Influenza: Stehen wir vor einer besonders schweren Grippewelle?

Vor einigen Tagen bat die britische Gesundheitsbehörde NHS die Bevölkerung eindringlich, sich gegen Grippe impfen zu lassen. Sie veröffentlichte ein »flu jab SOS«, einen dringenden Aufruf zur Grippeimpfung also, gerichtet vor allem an ältere und vorerkrankte Menschen sowie Eltern kleiner Kinder, die ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf haben.
»Es sieht so aus, als könnten wir in diesem Jahr vor einer sehr schweren Grippesaison stehen«, sagte Adam Finn, Professor für Pädiatrie an der University of Bristol, dem britischen Science Media Center. Auch andere Fachleute sind nervös. Was sie alarmiert: Gleich mehrere Indizien sprechen dafür, dass in diesem Jahr eine ungewöhnlich schwere Influenza-Saison bevorstehen könnte – in Großbritannien, aber auch darüber hinaus in der nördlichen Hemisphäre, und somit womöglich auch bei uns in Deutschland.
Bereits Anfang November begann, mindestens fünf Wochen früher als sonst, in Großbritannien die Grippesaison – was per Definition der Fall ist, wenn mehr als zehn Prozent der Verdachtsfälle positiv auf Influenza getestet werden. Zu Beginn des Novembers waren es bereits elf Prozent. Nach bisherigen Daten aus Großbritannien breitet sich die Grippe dabei ungewöhnlich schnell aus. Der R-Wert, der angibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt, liegt nicht, wie in gewöhnlichen Jahren, bei etwa 1,1, sondern bei 1,4. Das heißt: 100 Infizierte stecken statt 110 aktuell eher 140 Menschen an.
Die EU-Behörde rät zur unverzüglichen Impfung
Ein ähnliches Muster ist gerade in Japan zu sehen: früher Beginn der Saison, hohe Ausbreitungsrate. Auch in Liechtenstein, Island und Norwegen hat die Grippesaison deutlich früher als gewöhnlich begonnen, schreibt die EU-Gesundheitsbehörde ECDC – und rät allen, die ein hohes Risiko haben, schwer zu erkranken oder sich anzustecken, zur unverzüglichen Impfung.
Und auch in Teilen der USA nimmt die Grippe Fahrt auf. In der texanischen Gesundheitsregion etwa, zu der auch Houston gehört, ist die Zahl der Menschen, die wegen Influenza in die Notaufnahme kommen, schon jetzt fast gleichauf mit dem Höchststand der vergangenen Saison.
Der frühe Start der Grippewelle in mehreren Regionen der Welt deutet darauf hin, dass die Grippeviren es leichter haben als üblich, sich von Mensch zu Mensch auszubreiten – und zwar schon bevor das kalte Wetter es ihnen noch leichter macht.
Einen wahrscheinlichen Grund dafür haben Fachleute schon ausgemacht: eine Untervariante der Influenza A-Viruslinie H3N2. H3N2 zirkuliert seit Jahrzehnten und war auch im Winter 2024/2025 für einen Teil der Influenza-Erkrankungen in Deutschland verantwortlich. Die Variante ist dafür bekannt, dass sie insbesondere ältere Menschen tendenziell schwerer krank macht als der andere relevante Subtyp von Influenza A, H1N1.
- Influenza A und BDie saisonale Influenza wird durch Grippeviren der Typen Influenza A und B verursacht. Bei Influenza-A spielen die Subtypen H1N1 und H3N2 eine Rolle (siehe unten), bei Influenza B werden die Viruslinien Victoria und Yamagata unterschieden. Letztere wurde allerdings weltweit seit März 2020, als in vielen Ländern strikte Coronalockdowns galten, nicht mehr nachgewiesen und gilt als ausgestorben. Aktuell zirkulieren somit nur noch drei saisonale Influenzaviren: Influenza A(H1N1)pdm09, Influenza A(H3N2) sowie Influenza B/Victoria.
- Wofür stehen H und N?Influenza-A-Viren werden nach ihren Oberflächenproteinen H und N weiter unterteilt: Die Kürzel stehen für die wichtigsten Proteine an der Oberfläche der Viren. H steht für Hämagglutinin. Dieses Eiweiß nutzt das Virus, um an Körperzellen andocken. N steht für Neuraminidase. Das Protein dient dem Virus dazu, dass neu gebildete Grippeviren die Zelle wieder verlassen können, um weitere zu infizieren. Vom Hämagglutinin sind 18 Varianten bekannt (H1 bis H18), von der Neuraminidase 11 (N1 bis N11). Einige Subtypen treten fast ausschließlich bei Tieren auf, können aber gelegentlich auch Menschen infizieren und schwere Erkrankungen auslösen, etwa das Vogelgrippevirus H5N1, das derzeit auch in Kühen in den USA zirkuliert.
