Direkt zum Inhalt

News: 'Ich bin schon da'

Unter den verschiedenen Ionen in einer wässrigen Lösung nimmt das Proton eine ganz besondere Stellung ein. Es ist kleiner, leichter, und vor allem diffundiert es viel schneller als alle anderen Atome und Moleküle. Dabei bedient es sich des alten Tricks, mit dessen Hilfe der Igel im Märchen den schnellen Hasen im Wettlauf besiegte: Statt sich selbst auf den weiten Weg zu machen, wird die Information weitergegeben, und es erscheint am Ende der Rennstrecke ein identischer, aber individuell verschiedener Igel bzw. ein Proton. Ein Team deutscher und amerikanischer Wissenschaftler hat mit einer aufwendigen Simulation die submikroskopischen Details dieser strukturellen Diffusion ergründet. Durch ihre Ergebnisse dürften einige Abläufe in der Chemie und Biologie verständlicher werden.
Ein Proton in Wasser – so lernen die Kinder in der Schule, und so steht es auch in den meisten Lehrbüchern der Chemie – bleibt kein einsames H+, sondern verbindet sich mit dem nächsten Wassermolekül zum Oxonium-Ion H3O+. Für die meisten Zwecke reicht diese Annahme aus, auch wenn sie ebenfalls noch weit von der Realität entfernt ist. Wie alle Teilchen hat nämlich auch das Proton eine gewisse Nullpunktsenergie. Das ist die minimale kinetische Energie, die ein Teilchen besitzt, wenn es in einem bestimmten Raumbereich eingeschlossen ist. Aufgrund der extrem geringen Masse des Protons hat seine Nullpunktsenergie einen signifikanten Einfluß und bewirkt, daß der Wasserstoffkern unruhig zappelt und in gewissem Maße auch zu den Wasserstoffmolekülen um das H3O+ herum gehört.

Wie sieht es denn nun in Wirklichkeit aus? Zwei konkurrierende Modelle versuchen das Verhalten des hydratierten Protons zu beschreiben. Manfred Eigen vertritt die Auffassung, ein zentrales Oxonium-Ion sei über Wasserstoffbrücken mit den drei umliegenden Wassermolekülen zum sogenannten "Eigen-Kation" H9O4+ verbunden. Alternativ dazu glaubt Georg Zundel, das Proton bilde mit zwei Wassermolekülen ein "Zundel-Kation" H5O2+. Für beide Theorien gibt es stützende experimentelle Befunde. Im Falle des Eigen-Kations basieren diese auf thermodynamischen Messgrößen, wogegen Zundel seine Evidenzen aus infrarotspektroskopischen Messungen zog.

Angesichts solch großer und sperriger Strukturen verlangt die hohe Beweglichkeit des Protons in Wasser allerdings eine andere als die übliche Lösung. Gewöhnliche Ionen wie Na+ und Cl- wandern nämlich durch zufällige Bewegungen im Wasser. Ihren Weg von Punkt A nach B kann man sich als einen Menschen vorstellen, der sich durch die Menschenmenge vor einem Kino zur Kasse durchdrängelt. Dabei kommen füllige Leute natürlich langsamer voran als schlanke Zeitgenossen. Und meist diffundieren große Ionen auch nicht so schnell wie kleine Ionen.

