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Humane Papillomviren: Wenn Impf-Aberglaube gewinnt

Japan erlebt derzeit eine beispiellose Impfkrise: Innerhalb weniger Monate fiel die Quote der Impfung gegen Humane Papillomviren von 70 auf unter ein Prozent. Eine Medizinjournalistin kämpft gegen Fake-News und Fake-Studien von Impfkritikern. Doch ihre Gegner sind mächtig: Ein Gericht hat sie nun wegen Verleumdung eines impfkritischen Mediziners schuldig gesprochen.
Impfstoff

Ganz am Anfang, erinnert sich Riko Muranaka, war sie von den Bildern zutiefst schockiert. Es war 2014, als die Japanerin zum ersten Mal die Videos sah: Mädchen, die unkontrolliert zitterten; die sich nicht selbst auf den Beinen halten konnten; ständig müde und unkonzentriert; darunter einstige Wunderkinder, Jahrgangsbeste, Anführerinnen von Sport- und Studentengruppen.

Verzweifelt berichteten die Eltern in den Filmen vom Schicksal ihrer Kinder: Eine Impfung hatte sie derart verändert, lautete ihre sichere Überzeugung. Vorher waren sie lebensfroh und sportlich, nun nurmehr körperliche Wracks. Mit ernster Miene bestätigten Mediziner in den Videos den Verdacht. Ein Impfstoff gegen Humane Papillomviren, so ihre Diagnose, hatte die Symptome ausgelöst. Die Kinder waren angeblich Opfer von Nebenwirkungen geworden, die der Bevölkerung verschwiegen wurden.

Wenn die Journalistin Riko Muranaka heute von dieser Zeit berichtet, spürt man, wie sehr sie diese Bilder damals selbst aufgewühlt haben. »Ich dachte, diese Impfung macht wirklich Probleme, die vertuscht wurden«, sagt sie. Riko Muranaka ist Ärztin und Journalistin. Sie unterrichtet Wissenschaftskommunikation an der medizinischen Fakultät der Universität Kyoto, schreibt für verschiedene japanische Medien über Gesundheitsthemen. Schon oft hatte sie sich mit ambivalenten Themen befasst, dem Einsatz von Ebolaviren zur nationalen Verteidigung etwa oder Gentests für kommerzielle Zwecke. Nun schien sie einem handfesten Medizinskandal auf der Spur. Sie begann mit ihrer Recherche – und erkannte bald, dass alles ganz anders war.

Angefeindet und mundtot gemacht

Was Riko Muranaka aufdeckte, war kein Pharmaskandal, sondern die Ursache der größten Impfkrise, die Japan je erlebt hat. Gezielte Kampagnen von Impfgegnern hatten eine Kaskade von Ereignissen ausgelöst, die ein funktionierendes Vorsorgesystem innerhalb weniger Monate und bis heute zum kompletten Zusammenbruch brachte. Riko Muranaka befragte Betroffene und Ärzte, sie entlarvte Fake-News und Fake-Studien. Ihr Engagement brachte ihr internationale Preise ein – und kostete sie beinahe ihre Karriere.

Denn das Wirken der Medizinjournalistin wird hauptsächlich außerhalb Japans wahrgenommen. In ihrem Heimatland wird Muranaka angefeindet und mundtot gemacht. Bis heute sind die Impfskeptiker übermächtig geblieben. Vor wenigen Tagen wurde Muranaka vor Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie einem impfskeptischen Forscher wissenschaftliches Fehlverhalten vorgeworfen hatte. Ihr Fall zeigt erschreckend, welche Auswirkungen die Verunsicherung durch Fake News auf ein funktionierendes Gesundheitssystem haben kann.

Im Fokus der Geschichte: Die Impfung gegen HPV, Humane Papillomviren, die beim Sex übertragen werden können. Sie sind die Hauptauslöser von Gebärmutterhalskrebs. In Deutschland erkrankten 2014 rund 4500 Frauen an dem Karzinom, rund 1500 Frauen starben. Seit 2007 ist eine Impfung gegen bestimmte HPV-Typen verfügbar, die als wichtigste Auslöser für den Krebs gelten. Hier zu Lande wird die HPV-Impfung Mädchen und Jungen zwischen 9 und 14 Jahren empfohlen. Doch obwohl der Nutzen der Impfung eindeutig ist, wie auch eine Studie der Cochrane-Stiftung zeigt, ist die Impfquote in Deutschland relativ niedrig: Unter 17-jährigen Mädchen waren 2017 nur 45 Prozent vollständig gegen HPV geimpft.

Anders war es 2013 in Japan. Seit 2010 ist die Impfung in dem Land verfügbar, Mädchen zwischen 12 und 16 Jahren wurde sie empfohlen. Im April 2013 wurde die HPV-Impfung sogar ins nationale Immunisierungsprogramm Japans aufgenommen. Das Verhältnis der japanischen Bevölkerung zur HPV-Impfung war damals vorbildlich: 65 Prozent aller 13-jährigen Mädchen waren geimpft, in älteren Jahrgängen lag die Quote bei über 70 Prozent.

