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Diagnostik: Eine neue Klassifikation der Krankheiten

Mit der ICD-11 ist 2022 eine neue Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in Kraft getreten. Doch was bedeutet das? Ein Führer durch den Code-Dschungel.
Arzt hört das Herz eines Patienten ab

Ob ein gebrochenes Bein, eine Depression oder eine Erkältung: Krankheiten und Verletzungen werden heute fast überall auf der Welt mit Hilfe der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) erfasst. Seit dem 1. Januar 2022 gilt offiziell die elfte Revision der ICD, die bislang vor allem durch aktuelle Diagnosen wie die Computerspielsucht für Schlagzeilen sorgte. Doch hinter der ICD-11 steckt mehr als nur die Einführung ein paar neuer Krankheiten. Wir erklären, was sich im Vergleich zur ICD-10 ändert, was das nun für Ärztinnen und Patienten bedeutet und warum es überhaupt so etwas wie ein internationales Diagnosehandbuch braucht.

Was ist die ICD?

Die ICD ist ein Klassifikationssystem, das weltweit dazu genutzt wird, um Krankheiten zu definieren und voneinander abzugrenzen. Die Abkürzung steht dabei für »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems« oder auf Deutsch: »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme«. In der Kurzform spricht man oft auch einfach von der »Internationalen Klassifikation der Krankheiten«.

Die ICD begann ihre Karriere ursprünglich als Verzeichnis für Todesursachen. 1853 drängten Statistiker auf dem ersten Internationalen Statistischen Kongress in Brüssel auf eine weltweit einheitliche Bezeichnung. Zwischen 1893 und 1900 wurde deshalb das Internationale Todesursachenverzeichnis (International List of Causes of Death, ILCD) eingeführt, in dem zunächst nur Krankheiten und Verletzungen enthalten waren, die tödlich enden können. Außerdem vereinbarte man, alle zehn Jahre eine Revisionskonferenz abzuhalten, um den Katalog laufend zu aktualisieren und zu verbessern. Im Zuge ihrer sechsten Revision im Jahr 1948 wurde die ILCD dann schließlich zu einer allgemeinen Klassifikation ausgebaut und in ICD umbenannt. Herausgegeben wird sie seitdem von der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Krankheits- und Todesfälle auf der ganzen Welt nach einheitlichen Standards zu erheben und damit vergleichbar zu machen, ist bis heute ein wichtiges Ziel der ICD. »Die ICD ist der internationale Standard für die systematische Erfassung, Meldung, Analyse, Interpretation und den Vergleich von Mortalitäts- und Morbiditätsdaten«, schreibt die WHO auf ihrer Internetseite.

Einzelne Diagnosen werden dazu mit festgelegten Codes verschlüsselt, die aus Zahlen und Buchstaben bestehen. So stehen die Codes J10.0, J10.1. und J10.8 nach ICD-10 zum Beispiel für eine Grippe mit saisonalen Influenzaviren mit jeweils unterschiedlichen Beschwerdebildern. Depressive Episoden verschiedener Schweregrade verbergen sich hingegen hinter den Kennziffern F32.0 bis F32.9. Insgesamt gibt es viele Tausende solcher Codes.

In Deutschland spielen die ICD-Codes eine zentrale Rolle bei den Zahlungsflüssen im Gesundheitswesen

Auch die Leitsymptome der unterschiedlichen Krankheiten sind in der ICD aufgelistet. In Deutschland spielen die Codes darüber hinaus eine zentrale Rolle bei den Zahlungsflüssen im Gesundheitswesen und bei der Abrechnung von Ärzten und Kliniken mit den Krankenkassen. Wer genau hinschaut, kann auch auf jeder Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einen ICD-Code entdecken. (Zumindest auf den Seiten, die für die Krankenkasse und den Versicherten selbst bestimmt sind. Auf dem Durchschlag für den Arbeitgeber sind die Kennziffern im Sinn des Datenschutzes und der ärztlichen Schweigepflicht nicht enthalten.)

Was ändert sich mit der ICD-11 im Vergleich zu ihrer Vorgängerversion?

Bereits mit Erscheinen der ersten Version der ICD verständigte sich die Weltgemeinschaft darauf, das Klassifikationssystem regelmäßig zu überarbeiten. Das passiert seitdem in Form von kleineren jährlichen Updates sowie durch größere Revisionen.

Die ICD-11, die offiziell seit dem 1. Januar 2022 gilt, enthält im Vergleich zum Vorgänger verschiedene Verbesserungen. Die ICD-10, die in den 1980er und 1990er Jahren entstanden ist, war zudem noch als (gedrucktes) Nachschlagewerk konzipiert worden. Die ICD-11 hingegen gibt es rein digital, um – mit den Worten der WHO – als eine Art lebendiges Dokument zu fungieren, auf das jeder Zugriff hat. Das soll sie unter anderem langlebiger machen als bisherige ICD-Revisionen.

Die ICD-11 ist digital erstellt worden

Außerdem soll das Codieren mit der ICD-11 leichter werden und künftig schneller gehen. Dafür wurde die Systematik überarbeitet, nach der die Codes vergeben werden. Das ist offenbar bitter nötig gewesen: Bislang waren nur etwa ein Drittel aller weltweit gemeldeten Todesfälle richtig codiert, wie das Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung berichtet.