Die Beweglichkeit des Protons im Wasser ist allerdings fünfmal größer als die von Ionen, die etwa so groß wie H3O+ sind. Lange bevor auch nur die Struktur des Wassermoleküls bekannt war, entwarf C.J.T. de Grotthuss im Jahre 1806 ein Konzept, mit dem dieses Phänomen zu erklären ist. Spätere Wissenschaftler ergänzten es zum heutigen Grotthuss-Mechanismus. Danach wandert nicht das individuelle Proton, sondern es ändern sich nur einige Bindungen. Das freie Proton wird chemisch gebunden, wodurch ein struktureller Defekt entsteht. Aus der kovalenten Bindung des selben Wassermoleküls zu einem seiner beiden anderen Wasserstoffatome wird dann eine Wasserstoffbrückenbindung. Die Bindung auf der anderen Seite dieses zweiten Wasserstoffatoms erfährt die umgekehrte Wandlung zur kovalenten Bindung. Als Ergebnis ist der Defekt ein Molekül weiter gewandert, während die einzelnen Atome fast völlig an ihrem Platz blieben. In unserer Metapher bräuchte der spät erscheinende Besucher nach diesem Modell sich gar nicht durch die dichte Menschenmenge zu drängen. Er müßte dem Kassierer nur zurufen, daß er die bestellte und bereits bezahlte Karte jetzt gerne haben möchte. Der Kassierer reicht die Karte einer vor ihm stehenden Person, die daraufhin zwei in den Händen hält: ihre eigene und die neue. Diesen "Defekt" bereinigt sie, indem sie eine der beiden Karten an ihren Nachbarn weitergibt und so fort, bis unser Held mit etwas Glück irgendwann ein Billet bekommt. Es handelt sich nicht um das Exemplar, das der Kassierer für ihn rausgegeben hat, aber da alle Karten gleich sind, ist eine so gut wie die andere.

Lassen sich die Vorgänge an der Kinokasse noch gut beobachten, so sind die Details des subatomaren Grotthuss-Mechanismus nur schwer zugänglich und Gegenstand kontroverser Diskussionen. Dr. Dominik Marx aus der Theorieabteilung von Prof. Michele Parrinello des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung in Stuttgart hat zusammen mit seinen Kollegen vom MPI und von der New York University versucht, die Vorgänge in einem virtuellen Labor nachzuvollziehen. Die dazu eingesetzte Computersimulation beruht ausschließlich auf den Grundgleichungen der Physik, insbesondere die der Quantenmechanik. Da im Gegensatz zu herkömmlichen Simulationen keinerlei Anpassungen an experimentelle Daten vorgenommen werden müssen, werden solche modernen Berechungen auch als ab initio-Simulationen oder, nach den Erfindern, auch oft als Car-Parrinello-Simulationen bezeichnet. (Nature vom 18. Februar 1999). Auf dem Supercomputer der Max-Planck-Gesellschaft in Garching, einer CRAY T3E mit 816 Parallelprozessoren, berechneten die Forscher die Protonendiffusion, wobei sowohl die Elektronen als auch die Kerne voll quantenmechanisch berücksichtigt wurden. Mit der Entwicklung dieser sogenannten ab initio-Pfadintegralmethode hat sich Dr. Marx kürzlich habilitiert.

Wie in der Abbildung ersichtlich, ist der protonische Defekt zunächst als H3O+-Kern in einer H9O4+-Struktur lokalisiert (a). Das Oxonium-Ion hat drei Wasserstoffbrückenbindungen zu den benachbarten Wassermolekülen. Einen Schritt weiter ist eines der Protonen vom H3O+ ein Stück entlang der Wasserstoffbrückenbindung in der Papierebene nach oben gewandert und hat sich in die Mitte eines H5O2+-Komplexes begeben (b). Anschließend kommt es erneut zur Bildung von H9O4+, jetzt jedoch um ein anderes Oxonium-Ion herum, (c) und dann wieder H5O2+ (d). Insgesamt hat sich der strukturelle Defekt von (a) nach (d) dabei um rund 0,5 Nanometer bewegt, während die einzelnen Teilchen kaum von ihrem Platz gekommen sind.

Die realitätsnahe Simulation zeigt also, daß sowohl H9O4+ als auch H5O2+ im Laufe der Protonenwanderung auftreten. Sie sind jedoch nur Zwischenstationen eines "fließenden Komplexes". Für diese Dynamik spielt der rein quantenmechanische Tunneleffekt keine Rolle. Vielmehr sind es die Bewegungen aufgrund der ebenfalls rein quantenmechanischen Nullpunktsenergie des Protons und die klassischen thermischen Fluktuationen im Netzwerk der Wasserstoffbrückenbindungen, denen die Protonen die besonders hohe Geschwindigkeit verdanken – nicht für das einzelne Teilchen, sondern für den Defekt.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.