Findet sie oder er nichts, was die Symptome erklärt, wird oft ein anderer Arzt zu Rate gezogen. Dieses Phänomen ist als »Doctor Hopping« bekannt. Doch das gilt nicht für alle Betroffenen: Bei manchen ist die Angst so groß, dass sie den Gang in die Praxis scheuen.

Hypochonder achten stark auf sich und sorgen so oft für mehr Sorgen

Sebastian Kraemer war ständiger Gast bei seiner Hausärztin. Der heute 40-Jährige litt während des Studiums unter Schwindel, Zittern, Muskelzuckungen und dem quälenden Gedanken: Ich muss schwer krank sein. Hinter einem leichten Taubheitsgefühl vermutete er direkt einen Schlaganfall. Sah seine Haut im Spiegel seltsam gelblich aus, war das – ganz klar – die Leber. Zeigte die Waage plötzlich zehn Kilo weniger an, konnte dies nur eines bedeuten: Krebs. »Dass es einfache Erklärungen wie eine fahle Beleuchtung oder eine kaputte Waage gab, kam mir damals nicht in den Sinn«, sagt Kraemer. »Ich dachte sofort an das Schlimmste.«

»Man kann online Stunden mit der Suche nach Informationen verbringen«
Sebastian Kraemer, ein Betroffener

Betroffene wie Kraemer horchen nicht nur extrem aufmerksam in ihren Körper hinein, sie achten auch sehr stark auf krankheitsbezogene Informationen von außen und suchen sie sogar gezielt. Recherchierte Kraemer im Internet ein Symptom, das ihn gerade beschäftigte, stieß er früher oder später immer auf einen Tumor oder eine andere gefährliche Krankheit, die dahinterstecken könnte. »Man kann online Stunden mit der Suche nach Informationen verbringen«, erzählt er. Die Medien haben dafür den Begriff »Cyberchondrie« geprägt. Studien zeigen, dass die Internetrecherche die Angstspirale potenziell weiter antreibt. Sie scheint aber weniger Auslöser für die Störung als Ausdruck und Verstärker bereits vorhandener Tendenzen zu sein.

Dass Hypochonder teils exzessiv Symptome googeln, ihren Körper nach Anomalien abscannen und regelmäßig in der Notaufnahme stehen, führt in Fachkreisen zu einer angeregten Debatte: Handelt es sich wirklich um eine Angststörung oder vielmehr um einen Zwang? In der überarbeiteten Version des offiziellen Diagnosekatalogs der Krankheiten (ICD-11) entschieden die Fachleute sich für die Klassifikation als Zwangsstörung.

Auch bei Zwangserkrankungen spielt Angst eine entscheidende Rolle. Eine schlimme Befürchtung wie etwa die, das Haus könnte abbrennen, beschäftigt die Betroffenen. Der Unterschied: Um die Angst vor der Katastrophe zu mildern, führen Zwangserkrankte immer wieder Zeit raubende Rituale durch – kontrollieren beispielsweise wiederholt, ob der Herd ausgeschaltet ist, bevor sie das Haus verlassen. Die Krankheitsangst führt ebenfalls zu typischen Versuchen, die Angst in Schach zu halten. Bloß dauert die Erleichterung nicht lange an. Kurze Zeit nach dem Arztbesuch kommen erneut Zweifel auf, und der Teufelskreis beginnt von vorn.

Krank werden erscheint gleichzeitig wahrscheinlich und katastrophal

Oft haben Menschen mit einer hypochondrischen Störung eine starre Vorstellung davon, was es heißt, gesund zu sein. Jede alltägliche Missempfindung, jedes Knirschen im Getriebe aus Muskeln, Knochen und Organen interpretieren sie daher als klares Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. Unerklärte Körpersymptome kommen jedoch sehr häufig vor. Bei mehr als einem Drittel aller Beschwerden, wegen deren Patienten den Hausarzt aufsuchen, bleibt der genaue Auslöser im Dunkeln. Diese oft als somatoform oder psychosomatisch bezeichneten Beschwerden wie Schmerzen, Schwindel und Müdigkeit sind zwar meist ungefährlich, können aber trotzdem extrem unangenehm sein. Stehen die quälenden körperlichen Beschwerden im Vordergrund, kann die Ärztin oder der Arzt eine »Somatische Belastungsstörung« diagnostizieren. Im Gegensatz dazu berichten viele Hypochonder, weniger unter den körperlichen Symptomen selbst als unter den dadurch ausgelösten Ängsten und Sorgen zu leiden. Manche verspüren nicht einmal nennenswerte Körperbeschwerden.

»Ich hatte in diesen Momenten das Gefühl, zu sterben. Es war furchtbar«
Sebastian Kraemer, lässt seine hypochondrische Störung behandeln

Sebastian Kraemer litt nicht nur unter der ständigen Angst vor einer lebensbedrohlichen Krankheit. Hinzu kamen regelmäßige Panikattacken. »Ich bekam plötzlich keine Luft mehr und begann zu hyperventilieren. Ich hatte in solchen Momenten das Gefühl, zu sterben. Es war furchtbar«, erinnert er sich. Etwa die Hälfte der Patienten mit einer hypochondrischen Störung erfüllen ebenso die Kriterien einer Panikstörung. Oft beeinträchtigen die Ängste die Stimmung so stark, dass zudem eine Depression vorliegt. »Obwohl ich dieses Gefühl kannte und mir als logisch denkender Mensch klar war, dass es sich sehr wahrscheinlich wieder um Panik handelte«, sagt Kraemer, »blieb ein leiser Zweifel. Könnte es diesmal nicht doch ein Herzinfarkt sein? Schließlich wird auch ein Hypochonder mal krank.« Er hat selbst erlebt, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Sein Vater war bereits früh an einem Herzinfarkt verstorben.

