Pandemien: Wie das Immunsystem Kinder doppelt schützt
Eine Besonderheit des Immunsystems könnte Kinder vor Pandemieviren schützen – und sie gleich auf zwei Wegen vor einem schweren Verlauf von Covid-19 bewahren. Laut einer aktuellen Untersuchung ist das angeborene Immunsystem in den Schleimhäuten ihrer Atemwege viel aktiver als bei Erwachsenen und reagiert deutlich schneller auf Viren, denen es noch nie begegnet ist. Das jedenfalls legt die Analyse einer Arbeitsgruppe um Irina Lehmann vom Berlin Institute of Health in der Charité (BIH) nahe, die Unterschiede in den Zelltypen der Schleimhäute von Kindern und Jugendlichen untersuchte.
Wie das Team in »Nature Biotechnology« berichtet, haben Kinder nicht nur viel mehr Immunzellen in den Schleimhäuten, sie produzieren zudem Typ-1-Interferone schneller, die entscheidend für die Bekämpfung von Viren sind. Dadurch könnten diese Signalstoffe sie auch vor der Fehlregulation des Immunsystems schützen, die bei vielen schweren Verläufen auftritt.
Kinder bekämpfen Viren viel schneller
»Die Abwehr von Viren funktioniert auf zwei Ebenen. Als Erstes hat man die antivirale Antwort in den Zellen durch Rezeptoren, durch die zum Beispiel auch Interferon produziert wird«, erklärt Lehmann. »Die zweite Ebene sind Immunzellen wie aktivierte Killerzellen und Neutrophile.« Die Studie ihrer Arbeitsgruppe zeigt, dass diese beiden Ebenen der Virusbekämpfung bei Kindern in höchster Alarmbereitschaft sind. Das Team analysierte dafür fast 270 000 Zellen aus Abstrichproben der Nasenschleimhaut von Personen im Alter von vier Monaten bis 77 Jahren. Etwa die Hälfte von ihnen war mit Sars-CoV-2 infiziert.
Dabei zeigte sich außerdem, dass die Zellen der Kinder größere Mengen von Immunrezeptoren wie MDA5 produzieren, die Viren erkennen und die Immunreaktion anstoßen. Dieses Molekül ist ein Sensor für fremde RNA, wie sie viele Viren besitzen, darunter auch Sars-CoV-2, und es leitet die Produktion von Typ-I-Interferonen an. Diese Signalmoleküle sind entscheidend für die Bekämpfung von Viren durch das angeborene Immunsystem. Sie aktivieren Immunzellen und versetzen Körperzellen in einen besonderen Alarmzustand, der es Viren schwer macht, sich zu vermehren.
»Die Interferone sind brutal effizient gegen Virusinfektionen«, erklärt Marco Binder vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg und Mitautor der Studie. Das Virus allerdings hat als effektive Gegenmaßnahme eigene Proteine, die verhindern, dass Interferone gebildet werden. »Sars-CoV-2 vermehrt sich rasant schnell in Zellen, und dadurch werden auch die Virusproteine sehr schnell gebildet«, sagt Binder, der selbst an Interferonen forscht. »Und die unterdrücken das Interferonsystem so dramatisch, dass wir bei Infektionen in Zellkulturen nur minimale oder gar keine Interferonproduktion sehen.«
Die doppelte Rolle der Interferone
An solchen Zellkulturen von Lungenepithelzellen testete Binder dann, ob die größeren Mengen MDA5 in den Zellen, wie bei Kindern beobachtet, die Interferonreaktion womöglich retten. Erwachsene haben nur sehr wenig dieses Rezeptors – das Molekül muss im Fall einer Infektion erst nachproduziert werden. Das kostet Zeit, die Sars-CoV-2 nutzt, um das gesamte Signalsystem abzuwürgen. Kinder scheinen durch die stärkere Grundaktivierung von MDA5 und ähnlichen Rezeptoren vor diesem Mechanismus geschützt zu sein. Und tatsächlich zeigte sich in den Versuchen von Binder, dass Sars-CoV-2 bei Kindern schlicht zu langsam ist, um zu verhindern, dass die Zellen Interferone bilden.
Dadurch sind Kinder sogar quasi doppelt vor einem schweren Verlauf von Sars-CoV-2 geschützt. Die Typ-I-Interferone nämlich leisten mehr, als nur den Körper vor Viren zu warnen. Tatsächlich regulieren die Signalmoleküle eine ganze Reihe von Prozessen in der allgemeinen Immunreaktion. Fehlen sie während einer Sars-CoV-2-Infektion, gerät die Körperabwehr im schlechtestmöglichen Moment aus dem Tritt, legen Studien nahe. Das sich ausbreitende Virus verursacht Gewebeschäden, die ihrerseits das Immunsystem anregen, das Virus heftiger zu bekämpfen.
