Insektensterben: Bestäuber im Sinkflug
Im Oktober 2018 rüttelte ein kleiner Verein aus Krefeld die Öffentlichkeit förmlich über Nacht wach: Die Mitglieder hatten in der Fachzeitschrift »PLOS ONE« eine Studie veröffentlicht, nach der Insekten innerhalb der letzten 30 Jahre um bis zu 80 Prozent zurückgegangen waren. Seit 1989 hatten die Hobby-Entomologen des Vereins regelmäßig auf einer kleinen, naturbelassenen Fläche inmitten einer für heute so typischen Agrarlandschaft mit großen Feldern, ein paar Hecken und vereinzelten Wäldchen fliegende Insekten gefangen und gezählt. Während anfangs an einem Tag durchschnittlich knapp zehn Gramm der Tiere in ihren Fallen gelandet waren, waren es am Ende weniger als zwei. Über die Studie berichteten neben klassischen Medien auch renommierte Fachzeitschriften wie »Nature« oder »Science«. Politiker sowie Umweltschützer richteten anschließend mahnende Worte an die Öffentlichkeit und beriefen sich auf die Besorgnis erregenden Ergebnisse aus Krefeld.
Kritiker bemängelten allerdings, dass wichtige Fragen unbeantwortet blieben: Bedeutet der ermittelte Mengenverlust wirklich, dass Insekten weniger werden? Es könnten etwa nur einst häufige Arten zurückgehen, während es anderen besser geht. Lassen sich die Ergebnisse tatsächlich auf ganz Deutschland oder sogar darüber hinaus übertragen? Womöglich ist das Phänomen lokal begrenzt.
Doch schon ein Jahr später lieferte eine neue Studie einer Forschergruppe um Sebastian Seibold und Wolfgang Weisser von der Technischen Universität München traurige Gewissheit: Der Trend ist an verschiedenen Standorten über ganz Deutschland zu beobachten und schließt zahlreiche Insektenarten mit ein, so das Fazit. Weitere Studien folgten und bestätigten den mitunter dramatischen Rückgang der Insekten sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern.
Dieser Befund ist deshalb so bedenklich, weil viele Ökosysteme ohne Insekten nicht funktionieren. Die Tiere dienen etwa als Nahrungsgrundlage für andere Arten, darunter Vögel oder Amphibien. Darüber hinaus bestäuben etliche Insektenarten Pflanzen und sorgen so dafür, dass diese sich vermehren. Zu den Bestäubern zählen unter anderem Schmetterlinge, Fliegen, Käfer, Wespen, Hummeln und natürlich das bekannteste Beispiel, die Bienen.
Mittlerweile ist belegt, dass fast alle bestäubenden Insekten von einem mengenmäßigen Abwärtstrend betroffen sind. Ironischerweise stellt die einzige Ausnahme jene Bienenart dar, die den meisten Menschen beim Stichwort Insektensterben als Erstes in den Sinn kommt: die Europäische Honigbiene. Selbstverständlich stehen diese Tiere vor ähnlichen Herausforderungen wie ihre Verwandten – kaum naturbelassene Landschaften, Nahrungsknappheit und Pestizide. Im Gegensatz zu den Wildbienen werden sie jedoch von Imkerinnen und Imkern im Land umsorgt, und entsprechend sind ihre Bestände kaum gefährdet.
Anders sieht es bei den wilden Exemplaren aus; das sind in Deutschland 561 bekannte Arten. Gemäß der aktuellsten Einschätzung aus dem Jahr 2011 von führenden deutschen Wildbienenexperten sind davon 293 in ihrem Bestand bedroht, das entspricht mehr als der Hälfte. Lediglich etwas mehr als ein Drittel gilt als nicht gefährdet. Sieben Prozent sind entweder schon ausgestorben oder zumindest verschollen. Die restlichen Arten befinden sich auf einer so genannten Vorwarnliste, oder es liegen nicht genügend Daten vor. Am stärksten bedroht sind wohl jene Arten, die vor allem im Spätsommer in ländlichen Gebieten fliegen, wie eine 2019 publizierte Studie einer Gruppe um Susanne Renner von der Ludwig-Maximilians-Universität München nahelegt.
Bei Schmetterlingen ist die Lage ähnlich düster. Hier gelten mehr als 40 Prozent der 189 in Deutschland vorkommenden oder ehemals beheimateten Tagfalter als bestandsgefährdet oder als bereits ausgestorben. Nur weniger als ein Drittel ist nicht bedroht. Unter diesen Arten ist bei fast zwei Dritteln in den letzten Jahrzehnten ein kontinuierlicher Rückgang ihres Bestands zu verzeichnen. Lediglich für magere zwei Prozent wurde ein Zuwachs beobachtet. Wohlgemerkt enthalten diese Daten allenfalls einen kleinen Ausschnitt der Schmetterlingsarten. Der große Teil zählt zu den Nachtfaltern, insgesamt mehr als 3500 Spezies. Ihre Bestände wurden bisher weit weniger erforscht. In Bayern gilt schon ein Drittel der dort vorkommenden Nachtfalter als bedroht.
