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Kriminalität: "In der Haft werden Vorurteile bestätigt"

Rechte Gewalt zählt zu den so genannten Hassverbrechen, die sich gegen bestimmte Gruppen wie Migranten, Juden oder Homosexuelle richten. Um die Denkweise der Täter zu ergründen, befragte die Psychologin Figen Özsöz vom Bayerischen Landeskriminalamt rechtsextremistische Jugendliche im Gefängnis.
Rechtsradikaler auf einer NPD-Demonstration

Frau Dr. Özsöz, was charakterisiert ein typisches Hassverbrechen?

Darunter versteht man Straftaten gegen Mitglieder von Bevölkerungsgruppen, die von den Tätern gehasst, abgelehnt oder für minderwertig befunden werden. Das Opfer wird also nur deshalb zum Opfer, weil es beispielsweise homosexuell oder obdachlos ist oder weil man ihm seinen jüdischen Glauben oder seine ausländische Herkunft ansieht. Man spricht deshalb auch von Vorurteilsverbrechen: Das Tatmotiv entspringt nicht etwa einem persönlichen Konflikt, sondern das Opfer steht stellvertretend für eine Gruppe.

Woran erkennen Ermittler, dass eine Gewalttat auf Hass oder Vorurteilen gründet?

Dieses Interview ist eine Vorabveröffentlichung aus dem Heft 6/2013 von "Gehirn und Geist".

Im Mittelpunkt steht das Tatmotiv. Das lässt sich erfragen und natürlich aus den Tatumständen erschließen. Ist der Täter zum Beispiel Mitglied der rechtsextremen Szene und das Opfer offensichtlich ausländischer Herkunft? In Deutschland ist diese Konstellation die häufigste unter den registrierten Hassverbrechen. Die wichtigsten Indizien ergeben sich jedoch aus der Rekonstruktion der Tatumstände. Entscheidende Hinweise liefern vor allem Beleidigungen und bestimmte Gesten im Tatverlauf, etwa der Hitlergruß. Aber nicht alle Hassverbrechen werden als solche erkannt.

Woran liegt das?

Man geht davon aus, dass besonders Homosexuelle und Obdachlose aus Angst oder Scham oft auf eine Anzeige verzichten. Sie befürchten beispielsweise, dass die Behörden nicht angemessen reagieren, weil sie mit dem betreffenden Milieu nicht vertraut sind. Ein großes Dunkelfeld vermutet man auch bei Hassdelikten, die nicht zu unseren gängigen Vorstellungen passen – zum Beispiel bei Gewalt von Muslimen gegen Juden und von männlichen Migranten gegen Homosexuelle.

Gelten Terroranschläge von islamistischen Fundamentalisten auch als Hassverbrechen?

Ob sie als solche registriert werden, hängt vom Erfassungssystem der betreffenden Länder ab. In Deutschland würden sie in die Kategorie "politisch motivierte Kriminalität" fallen, der alle Hassverbrechen zugeordnet sind. Auch wissenschaftlich gesehen tragen sie typische Merkmale: Islamistische Fundamentalisten haben hassgeprägte Motive wie die Vernichtung der Ungläubigen und die Rache an der westlichen Gesellschaft.

Aus Gehirn und Geist 6/2013
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Gibt es in manchen Ländern mehr Hassverbrechen als anderswo?

Die Fälle werden von Land zu Land unterschiedlich erfasst, deshalb lassen sich die Statistiken nicht so einfach vergleichen. Aber laut einer großen internationalen Studie von 2005, des "European Crime and Safety Survey", sind rund drei Prozent der befragten Europäer schon einmal einem Hassverbrechen zum Opfer gefallen. Deutschland lag mit 2,6 Prozent leicht unter dem Durchschnitt. Ein besonders hohes Risiko tragen Menschen mit Migrationshintergrund: Im Schnitt jeder zehnte berichtete über mindestens ein solches Erlebnis.

Erleben die Opfer Hassdelikte anders als eine "normale" Körperverletzung?

Studien zeigen, dass sie psychisch stärker darunter leiden als Opfer vergleichbar schwerer Delikte. Sie wissen, dass sich die Angriffe gezielt gegen ihre Identität richten, und das löst verstärkt Angst und Scham aus. Die Brandanschläge in Solingen 1993 haben weite Teile der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland verunsichert, weil sie fürchteten, es könne sie als Nächstes treffen. Überlebende Opfer und Angehörige müssen danach erst wieder Vertrauen zu ihren Mitmenschen gewinnen. Deshalb ist es wichtig, ihnen zu vermitteln, dass sie hier erwünscht sind und die Täter nicht für die gesamte Gesellschaft sprechen.