»Es sah aus, als wären es sehr viele Betroffene, dabei waren es anfangs weniger als 15 Menschen, von denen die Berichte ausgingen«Riko Muranaka

Dann tauchten die Videos auf. Eltern filmten ihre Kinder, die plötzlich nicht mehr laufen konnten oder an unerklärlichen Schmerzen litten. Sie stellten Filme und Berichte ins Internet, in denen sie die Symptome mit der Impfung in Zusammenhang brachten. »Es sah aus, als wären es sehr viele Betroffene,« sagt Muranaka, »dabei waren es anfangs weniger als 15 Menschen, von denen die Berichte ausgingen.« Doch jeder von ihnen verbreitete täglich an die 100 Tweets und Blogeinträge, erinnert sich die Journalistin. Und sie fanden Gehör.

Nur eine Woche, nachdem die HPV-Impfung ins nationale Impfprogramm Japans aufgenommen worden war, griffen Medien das Thema auf. Kurz darauf änderte das japanische Gesundheitsministerium auf öffentlichen Druck hin seine Haltung gegenüber der Impfung. Die HPV-Impfung sollte bis auf Weiteres nicht mehr aktiv von Ärzten empfohlen werden. Ein Gutachterkomitee wurde einberufen, um die Sicherheit der Impfung erneut zu überprüfen. In dieser Zeit konnten Eltern und Patientinnen die Impfung noch immer einfordern. Doch das taten lediglich einige wenige.

Impfquote bricht ein von 65 auf vier Prozent

Noch im gleichen Jahr fiel die Impfquote bei unter 13-Jährigen von 65 auf knapp vier Prozent. Das Gutachterkomitee der Regierung schloss seine Arbeit derweil Ende des Jahres ab: Es konnte keinen Zusammenhang zwischen den Symptomen der Kinder und der Impfung feststellen. Doch die Regierung hielt an dem Stopp der Impfempfehlung fest. »Für die Öffentlichkeit war dieses Verhalten sehr irreführend«, sagt Muranaka. Wenn die Impfung angeblich sicher sein sollte – wieso wurde sie dann trotzdem zurückgehalten? Die Impfquote brach weiter ein.

2014 stellten Mediziner um den Rheumatologen Kusuki Nishioka auf einer internationalen Konferenz schließlich eine Bilanz auf. 45 Fälle von vermeintlichen Impfschäden dokumentierten die Mediziner. Und sie definierten eine Diagnose für die Geschädigten: Sie litten an HANS, dem mit der HPV-Impfung assoziiertem neuroimmunopathischen Syndrom. 24 mögliche Symptome nannten die Mediziner, darunter Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Hautprobleme, Müdigkeit, Lern- und Konzentrationsschwäche.

Riko Muranaka | Die Medizinerin und Journalistin Riko Muranaka arbeitet an der Kyoto University School of Medicine. Im Jahr 2017 wurde sie mit dem renommierten John-Maddox-Preis des Fachmagazins »Nature« ausgezeichnet.

Riko Muranaka hat eine Chronologie der Ereignisse erstellt. Sie sind heute eng mit ihrer eigenen Biografie verknüpft. Im selben Jahr, in dem die Diagnose HANS erstmals beschrieben wurde, erfuhr sie durch die Berichterstattung zum ersten Mal von den vermeintlichen Nebenwirkungen der Impfung. Aber als sie einen befreundeten Kinderarzt nach derartigen Symptomen fragte, winkte der nur ab: All die Probleme, die nun als HANS definiert waren, würde er seit Jahren bei Kindern sehen – völlig unabhängig davon, ob sie gegen HPV geimpft worden waren. »Ich fragte ihn: Bist du sicher, dass das nichts mit der Impfung zu tun hat?«, sagt Muranaka.

Vermeintliche Impfreaktion ist Stresssymptom

Jener Kollege war nicht der Einzige, der sich in dieser Sache sicher war. Die Journalistin befragte verschiedene Psychologen, Neurologen und Pädiater. Ihnen allen waren die Symptome bekannt – als Reaktion auf Stress, Rebellion oder Überanpassung, die im Teenageralter häufig auftreten. Muranaka interviewte nicht nur die Mediziner, sondern auch die Patientinnen und ihre Eltern. Beides brachte sie mit den Berichten über die Sicherheit der HPV-Impfung zusammen.

Im Oktober 2015 veröffentlichte das japanische Businessmagazin »Wedge« ihren ersten Artikel über den Impfmythos HANS. Auch eine Umfrage unter 30 000 Mädchen im Teenageralter aus der Stadt Nagoya zeigte: Geimpfte Mädchen litten genauso häufig an den Symptomen wie ungeimpfte.

Humanes Papillomvirus | Humane Papillomviren (HPV) sind als Erreger von Gebärmutterhalskrebs bekannt. Seit einigen Jahren wird deutlich, dass sie auch Krebs im Kopf- und Halsbereich auslösen können.