Doch durch das Fehlen der Typ-I-Interferone ist die Abwehrreaktion bereits in einer gefährlichen Schieflage und schießt über das Ziel hinaus. Dadurch verursacht die Immunreaktion selbst bei einem schweren Verlauf von Sars-CoV-2 massive Gewebeschäden in der Lunge. Auf die entscheidende Rolle der Interferone dabei deuten auch Studienergebnisse hin, laut denen Menschen mit angeborenen Defekten der Interferon-I-Antwort oder Autoantikörpern gegen die Signalstoffe ein hohes Risiko haben, sehr schwer an Covid-19 zu erkranken.
Warum Kinder trotzdem schwer erkranken
Kinder profitieren also gleich doppelt davon, dass ihr superscharf gestelltes Immunsystem schneller Interferon produziert, als Sars-CoV-2 dessen Produktion unterbindet. »Wenn umgekehrt die Konzentration von MDA5 erhöht ist, überspringt man den ersten Schritt, in dem das Protein erst hochreguliert werden muss«, erklärt Binder. »Und deswegen produziert die Zelle beim Kontakt mit dem Virus sofort messbare Mengen Interferon, bevor Sars-CoV-2 überhaupt die Chance hat dazwischenzugrätschen.«
Wenn allerdings bei einem Kind das Interferonsystem gestört ist, zum Beispiel durch einen erblichen Defekt, verschwindet dieser Schutzeffekt. Das könne womöglich erklären, weshalb selbst ein paar scheinbar kerngesunde Kinder und Jugendliche trotzdem krank werden, sagt Binder. Entscheidend sei aber, dass Kinder grundsätzlich viel schneller und heftiger auf ein unbekanntes Virus reagieren könnten.
Der Effekt setzt sich auch bei der zweiten Ebene der Immunreaktion fort – weil die nötigen Immunzellen schon da sind. Dass Kinder viel mehr dieser Zellen in den Schleimhäuten haben als Erwachsene, ist das andere entscheidende Ergebnis der Studie. »Dadurch, dass die Immunzellen bereits im Gewebe sind, bekommt man einen Zeitvorsprung, weil all diese Zellen nicht erst durch Signalstoffe herbeigerufen werden müssen«, sagt Irina Lehmann. »Es macht natürlich einen Unterschied, wenn man einen Tag weniger ungehinderte Vermehrung des Virus im Gewebe hat.«
Warum Erwachsene ungeschützt bleiben
Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe deuten darauf hin, dass das Immunsystem von Kindern darauf angelegt ist, Viren gerade dann besonders effektiv zu bekämpfen, wenn es diesen zum ersten Mal begegnet. Fachleute wie der Influenza-Experte Peter Palese vermuten deswegen, dass Kinder grundsätzlich bei Pandemien besser dastehen als Erwachsene, ein Effekt, den man mutmaßlich bereits 1918 beobachtete. Erwachsene nämlich müssen sich auf die adaptive Immunantwort verlassen – jenen für einzelne Krankheitserreger spezifischen Schutz durch Antikörper und T-Zellen, der sich erst eine Weile nach dem Kontakt mit dem Virus ausbildet.
Das erweist sich in einer Pandemie als erheblicher Nachteil. Im Unterschied zu den saisonalen Atemwegserregern, die man bereits als Kind dank des scharf gestellten Immunsystems meist mühelos abgefangen hat, sind die Erwachsenen nun gegenüber einem neuen Virus besonders schutzlos. Das zeigt sich auch bei Covid-19 in der fast exponentiell mit dem Alter ansteigenden Rate an schweren Erkrankungen und Todesfällen. Aber warum haben nur Kinder diesen hocheffektiven Schutz?
Dafür gebe es mehrere Gründe, erklärt Binder. »Wenn der Körper das immer aktiviert hätte, würde dadurch natürlich ein wahnsinniger Selektionsdruck auf die Erreger entstehen.» Die Viren hätten sich längst angepasst. Außerdem könne sich der Körper dieses System auf Dauer wohl gar nicht leisten. »Die Interferonantwort ruft unter allen Signalsystemen mit die stärkste Veränderung der Genaktivität der Zelle hervor.« Bliebe das dauerhaft angeschaltet, hätte das massive Auswirkungen auf das Gleichgewicht der Zelle und damit des Körpers.
Das ist keineswegs nur ein theoretisches Problem. »Es ist bekannt, dass Menschen mit einer angeborenen Überaktivierung dieses Interferonsystems meist unter sehr schweren entzündlichen Erkrankungen leiden«, sagt Binder. Der Preis für die antivirale Superwaffe Interferon ist also, dass sie sorgfältig unter Verschluss gehalten werden muss. Dadurch kann Sars-CoV-2 sie entschärfen – und so nicht nur diese Verteidigungslinie durchbrechen, sondern gleich die ganze Körperabwehr aus dem Tritt bringen. In unseren ersten Lebensjahren allerdings scheinen wir den Viren tatsächlich immer einen Schritt voraus zu sein.
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