Für die Allgemeinheit dürften vorwiegend die neuen Diagnosen interessant sein, die mit der elften Revision Einzug in die Statistische Klassifikation der Krankheiten gefunden haben. Das berühmteste Beispiel ist wohl die »Gaming Disorder«, die in der ICD-11 erstmals als eigenständige Krankheit gelistet wird. Wer nicht mehr kontrollieren kann, wann, wie oft und in welchem Ausmaß er Computerspiele spielt, der kann künftig eine Computerspielsucht diagnostiziert bekommen. Das Verhalten muss dafür mindestens zwölf Monate lang anhalten und andere Interessen und Aktivitäten zunehmend in den Hintergrund drängen. Zudem muss das Spielen trotz negativer Konsequenzen – zum Beispiel für Schule, Beruf oder Familie – fortgesetzt werden.

Bislang konnten Ärztinnen und Psychologen in solchen Fällen nur auf die Behelfsdiagnose »sonstige Störung der Impulskontrolle« zurückgreifen. Durch die Aufnahme der Gaming Disorder als eigene Krankheit dürfte die Störung mehr Aufmerksamkeit erhalten. Forscherinnen und Forscher hoffen, dass dadurch in Zukunft bessere und spezifischere Therapien entwickelt werden.

Die allgemeine Spielsucht und das pathologische Horten sind Beispiele für andere Krankheitsbilder, die in der ICD-11 erstmals als eigenständige Diagnosen zu finden sind.

Was ändert sich für Ärzte und Patienten?

Erst einmal nicht viel. Obwohl die ICD-11 offiziell seit Anfang Januar 2022 gilt, findet sie in Deutschland bislang noch keine Anwendung. Denn dafür muss die ICD-11 zunächst übersetzt, modifiziert und in die bestehenden Strukturen hier zu Lande integriert werden. Aktuell arbeiten Ärztinnen und Ärzte mit der ICD-10-GM Version 2022 – GM steht dabei für »German Modification«.

Wie lange dauert es noch, bis die ICD-11 in Deutschland genutzt wird?

Das ist unklar. Nur für die Todesursachen gibt es bislang ein fixes Datum: Die sollen ab spätestens 2027 ausschließlich nach ICD-11 codiert werden, so will es die WHO. Wann die ICD-11 hier zu Lande auch für die Verschlüsselung von Krankheiten und Verletzungen zum Einsatz kommt, ist noch nicht abzusehen.

Derzeit sind mehr als 80 Prozent der rund 135 000 ICD-11-Einträge übersetzt

Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wird die Evaluierung und Einführung – insbesondere für die Codierung von Krankheiten – »noch mindestens fünf Jahre in Anspruch nehmen«. Stand Anfang 2022 sind mehr als 80 Prozent der rund 135 000 ICD-11-Einträge übersetzt und befinden sich bei den verschiedenen medizinischen Fachgesellschaften zur Prüfung. »Das BfArM plant im ersten Quartal 2022, den Entwurf einer deutschen Übersetzung der ICD-11 der Öffentlichkeit zugänglich zu machen«, heißt es von Seiten der Behörde.

Schon in der Vergangenheit gestaltete sich der Wechsel von einer ICD-Fassung zur nächsten langwierig. So dauerte die Umstellung von der ICD-9 auf die ICD-10 etwa sechs Jahre, vom Inkrafttreten der Revision bis zur vollständigen Anwendung in Deutschland. Experten gehen allerdings davon aus, dass der Umstieg auf die ICD-11 komplizierter ist – eben weil die ICD-10 inzwischen im deutschen Gesundheitswesen so stark integriert ist. Vor der Einführung der ICD-11 müssen deshalb zum Beispiel Fallpauschalen neu definiert und kalkuliert werden.

Warum wird die ICD überhaupt ständig überarbeitet?

Neben strukturellen Anpassungen, die zum Beispiel durch die Entwicklung neuer Technologien wie der des Internets notwendig werden, ändern sich natürlich medizinische Standards im Lauf der Zeit. Und ebenfalls das Bild davon, was eigentlich gesund und was krank ist, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten immer wieder gewandelt. Das zeigen nicht nur neue Diagnosen wie die Gaming Disorder, sondern auch Krankheitsbilder, die umdefiniert oder umbenannt wurden – oder sogar ganz aus den Diagnosehandbüchern geflogen sind.

Ein Beispiel dafür ist etwa die Hysterie, die heute nur noch in abgewandelter Form als histrionische Persönlichkeitsstörung in der ICD zu finden ist. Oder die Homosexualität, die bis in die 1970er Jahre hinein als behandlungsbedürftige Störung gelistet war. Mit der ICD-11 verschwinden schließlich auch die »Störungen der Geschlechtsidentität« aus dem Kapitel für psychische und neurologische Erkrankungen. Statt als Krankheit wird unter anderem die Transsexualität nun als »Bedingung im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit« aufgeführt.

Ein weiterer Grund, warum die WHO immer wieder größere Revisionen vornimmt, sind die zahlreichen Ergänzungen und Veränderungen, die viele Länder in ihren ICD-Versionen vorgenommen haben. Neben reinen Übersetzungen in die jeweilige Landessprache gibt es inzwischen mehr als zwei Dutzend nationale Varianten der ICD-10, in denen einzelne Staaten quasi ihr eigenes Süppchen kochen. Während die ursprüngliche ICD-10 der Vereinten Nationen eigentlich aus rund 14 000 Codes bestand, umfasst beispielsweise die US-Version inzwischen mehr als 68 000 verschiedene Kennziffern, . Von Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit kann also kaum noch die Rede sein. Die ICD-11 soll deshalb auch dazu dienen, die Weltgemeinschaft wieder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

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