Was kennzeichnet hassmotivierte Täter?

Am meisten wissen wir über rechtsextremistische Gewalttäter: Sie sind überwiegend männlich und jünger als 25 Jahre. Auf der Suche nach den Hintergründen rechter Gewalt sichteten Trierer Forscher in den 1990er Jahren systematisch Polizeiakten und Gerichtsurteile. Die Taten werden demnach meist spontan und in der Gruppe begangen, oft unter Alkoholeinfluss. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind die Täter weniger gebildet und häufiger arbeitslos. In der Schule waren sie nicht gut integriert und zeigten schlechte Leistungen. Sie kommen aus brüchigen Familienverhältnissen: Der Vater fehlte oder fühlte sich nicht verantwortlich, das Familienklima war frostig, wenig kommunikativ, und die Eltern neigten zu autoritären Erziehungsmethoden. Viele Täter erlebten als Kinder auch wiederholt Gewalt innerhalb ihrer Familie, aber entscheidend ist die fehlende emotionale Nähe der Eltern. Das erste Mal finden sie oft Halt in Gruppen von Gleichaltrigen, die unter Umständen zur rechten Szene zählen. Und bei einigen besteht eine gewisse Bereitschaft, die fremdenfeindliche Einstellung zu übernehmen.

Inwiefern?

Ländervergleich

Rund 3 Prozent der EU-Bevölkerung ab 16 Jahren ist nach eigenen Angaben schon einmal Opfer eines Hassverbrechens geworden, Deutschland lag mit 2,6 Prozent knapp unter dem Durchschnitt. Ein höheres Risiko von über 4 Prozent tragen Franzosen, Dänen und Luxemburger, ein geringeres mit weniger als 2 Prozent Finnen, Italiener und Portugiesen. In Belgien fallen Einwanderer doppelt so oft (zirka 20 Prozent) einem Hassverbrechen zum Opfer wie der europäische Durchschnitt (zirka 10 Prozent). Am sichersten leben Migranten laut Statistik in Spanien und Finnland (2 Prozent werden Opfer).

Darüber gaben unter anderem zwei Studien des Deutschen Jugendinstituts Aufschluss. In einer von ihnen wurden jugendliche Versuchspersonen unter einem Vorwand in einen Warteraum gebeten, in dem schon ein gleichaltriger Ausländer saß – ein Mitarbeiter der Forscher. Mit einer versteckten Kamera beobachteten sie die Reaktionen der Probanden: Eine Gruppe verhielt sich kontaktfreudig-offen, eine unsicher-zurückhaltend und eine arrogant-dominant. Zur letzten zählten vor allem Jugendliche, die nach eigenen Angaben ausländerfeindlich und teils an gewalttätigen Aktionen gegen Ausländer beteiligt waren. Als die Forscher dann zum Vergleich einen deutschen Komplizen in den Warteraum schickten, fielen die Reaktionen der Jugendlichen nicht viel anders aus! Gegenüber beiden Fremden verhielten sich die arroganten Probanden arrogant, die unsicheren unsicher, die offenen offen. Die Wissenschaftler schlossen daraus, dass hinter der Ausländerfeindlichkeit Vorbehalte gegenüber allem Fremden stecken.

Und davon fühlen sich die Jugendlichen bedroht?

In diese Richtung deutet jedenfalls die zweite Studie des Deutschen Jugendinstituts. Hier erfassten die Forscher unwillkürliche körperliche Reaktionen mit Hilfe eines präparierten Gummiballs, den die Jugendlichen in der Hand hielten, während man ihnen eine Reihe von Bildern unterhalb der Wahrnehmungsschwelle präsentierte. Bei fremdenfeindlichen Probanden stieg der Druck auf den Ball angesichts von Fotos ausländischer Menschen so schnell und massiv wie bei Bildern bedrohlicher Tiere. Die Forscher sprechen deswegen von einem "übersensitiven Sozialradar": Die Jugendlichen befinden sich in einem andauernden Alarmzustand und reagieren besonders emotional auf alles Fremde, weil sie es mit Bedrohung assoziieren.

Hängt dies mit den familiären Erfahrungen zusammen?