Riko Muranaka machte auch auf diese Studie aufmerksam. Bis zum März 2016 schrieb sie mehrere Artikel für Wedge, in denen sie die Gerüchte der Impfskeptiker widerlegte. Sie wies darauf hin, dass es keine genetischen Auffälligkeiten gibt, die Japaner für Nebenwirkungen der HPV-Impfung anfällig machen. Sie vermeldete, dass die WHO Japans nachlässigen Umgang mit der Impfgegnerbewegung rügt.

Dann sorgte das Experiment eines renommierten Mediziners für Aufregung: Shuichi Ikeda, damaliger Dekan der School of Medicine der Shinshu Universität, wollte bewiesen haben, dass die HPV-Impfung tatsächlich Schäden im Gehirn verursacht. In einem Versuch mit Mäusen, so erklärte er in einem Fernsehbericht, waren eindeutige Veränderungen zu erkennen. Dafür zeigt er Schnitte eines Mäusegehirns, in denen bestimmte Bereiche nach der Impfung grün fluoreszierten.

Verfälschendes Experiment mit nur einer Maus

Auch dieser Behauptung ging Muranaka auf den Grund. Sie recherchierte an Ikedas Universität und erfuhr: Nur eine einzige Maus war für den Versuch benutzt worden. Sie war genetisch so manipuliert, dass sie im Alter auch ohne die HPV-Impfung Antikörper produzierte, die auf dem späteren Schnitt grün fluoreszierten. Bei dem Schnitt wiederum handelte es sich gar nicht um das Gehirn der geimpften Maus, sondern um das eines anderen Tieres, das lediglich mit Blutserum der geimpften Maus besprüht worden war.

Riko Muranaka bei der Preisverleihung | Die Ärztin und Journalistin erhielt 2017 den John-Maddox-Preis.

Im Magazin »Wedge« berichtete Muranaka auch über diesen Versuch – und bezeichnete das Experiment als Fälschung. Daraufhin passierte etwas, womit die Journalistin nicht gerechnet hatte. Anstatt ihr in einer wissenschaftlichen Publikation zu antworten, verklagte Ikeda die Journalistin wegen Verleumdung. Zweieinhalb Jahre sollte es dauern, bis in dem Verfahren ein Urteil fällt. Eine Zeit, in der Muranaka durch das Gerichtsverfahren von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten wurde und keine Aufklärung über die Verschwörungstheorien der Impfgegner leisten konnte: Die Anhörungen raubten ihr die Zeit, zudem bekam sie weniger Aufträge von Medien, die den Konflikt scheuten oder auf Seite der Impfgegner standen.

Die Journalistin erfährt in dieser Zeit viel Rückhalt von japanischen Medizinern. 2017 wird ihr der John Maddox-Preis des Fachmagazins »Nature« verliehen. Er zeichnet Personen aus, die sich für die Verbreitung wissenschaftlicher Fakten trotz Widerständen einsetzen. Doch die renommierte Auszeichnung hilft ihr nicht im eigenen Land. Am 26. März werden Riko Muranaka und das Magazin »Wedge« schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 26 600 Euro verurteilt. Das Gericht betont, dass der Schuldspruch kein Urteil über die Sicherheit des HPV-Impfstoffs darstelle. Es gehe lediglich um den Begriff der Fälschung. Denn Ikeda habe das Experiment tatsächlich durchgeführt und keine vorsätzliche Täuschung beabsichtigt.

»Ich muss diesen Prozess zum Wohl von Menschenleben gewinnen und, um die Freiheit der Wissenschaft zu bewahren«Riko Muranaka

Riko Muranaka ist müde. »Was ich befürchtet habe, ist wirklich eingetroffen«, sagt sie. Das japanische Rechtssystem verlangt bei einer Verleumdungsklage von der Verteidigerseite den Beweis, dass es sich nicht um Rufschädigung handelt. Trotzdem will sie mit dem Verfahren in die nächste Instanz gehen. »Ich muss diesen Prozess zum Wohl von Menschenleben gewinnen«, sagt Muranaka, »und um die Freiheit der Wissenschaft zu bewahren.«

Ein weiteres Verfahren wird noch einmal mindestens zwei Jahre andauern. Tausende Mädchen werden in Japan in dieser Zeit ungeimpft bleiben: Die HPV-Impfquote in Japan liegt heute bei unter einem Prozent.

In dieser Geschichte gibt es zwei Gruppen von Opfern, sagt Muranaka. Die Mädchen, denen die HPV-Impfung verwehrt wird. Und die Mädchen, die angeblich auf Grund der Impfung an Schmerzen, Lähmungen oder Muskelkrämpfen leiden. Denn sie werden von ihren Ärzten wie echte Opfer von Impfschäden behandelt – mit hochdosierten Steroiden etwa oder Medikamenten gegen Demenz. Die Therapien, die sie eigentlich benötigen, bleiben ihnen jedoch verwehrt.

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