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Corona-Vakzine: »Impfstoffe müssen maximal sicher sein«

Auch wenn Corona-Impfstoffe momentan in Rekordzeit entstehen, laufen alle notwendigen Tests, sagt Mediziner Hartmut Hengel im Interview. Dass ein Restrisiko bleibe, ist »ein unauflösbarer Konflikt«.
Junge Frau wird geimpft

Im weltweiten Kampf gegen das Coronavirus gelten Impfstoffe als mitentscheidend. Die aktuell aussichtsreichen Kandidaten: BNT162b2, AZD1222 und mRNA-1273. Es ist zu erwarten, dass weitere hinzukommen. Doch noch während die Zulassung ansteht, kommen Zweifel an der Sicherheit der Mittel auf. Wie laufen die Tests ab? Warum geht das nun so schnell? Und wie riskant ist es, sich mit den ersten Vakzinen gegen das Coronavirus impfen zu lassen? Antworten hat der Mediziner Hartmut Hengel im Interview.

»Spektrum.de«: Einen Impfstoff zu entwickeln braucht Zeit, meist viele Jahre. Jetzt melden erste Hersteller von Corona-Impfstoffen gute Ergebnisse in der entscheidenden Phase der Entwicklung. Wieso geht das plötzlich so schnell?

Hartmut Hengel: Es ist richtig, dass die traditionelle klinische Phase der Impfstoffentwicklung mehr Zeit für sich beansprucht als wir das gerade erleben. Allerdings haben die Zulassungsbehörden schon vor der jetzigen Corona-Pandemie ein neues Verfahren entwickelt, das den Prozess beschleunigen kann.

Wie sieht das genau aus?

Hartmut Hengel | Der Ärztliche Direktor des Instituts für Virologie an der Universitätsklinik Freiburg war von 2007 bis 2017 Mitglied der Ständigen Impfkommission. Nun ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Paul-Ehrlich-Instituts, also dem Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel.

Beim »Rolling Review« kann der beantragende Impfstoffhersteller seine Daten aus den Phase-II- und Phase-III-Studien kontinuierlich einreichen und sie rasch bewerten lassen. Das beschleunigt die wissenschaftlichen Bewertung durch die Zulassungsbehörde und führt zu einer vorläufigen Zulassung, wenn die Daten überzeugend sind. Diese aber, und das möchte ich betonen, wird unter Vorbehalt gegeben, daher der Zusatz vorläufige. Nach einer solch vorläufigen Zulassung müssen die Hersteller weitere Daten erheben. Umfangreich und sorgfältig entsprechend der Auflagen der Behörden. Werden neue Nebenwirkungen oder andere Mängel des Impfstoffs festgestellt, kann die Zulassungsbehörde reagieren und eine Zulassung beispielsweise ändern oder gar zurückziehen.

Wichtige Tests werden also nicht übersprungen?

Nein, allerdings kann man inzwischen die Phase-II-Studien mit den Phase-III-Studien kombinieren. Das heißt, Daten, die in der Phase-II-Studie erhoben werden, fließen mit in die Phase-III-Studie ein, die Phase-II-Studie muss nicht für sich abgeschlossen werden. Das spart Zeit. (Anm. d. Red.: siehe Infobox »Phasen klinischer Studien«)

Phasen klinischer Studien

Wird ein neues Medikament entwickelt, durchläuft es fünf klinische Phasen. Um eine Studie in einer höheren Phase durchführen zu können, müssen alle vorhergehenden Phasen erfolgreich abgeschlossen worden sein.

Phase-0-Studie: Die ersten Versuche am gesunden Menschen finden statt. Etwa 10 bis 15 Personen erhalten subtherapeutische Dosen, auch Microdosing genannt. Dabei wird vor allem untersucht, wie sich der Wirkstoff im Körper verhält.

Phase-I-Studie: Etwa 20 bis 80 Personen erhalten eine Dosis, die für die spätere therapeutische Anwendung relevant sein könnte. Es wird geprüft, wie verträglich und sicher das Mittel ist.

Phase-II-Studie: Mit etwa 50 bis 200 Personen überprüfen die Hersteller das Therapiekonzept und legen eine geeignete Dosis fest. Zu diesem Zeitpunkt sollten bereits positive Effekte der Therapie sichtbar sein.