Das ist anzunehmen. In den ersten Lebensjahren ist eine sichere Bindung an eine enge Bezugsperson notwendig, damit ein Kind seine Welt mit Urvertrauen erkunden kann. Hat es hingegen emotionale Kälte oder gar viele Formen von Gewalt erfahren, entwickelt es dieses Sicherheitsgefühl nicht. Die Betreffenden legen dann als Erwachsene ganz andere Maßstäbe an als der Durchschnittsbürger, und noch dazu sind ihnen womöglich weder Mitgefühl noch moralische Bedenken ausreichend vermittelt worden.

Um solche Hintergründe zu rekonstruieren, haben Sie Interviews mit Jugendlichen geführt, die wegen rechter Gewalt verurteilt wurden. Gab es Jugendliche, die auf Grund Ihrer türkischen Herkunft Vorurteile gegen Sie persönlich hegten?

Es gab viel weniger Probleme, als wir im Vorfeld befürchtet hatten. In einzelnen Fällen waren anfangs Irritationen zu spüren, aber im Lauf des Interviews verschwand dieser Eindruck. Keiner hat das Interview abgelehnt oder vorzeitig abgebrochen, der Großteil ist mir mit Offenheit und Respekt begegnet. Wir haben auch die Interviews von mir und meinem deutschen Kollegen verglichen: Die Täter schilderten mir ihre Einstellung gegenüber Türken ebenso offen wie ihm. Darunter waren auch einige, die türkische Migranten angegriffen hatten.

Wie haben Sie sich in dieser Situation gefühlt?

Wir haben Vieraugengespräche in gesicherten Besucherräumen geführt, da begegnet man sich von Mensch zu Mensch. Ich war in dieser Situation eine Psychologin, die sich einfach nur eine Geschichte anhören wollte – nicht um zu urteilen, das Urteil war ja schon gefällt. Außerdem musste niemand negative Konsequenzen befürchten. Die Daten wurden anonym und vertraulich behandelt, und die Teilnahme war freiwillig.

Wie schilderten die Jugendlichen ihre Taten rückblickend?

Um sich zu rechtfertigen, verwenden sie häufig so genannte Neutralisierungstechniken. Ein junger Mann sagte: "Wäre ich nicht betrunken gewesen, hätte ich auch nichts gemacht. Aber auf der anderen Seite muss ich sagen: Man kann das auch dramatisieren. Der eine hat von mir nur zwei Ohrfeigen gekriegt, und den anderen hab ich mit der Bierflasche nur gestreift." Hinter solchen Äußerungen verbergen sich nicht nur unterschiedliche Maßstäbe für Gewalt, sondern die zwei am meisten verbreiteten Strategien bei rechtsextremen Gewalttätern: die Tat bagatellisieren und die Verantwortung auf den Alkohol oder auf die Mittäter schieben. Typisch sind auch Äußerungen wie "Die Ausländer haben es nicht anders verdient" und "Der Staat mit seiner Einwanderungspolitik ist schuld". Und mancher beruft sich auf das Gemeinwohl, nach dem Motto: "Irgendjemand muss ja Deutschland von den kriminellen Ausländern befreien."

Unterscheiden sich die Rechtfertigungen dieser Täter von denen anderer Krimineller?

Rechtsextreme machen seltener äußere Umstände verantwortlich, zum Beispiel ihre schlimme Kindheit. Bei gewöhnlichen Gewalttätern kommt das häufiger vor.

Wie haben die Jugendlichen reagiert, als Sie sie mit dem Leid ihrer Opfer konfrontierten?

Viele wollten sich nicht damit auseinandersetzen. Sie sagten: "Ich habe den Preis bezahlt, ich verbüße meine Haftstrafe. Warum soll ich mich weiter mit der Sache beschäftigen?" Sie waren nur an sich selbst interessiert. Wenn sie angaben, die Tat zu bereuen, dann meinten sie weniger die Folgen für die Opfer als die Auswirkungen auf ihr eigenes Leben. Sie bedauerten, dass sie von Partner und Familie getrennt lebten oder dass sie ihren Arbeitsplatz verloren hatten.

Verändert sich diese Denkweise im Lauf der Zeit im Gefängnis?

