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Artenvielfalt: Im Sog des Untergangs

Seit Anbeginn der Evolution treten Spezies von der Bühne des Lebens ab, während neue erscheinen. Aussterben ist ein natürliches Phänomen – doch das Tempo des Artenschwundes in jüngster Zeit ist Besorgnis erregend. Und verabschieden sich die aktuell bedrohten Organismen für immer, reißen sie auch viele andere mit in den Tod.
Wechselbeziehungen zwischen Arten
Die Rote Liste der Internationalen Naturschutzorganisation IUCN ist eine traurige Aufzählung von lateinischen Namen, die mit jeder Veröffentlichung weiter anwächst. Weltweit sind mehr als 12 000 Tier- und Pflanzenarten gefährdet oder massiv in ihrer Existenz bedroht. Auch die weiteren Prognosen klingen düster. Bis zu 50 Prozent der Spezies werden vermutlich in den nächsten 50 Jahren unwiderruflich verschwinden. Kein Wunder, dass die Aussterberate hoch ist, denn mit eskalierender Geschwindigkeit fallen Lebensräume der Zerstörung zum Opfer. Hauptverursacher dieser Biodiversitätskrise ist allein eine einzige Art: Homo sapiens.

Wechselbeziehungen zwischen Arten | Manche Arten sind auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen: So wären beispielsweise bestimmte Milben in ihrem Fortbestand bedroht, wenn entweder die als Transportvehikel benutzten Kolibris oder die Blüten aussterben, von denen sie Pollen und Nektar beziehen.
Und die derzeitigen Schätzungen zum Artensterben müssen nach oben korrigiert werden, vermeldet nun ein internationales Forscherteam um Lian Pin Koh von der Nationalen Universität von Singapur. Zumal in die Berechnungen bislang kaum der Aspekt einfloss, dass zwischen den Gliedern eines Ökosystems ein wahres Netz aus Wechselbeziehungen gewoben ist. Insbesondere in komplexen Lebensräumen wie den tropischen Regenwäldern sind viele Geschöpfe aufeinander angewiesen – auf Gedeih und Verderb. Erlischt eine Art, könnte dies unweigerlich das Aus für eine andere oder gar mehrere Spezies bedeuten.

Mit Hilfe eines eigens entwickelten Computermodells, das auf Daten aus der wirklichen Welt beruht, untersuchten die Wissenschaftler deshalb die Beziehungen zwischen "Wirts-Arten" und jenen "Partner-Arten", die von ersteren abhängig sind. Das Ausmaß des Artenrückgangs schätzten sie anhand von 20 Systemen "verbündeter" Lebewesen ein – darunter Feigen und die sie bestäubenden Feigenwespen, Parasiten (Pilze, Fadenwürmer und Läuse) und die von ihnen belästigten Primaten, schmarotzende Milben, Läuse und die befallenen Vögel sowie Schmetterlinge und die von ihren Larven heimgesuchten Pflanzen.

Die erschreckende Bilanz: Insgesamt 6300 Partner sind derzeit mit gefährdet – sterben also wahrscheinlich aus, wenn ihre von der IUCN als "stark bedroht", "bedroht" und "gefährdet" eingestuften Wirte gänzlich verschwinden sollten. Und damit nicht genug: Bereits in der Vergangenheit sind mindestens 200 "abhängige" Organismen ihren vernichteten "Verbündeten" in den Tod gefolgt, berechneten die Forscher basierend auf den dokumentierten Sterbefällen von Arten.

Über evolutionäre Zeiträume haben Organismen mit komplexen Lebensgeschichten ein höheres Risiko, mit unterzugehen, als solche mit einfacheren. Beispielsweise sind bestimmte Milben in ihrem Fortbestand bedroht, wenn entweder die als Transportvehikel benutzten Kolibris oder die Blüten wegfallen, von denen sie Pollen und Nektar beziehen. Umgekehrt wird der Abschied eines Wirtes, von dem viele andere Arten abhängen, wahrscheinlich ein "Massensterben" auslösen. Sollte zum Beispiel die Treiberameise Eciton burchelli nicht überleben, wären folglich viele ihrer nicht weniger als 100 Partner (Springschwänze, Käfer, Milben und Vögel) verloren.

In manchen Fällen sollte der Schutz der Wirts-Arten ausreichend sein, um gleichzeitig die Verbündeten vor dem Aussterben zu bewahren. Doch "Bündnispartner", die auf viele Arten angewiesen sind oder bezüglich des demografischen Schwellenwertes sensibler sind als diese, könnten sogar ein noch höheres "Aussterberisiko" haben als ihre Wirte selbst, befürchten die Wissenschaftler. Abschließend plädieren sie: "Angesichts der globalen Biodiversitätskrise ist es zwingend erforderlich, dass die Mitauslöschung im Brennpunkt zukünftiger Forschung steht, um die komplizierten Prozesse des Artenschwundes zu verstehen."

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