Phase-III-Studie: Nun entscheidet sich, ob die verantwortlichen Behörden ein Medikament zulassen. An 200 bis 10 000 Personen muss die therapeutische Wirksamkeit des Medikaments nachgewiesen werden. Das gilt ebenso für seine Unbedenklichkeit, eine angemessene pharmazeutische Qualität und ein geeignetes Nutzen-Risiko-Verhältnis.

Phase-IV-Studie: Diese Langzeitbeobachtungen beginnen, nachdem das Medikament zugelassen wurde. Damit sollen beispielsweise sehr seltene Nebenwirkungen festgestellt werden, die erst bei sehr großen Patientenkollektiven sichtbar sind.

Stand heute: Wie sicher sind die neuen Corona-Impfstoffe?

Die bisher verfügbaren Daten aus den Phase-II-Studien deuten darauf hin, dass es harmlose Nebenwirkungen gibt. Die unterscheiden sich etwas von Impfstoff zu Impfstoff, liegen aber in einem sehr akzeptablen Bereich. Bekannt sind bislang bloß lokal und zeitlich begrenzte Nebenwirkungen wie Rötungen an der Einstichstelle oder ein Unwohlsein für ein, zwei Tage. Ihre Reaktogenität ist also moderat.

»Sorge habe ich eher vor langfristigen Nebenwirkungen, etwa Narkolepsie«

Wie sieht es aus mit der oft von Impfskeptikern zitierten Gefahr, dass die injizierten RNA-Bestandteile unsere DNA verändern und so zu Zellmutationen führen können?

Davor habe ich am allerwenigsten Angst. Das würde voraussetzen, dass wir ein Enzym haben, das in effektiver Weise RNA in DNA umschreiben und in das Genom integrieren kann. Aber das finden wir so gut wie nicht.

Wovor haben Sie dann Angst?

Sorge habe ich eher vor langfristigen Nebenwirkungen, etwa Narkolepsie.

Kann es sein, dass die Entwicklung jetzt so schnell ging, weil es sich mit einem mRNA-Impfstoff um einen neuen Impfstofftyp handelt?

Für die klinische Prüfung ist es nicht entscheidend, ob wir es beispielsweise mit einem Lebend-, einem Tot-, einem Vektor- oder einem RNA-Impfstoff zu tun haben. Sie ist eher abhängig davon, wie viele Impfstoffdosen verabreicht werden müssen, wie schnell sich Probanden rekrutieren lassen und vor allem wie lange die Beobachtungszeit nach der Impfung ist. Ein ganz entscheidendes Kriterium sollte sein, sich die Performance des Impfstoffs über einen längeren Zeitraum anzuschauen.

»Bei den Corona-Impfstoffen liegt der aktuelle Beobachtungszeitraum nach der Impfung bei vier bis zwölf Wochen – das ist noch sehr wenig«

Das heißt?

Normalerweise beobachtet man mehrere Jahre lang, wie es den geimpften Personen geht. Hersteller, Ärzte und Patienten möchten ja wissen, wie lange der Impfstoff wirkt. Bei den Corona-Impfstoffen liegt der aktuelle Beobachtungszeitraum nach der Impfung bei vier bis zwölf Wochen – das ist noch sehr wenig. Außerdem gibt es bisher keine publizierten Daten. Alles worüber Sie und ich gerade sprechen, wissen wir aus Pressemeldungen der entsprechenden Impfstoffhersteller. Die Unternehmen werden den Zulassungsbehörden aber sicher alle verfügbaren Daten vorgelegt haben, so dass die Regulatoren mehr wissen und auf Grund dieses Wissens dann ihre Entscheidung treffen.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

In der Kürze der Zeit lässt sich die Vakzine vor der vorläufigen Zulassung nur an einer begrenzten Zahl Menschen testen. Besteht da nicht das Risiko, dass manche Nebenwirkungen erst auftauchen, wenn ein paar Hunderttausend geimpft sind?

Natürlich. Wenn man eine Phase-III-Studie mit 10 000, 20 000 oder 30 000 Menschen macht, kann man nicht mit statistischer Sicherheit die Nebenwirkungen erkennen, die seltener sind. Die wird man erst sehen, wenn entsprechend mehr Menschen geimpft worden sind und eine gewisse Zeit verstrichen ist. Die Erfahrung mit dem Schweinegrippe-Impfstoff Pandemrix hat dies 2009 gezeigt. Der Impfstoff galt zunächst als sicher und war zweifellos effektiv, doch dann erkrankten in wenigen Fällen junge Menschen nach der Impfung an Narkolepsie. Die Zulassung musste daher widerrufen werden. Impfstoffe müssen maximal sicher sein.