Wir haben die Jugendlichen nach neun Monaten Haft noch einmal befragt. Bei vielen kommt es in dieser Zeit zu einer Art inneren Reorganisation. Die Haft ist für die Jugendlichen schmerzhaft: Sie spüren zum ersten Mal die Konsequenzen ihres Verhaltens. Einige sind irritiert oder verunsichert, fühlen sich aber ihren Überzeugungen und ihrer rechten Gruppenidentität gegenüber verpflichtet. Deshalb treffen sie eine Unterscheidung: Die rechtsextremistische Einstellung bleibt unberührt, aber die Bereitschaft, danach zu handeln, also zu randalieren oder Gewalt anzuwenden, schwindet.

Hat das Zusammenleben mit ausländischen Insassen einen Einfluss?

Schon, aber unglücklicherweise festigt oder verstärkt die Haft das rechte Gedankengut. In westdeutschen Gefängnissen gibt es einen hohen Ausländeranteil – in den Augen von Rechtsextremen ein Beweis für ihre Überzeugungen. Sie selbst sind dort seltene Exoten. Sie genießen viel Aufmerksamkeit, fühlen sich aber häufig bedroht – von ausländischen Häftlingen, die schlecht Deutsch sprechen, keinen Job haben und im Gefängnis Mitgefangene erpressen oder Schwarzhandel betreiben. So werden alle Vorurteile bestätigt.

Und in ostdeutschen Gefängnissen?

Dort herrscht eine viel größere Akzeptanz für fremdenfeindliche Einstellungen. Es gibt deutlich mehr Jugendgefangene mit rechtsextremistischem Hintergrund als im Westen, und sie sind in Gefangenensubkulturen aktiv. Ein rechtsextremer Insasse braucht seine ideologische Zugehörigkeit nicht zu verstecken. Er findet schnell Anschluss und genießt die Vorteile des Gefangenennetzwerks, gerät dadurch aber auch in Abhängigkeit. Er muss ausländische Gefangene meiden, um keinen Zweifel an seiner Loyalität aufkommen zu lassen.

Setzen sich fremdenfeindliche Übergriffe im Gefängnis fort?

Die Anstalten sind in der Regel in mehrere Lager gespalten, und das Verhältnis zwischen ihnen ist angespannt. Es kommt aber selten zu offenen Konflikten, weil die einzelnen Lager nach Möglichkeit getrennt werden. Noch dazu wirken drohende Sanktionen wie Haftverlängerung sehr abschreckend.

Sollte man die verschiedenen Gruppen nicht eher zusammenzubringen, um Vorurteile abzubauen?

Teilweise gelingt es, Gefangene in kleinen Einheiten zu mischen. Aber das ist infolge von Überbelegung oft nicht möglich. In Ostdeutschland werden Rechtsextreme sogar absichtlich in einem eigenen Block untergebracht, um Konflikte zu vermeiden. Natürlich machen Rechtsextreme in Einzelfällen trotzdem auch mal positive Erfahrungen mit ausländischen Mitgefangenen – und umgekehrt. Solche Begegnungen finden auf persönlicher Ebene statt: Ich und du, wir beide machen uns Sorgen um unsere Zukunft, wir wollen beide hier unseren Schulabschluss schaffen, und wir vermissen beide unsere Familie.

Welche Rolle spielen Angehörige, die zu Besuch ins Gefängnis kommen?

Obwohl die Jugendlichen oft aus desolaten Verhältnissen stammen, gewinnt die Familie während der Haft enorm an Bedeutung. Vor allem im Osten nehmen Jugendliche nach der Haft sofort wieder Kontakt zu ihrer Szene auf, wenn ihnen keine anderen Kontakte bleiben. Die Unterstützung seitens Familie oder Partner trägt deshalb in der kritischen Phase unmittelbar vor und nach der Entlassung entscheidend zur Resozialisation bei – aber nur, sofern die Angehörigen die fraglichen Einstellungen nicht teilen. Sie sollten sogar konkrete Forderungen stellen: Wir sind für dich da, allerdings unter der Bedingung, dass du dich von der Szene distanzierst! Ich habe einmal mit einem jungen Mann gesprochen, der während der Haft Vater geworden ist. Seine Freundin sagte: Nur wenn du aus der Szene aussteigst, darfst du deine Tochter sehen.

Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?

Leider nein. Aber die Chancen, den Absprung zu schaffen, stehen bei ihm besser als bei anderen Jugendstraftätern: Noch während der Haft hat er sich von seinen ehemaligen Kameraden abgewendet.

Vielen Dank für das Gespräch.

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