Allerdings hat H3N2 in den vergangenen Monaten, als das Virus auf der Südhalbkugel zirkulierte, ungewöhnlich viele Veränderungen in seinem Erbgut angesammelt, und zwar an kritischen Stellen des Hämagglutinin-Gens. Dieses Gen enthält den Bauplan für das Oberflächenprotein des Virus, mit dem es an menschliche Zellen andockt. Damit hat sich das Virus so stark verändert, dass es eine neue Subklade bildet, bezeichnet mit dem Buchstaben K.
Die Sorge: Diese Mutationen könnten dazu führen, dass sich das Virus schneller ausbreitet und möglicherweise den Immunschutz, den Menschen aufgebaut haben, leichter umgeht. Bereits jetzt zeige sich, dass, wo immer die Variante auftauche, sie andere Varianten dominiert, sagte die kanadische Forscherin Danuta Skowronski, die die Genveränderungen analysiert hat, dem Gesundheitsportal »Statnews«.
Doch es gibt einen weiteren Grund, warum Fachleute beunruhigt sind: Die Mutationen haben dafür gesorgt, dass die Impfstoffe, die in diesen Wochen verimpft werden, weniger gut passen. Weil die Herstellung so viel Zeit in Anspruch nimmt, gibt eine Expertengruppe der Weltgesundheitsorganisation jedes Jahr bereits Ende Februar eine Empfehlung ab, gegen welche Grippevarianten sich die Impfstoffe für den Winter auf der Nordhalbkugel richten sollten. Sie schätzen also anhand der dann zirkulierenden Varianten, wie die Lage im Herbst wohl aussehen wird. Zwar enthalten die verfügbaren Impfstoffe eine H3N2-Komponente. Die Mutationen, die nun zu Variante K geführt haben, sind aber natürlich nicht abgedeckt.
»So früh in der Saison sind alle Einschätzungen noch sehr hypothetisch.«Susanne Herold, Infektionsmedizinerin
Das ist wichtig, wie Susanne Herold erläutert, Direktorin der Medizinischen Klinik V mit Schwerpunkt Infektiologie des Uniklinikums in Gießen. Denn Antikörper gegen Hämagglutinin sind der wichtigste Bestandteil der Immunantwort gegen Influenza. »Mutationen dort bedeuten, dass die Antikörper möglicherweise nicht mehr so gut wirken.«
Die große Frage, die Expertinnen und Experten nun also umtreibt: Wie effektiv sind angesichts der neuen Mutationen die verfügbaren Impfstoffe?
Wie gut wirken die Impfstoffe?
Genau weiß das zum jetzigen Zeitpunkt niemand. Doch Herold ist vorsichtig optimistisch. So zeigt eine erste, noch vorläufige Studie aus Großbritannien, dass die Impfstoffe bei Erwachsenen die Rate der Krankenhausaufenthalte um 30 bis 40 Prozent senken, bei Kindern um 70 bis 75 Prozent. »Unsere Daten deuten darauf hin, dass die Impfung nach wie vor ein wirksames Präventionsmittel gegen die zirkulierende Influenza A(H3N2) ist«, schreiben die Autorinnen und Autoren.
Doch Herold schränkt ein: Generell lasse sich erst am Ende einer Saison sagen, wie effektiv die Impfstoffe waren. »So früh in der Saison sind alle Einschätzungen noch sehr hypothetisch.« Das liegt auch daran, dass zu Beginn einer Grippesaison das Virus typischerweise vor allem unter Kindern, Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen zirkuliert, die besonders viele Sozialkontakte haben. Entscheidend für den Verlauf der Grippewelle ist aber, was passiert, wenn das Virus in die höheren Altersgruppen kommt – jene, deren Risiko für einen schweren oder gar tödlichen Verlauf ungleich höher ist. Zudem ist der Impfschutz typischerweise am Start der Saison noch frisch, die ersten Schätzungen dürften also während der Grippewelle nach unten korrigiert werden müssen.