Erfahrungen wie der Tod eines Angehörigen können die Entstehung pathologischer Krankheitsängste begünstigen. Erkrankt dann im späteren Leben wieder ein nahestehender Mensch, kann dies alte Gefühle und Denkmuster reaktivieren und so eine hypochondrische Störung ausbrechen lassen. Betroffene tendieren dazu, das Erkrankungsrisiko zu überschätzen, während sie ihre Fähigkeit, mit einer potenziellen Erkrankung umgehen zu können, unterschätzen. Krank zu werden, erscheint ihnen also gleichzeitig wahrscheinlich und katastrophal.

Diese dysfunktionalen Überzeugungen können auch abgeschaut sein. Neigte etwa die Mutter früher schon zu Krankheitsängsten, können diese sich auf das Kind übertragen. Genetische Einflüsse spielen hier eine untergeordnete Rolle. Vielmehr handelt es sich um eine im Lauf des Lebens erworbene Störung, die durch kognitive Verzerrungen gekennzeichnet ist.

Bei mehr als 70 Prozent lässt sich Hypochondrie heilen

Die gute Nachricht: Eine hypochondrische Störung ist unproblematisch behandelbar. Eine bestimmte Form der Psychotherapie, die kognitive Verhaltenstherapie, ist bei der hypochondrischen Störung die am besten untersuchte und wirksamste Behandlung. Die Erfolgsaussichten sind dabei hoch: »Bei mehr als 70 Prozent ist eine Heilung möglich«, sagt Winfried Rief. Er ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Philipps-Universität Marburg und einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Psychosomatik.

»In der Therapie gilt es, die schädlichen Überzeugungen zu verändern«, sagt Rief. »Der Patient muss lernen, dass gelegentliche Beschwerden Teil eines gesunden Körpers sind.« Dabei würden Therapeut und Betroffener gemeinsam den Blick für andere Erklärungen öffnen: »Können meine Kopfschmerzen auch daher rühren, dass ich gestresst bin, zu wenig getrunken habe oder seit Stunden auf den Bildschirm starre?« Um die Fixierung auf die vorweggenommene Katastrophe zu reduzieren, erarbeiten Therapeut und Patient manchmal ebenfalls, wie das Leben sogar mit einem ernsten Leiden weitergehen könnte. »Betroffene haben zudem oft verlernt, sich bei aufkommenden Ängsten selbst zu beruhigen, deshalb suchen sie Trost im Außen – beim Arzt oder Partner, der ihnen versichern soll, dass alles in Ordnung ist.«

»Ich würde Entspannungsverfahren nur unter Anleitung eines Arztes oder Psychologen empfehlen, der etwaige Ängste abfangen kann«
Winfried Rief, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Die kognitive Verhaltenstherapie hilft dabei, besser mit Stress und negativen Emotionen umzugehen. Therapeuten nutzen unter anderem Entspannungsübungen wie Achtsamkeitsmeditation, die progressive Muskelentspannung oder Bodyscan. Doch Vorsicht – Entspannungsübungen können auch nach hinten losgehen. »Menschen mit Krankheitsängsten nehmen Körperempfindungen in der Ruhe anfangs noch intensiver wahr als sonst, deshalb würde ich Entspannungsverfahren nur unter Anleitung eines Arztes oder Psychologen empfehlen, der etwaige Ängste abfangen kann«, mahnt Rief.

Was ebenfalls guttut: Sport. Viele Betroffene schonen sich körperlich, werden dadurch weniger belastbar und verlieren ihre Kondition. Die resultierende Kurzatmigkeit deuten sie wiederum als Bestätigung für ihre schlechte Verfassung. Wer sich hingegen sportlich betätigt, stärkt den Körper und verschafft sich selbst immer wieder Erfolgsmomente, mögen sie noch so klein sein.

Als Sebastian Kraemer plötzlich viele Haare ausfielen, verschlechterte sich sein Verhältnis zu seinem Körper zunehmend. Es war der Zeitpunkt gekommen, sich psychotherapeutisch helfen zu lassen. In einer Reha hat er langsam wieder gelernt, dem Körper zu vertrauen. Heute geht es ihm wieder gut. Seither macht er mit seiner Geschichte auf dem Blog psog.de anderen Betroffenen Mut und berät Menschen, die unter Ängsten leiden. »Die Krise damals war ein Wendepunkt in meinem Leben. Vorher hat mir die Orientierung gefehlt, nun bin ich glücklich mit meinem Job und meiner Familie«, stellt er rückblickend fest. »Trotzdem war es eine sehr schlimme Zeit, und ich wünsche diese Ängste niemandem.«

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