Das Problem ist aber nur teilweise lösbar, indem mehr Menschen geimpft werden, bevor ein Impfstoff zugelassen wird, oder?

Ja, es gibt immer ein Restrisiko. Erst mit der Anwendung steigt das Wissen über einen Impfstoff, und damit dessen Sicherheit. Es ist ein unauflösbarer Konflikt. Das gilt übrigens für alle Impfstoffe und Medikamente. Daher ist es auch nicht ungewöhnlich, dass Zulassungen modifiziert oder zurückgenommen werden müssen.

»Die Firma hat ein Recht auf ihre Daten, die sie selbst erhoben hat, insofern ist ein Zwang zur Offenlegung problematisch«

Wäre es nicht gerade vor dem Hintergrund dieser Unsicherheit sinnvoll, dass die Hersteller die Daten ihrer Studien publizieren, so dass Fachkollegen einen Einblick bekommen?

Die Daten müssen zwar nicht in Form einer wissenschaftlichen Publikation öffentlich gemacht werden, doch müssen die Impfstoffhersteller sie den Zulassungsbehörden vollständig zugänglich machen. Aber wir haben auch hier einen Konflikt: Die Firma hat ein Recht auf ihre Daten, die sie selbst erhoben hat, insofern ist ein Zwang zur Offenlegung problematisch. Auf der anderen Seite hat natürlich die Öffentlichkeit das Bedürfnis oder sogar den Anspruch, die Daten zu kennen. Auch die Ständige Impfkommission, kurz Stiko, am Robert Koch-Institut kann braucht publizierte Daten. In der Nachzulassungsphase zeigt sich dann, wie sich der Impfstoff im freien Feld bewährt und was er außerhalb eines Studienprotokolls leistet.

Werden Sie selbst sich impfen lassen?

Ich bin männlich und 60 Jahre alt – das sind zwei moderate Risikofaktoren. Wenn meine Schwiegereltern und alle eindeutigen Risikogruppen geimpft sind, ja, dann werde auch ich mich selbstverständlich impfen lassen. Es geht ja darum, mit den verfügbaren Impfungen in optimaler Weise Krankheitslast und Todeszahlen zu reduzieren. Deshalb sollten die vulnerablen Gruppen und jene, die sie betreuen, zuerst geimpft werden. Dabei braucht beispielsweise das Personal in Pflegeheimen die Impfung besonders dringend.

»Die Politik betreibt ein Erwartungsmanagement mit Hilfe der Impfstoffe. Das ist der Sache leider nicht dienlich«

Aktuelle Umfragen belegen, dass Teile der Bevölkerung den Impfstoffkandidaten gegenüber zurückhaltend sind. Die kurze Entwicklungszeit, die Premiere eines RNA-Impfstoffs – das macht manche Leute skeptisch und übervorsichtig. Wäre das Vertrauen in die neuen Impfstoffe womöglich größer, wenn sie nicht seit Monaten mit politischen Versprechungen verknüpft wären?

Die Politik betreibt ein Erwartungsmanagement mit Hilfe der Impfstoffe. Das ist der Sache leider nicht dienlich und langfristig kontraproduktiv. Denn darunter leidet die Vertrauenswürdigkeit leicht. Es wäre fatal, wenn der Eindruck entsteht, die Zulassungsbehörden würden ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit preisgeben und auf Druck etwas zulassen, was die Politik fordert.

Obwohl der Impfstoff erst einmal vorläufig zugelassen wäre.

Die Zulassung ist ja nur das eine. Die Regulatoren wie EMA und FDA verlangen hohe Standards von den Herstellern und lassen den Impfstoff erst zu, wenn diese erfüllt sind. Dazu gehört, dass alle klinischen Phasen von Studien durchlaufen und abgeschlossen sind. Das sind Mindestanforderungen, die ein Medikament oder ein Impfstoff erfüllen muss. Eine weitere Hürde nach der Zulassung ist die Empfehlung. Dabei handelt es sich um ein völlig unabhängiges Bewertungsverfahren durch die Ständige Impfkommission Stiko. Es ist zu hoffen, dass die Stiko den Startschuss fürs Impfen gibt, und nicht die Politik.

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