Aus Australien, wo Subklade K die historisch hohe Grippewelle über den September hinaus verlängert hat, gibt es bisher zumindest keine Alarmzeichen, dass die Mutante per se schwerere Krankheitsfälle verursacht. Doch wenn sich mehr Menschen als gewöhnlich anstecken, etwa weil die Grippewelle früher als gewöhnlich startet, steigt anteilig auch die Zahl jener Infizierten mit einem schweren Verlauf.
Es geht nicht nur um Antikörper
Daher betonen Fachleute unisono: Die Nachricht, dass sich das Virus verändert hat, sei nicht als Zeichen zu verstehen, sich nicht impfen zu lassen. Schließlich schützt die Impfung auch vor der anderen Influenza-A-Linie, H1N1, sowie Influenza B und H3N2-Varianten außer Subklade K.
Und: Auch in früheren Jahren passte die Impfung teils nicht gut zu den zirkulierenden Viren. Im Winter 2014/15 etwa gab es ein solch starkes »vaccine mismatch« für H3N2. Doch Menschen, die geimpft waren, erkrankten dennoch seltener so schwer, dass sie ins Krankenhaus mussten.
Ein möglicher Grund: Eine Impfung sorgt eben nicht nur dafür, dass der Körper Antikörper bildet, sondern regt auch die Immunität durch T-Zellen an. Sie ist entscheidend dafür, ob eine Infektion so schwer verläuft, dass ein Infizierter ins Krankenhaus muss. Die T-Zell-Immunität ist deutlich breiter als diejenige, die von Antikörpern vermittelt wird und somit schwerer auszuhebeln. »Wenn es jemals ein Jahr gab, in dem man sich gegen Grippe impfen lassen sollte, dann ist es dieses Jahr«, sagte Scott Hensley, Mikrobiologe und Influenza-Impfstoffforscher an der University of Pennsylvania, gegenüber »Statnews«.
In Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission eine Influenza-Impfung allen über 60, Vorerkrankten und Schwangeren sowie beruflich exponierten Personen. Und auch Jüngere, die sich schützen wollen, sollten das jetzt tun, sagt Herold. Denn selbst falls der Impfstoff dieses Jahr etwas weniger wirksam sein sollte, biete er dennoch Schutz, besonders vor schweren Erkrankungen.
Was kommt auf Deutschland zu?
Dabei ist längst nicht ausgemacht, wie die Grippesaison hierzulande verlaufen wird. Das Robert Koch-Institut schreibt auf Anfrage, was viele Influenzaexperten stets gebetsmühlenartig wiederholen: »Der Verlauf einer Grippesaison lässt sich nicht vorhersagen.« Von einem schweren Verlauf in einer Region lasse sich nicht auf eine andere Region schließen. Ob die H3N2-Subklade K in Deutschland Probleme bereitet, ist also noch offen.
Das hängt auch davon ab, wie gut der Schutz in der Bevölkerung ausgeprägt ist. Denn hohe vorangegangene Influenzawellen hinterlassen eine gewisse Immunität. Auch wenn sich das Virus verändert hat, dürfte eine starke H3N2-Welle, wie Deutschland sie etwa im Winter 2022 erlebt hat, noch einen gewissen Schutz bieten. Dadurch, dass in dieser Saison vor allem viele Kinder an Influenza erkrankten, sei die Immunität gegen H3N2 immer noch ziemlich stark ausgeprägt, sagte Ralf Dürrwald, der am RKI das Nationale Referenzzentrum für Influenzaviren leitet, der ZEIT im Februar 2025. Das zeigen Daten, die die Fachleute im Sommer 2024 erhoben hatten. Vergangene Saison allerdings spielte H3N2 hierzulande keine große Rolle, daher dürfte die Immunität seitdem zurückgegangen sein.
Derzeit ist es in Deutschland relativ ruhig. Influenzaviren wurden laut dem aktuellen RKI-Bericht in der Woche vom 11. bis 16. November nur vereinzelt in Laborproben nachgewiesen. Noch lässt die Grippe auf sich warten.
Derweil stellt sich die Europäische Gesundheitsbehörde ECDC auf das Szenario ein, dass Europa eine ungewöhnlich schwere Grippesaison erleben könnte, insbesondere wenn die Impfquoten niedrig sind. Eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Infektionen würde zusätzlichen Druck auf die Gesundheitssysteme ausüben, schreibt die Behörde.
Man müsse das Infektionsgeschehen im Hinblick auf die neue H3N2-Subklade genau beobachten, sagt auch die Spezialistin für Lungeninfektionen Susanne Herold. »Gegebenenfalls müssen wir uns auf ein höheres Patientenaufkommen vorbereiten.«
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