Kaum Schwebfliegen in der Falle
Noch schlechter ist die Situation der Schwebfliegen. Etwa die Hälfte der 463 Arten in Deutschland galten bereits im Jahr 2011 als gefährdet. 2020 erschien in der »Deutschen Entomologischen Zeitschrift« ein Artikel des Teams um Wulf Gatter. Die Entomologen hatten über 40 Jahre an der Forschungsstation Randecker Maar auf der Schwäbischen Alb Schwebfliegen, Waffenfliegen und Schlupfwespen gefangen. Im Vergleich zu der Situation zwischen 1978 und 1987 fanden sie von 2014 bis 2019 über 90 Prozent weniger Schwebfliegenarten – vor allem solche, deren Larven sich von anderen Insekten wie Blattläusen ernähren.
Im Januar 2021 publizierte die Fachzeitschrift »Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS)« eine Spezialausgabe zum Thema Insektensterben. Sie basierte auf einem Treffen der US-amerikanischen Entomologischen Gesellschaft in St. Louis, Missouri, bei dem zahlreiche Experten das Thema Insektensterben und die Gründe dafür beleuchtet hatten. Das kaum überraschende Fazit der Fachwelt lautete: Die Schuldigen sind die »üblichen Verdächtigen«, allen voran die intensive industrielle Landwirtschaft. Mit ihr gehen ein erheblicher Einsatz von giftigen Pestiziden und ein massiver Rückgang naturbelassener Landschaften einher. Auf den meisten Agrarflächen fehlen diejenigen Pflanzen, die den Bestäubern als Nahrungsgrundlage oder Nistplatz dienen. In Städten und Siedlungsgebieten ist die Situation oft ähnlich. Zusätzlich kommt in urbanen Regionen noch die Lichtverschmutzung hinzu, die vielen nachtaktiven Insekten wie Nachtfaltern zum Verhängnis wird. Auch der Klimawandel macht den Tieren zunehmend zu schaffen. Da Insekten besonders gut an ihren Lebensraum angepasst sind, reagieren sie sensibel auf minimale Veränderungen in ihrer Umwelt. Schätzungen zufolge könnten bei einer Temperaturerhöhung um zwei Grad rund 20 Prozent der Insekten die Hälfte ihres Lebensraums verlieren.
Das Verschwinden der Insekten hat erhebliche ökologische Auswirkungen. 2006 zeigte ein Team um den Ökologen Koos Biesmeijer vom holländischen Naturalis Diversity Center, dass Wildpflanzen und Bienen in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich gleichermaßen zurückgingen. Solche korrelativen Studien können nicht klären, ob die Tiere weniger werden, weil sie keine passenden Nahrungspflanzen finden, oder ob Pflanzen schwinden, weil die Bestäuber fehlen. Sie weisen aber darauf hin, dass Kultur- wie Wildpflanzen mit bestäubenden Insekten derart eng miteinander verbunden sind, dass der Verlust der einen sich auf die anderen auswirkt.
Zudem dienen zahlreiche Insekten als Nahrung, allen voran vielen Singvögeln, aber auch anderen Insekten wie Wespen. Oder sie leisten als Larven wichtige »Dienstleistungen« für die Pflanzenwelt – etwa indem sie Schädlinge vertilgen. Schwebfliegenlarven verspeisen zum Beispiel zuhauf Blattläuse. Der Erhalt insbesondere der bestäubenden Insekten ist also unmittelbar mit dem Schutz funktionierender Ökosysteme verknüpft. Fehlen diese Tierarten, werden viele andere Lebewesen und Pflanzen ebenfalls von unserem Planeten verschwinden.
Der Diversitätsverlust hat auch unmittelbare ökonomische Folgen. Bereits 2009 ermittelte ein Team um Nicolas Gallai und Bernhard Vaissière, damals am Institut national de la recherche agronomique (INRA) in Avignon, Frankreich, dass tierische Bestäuber – Insekten, Vögel, Fledermäuse und andere Wirbeltiere – weltweit eine Leistung für Kulturpflanzen erbringen, die einem Geldwert von etwa 153 Milliarden Euro entspricht. Das sind knapp zehn Prozent des Gesamtbetrags der landwirtschaftlichen Produktion im Jahr 2005.
Manche Kulturpflanzen, wie zum Beispiel Kiwi, Wassermelone oder Kürbis, können ohne tierische Bestäuber kaum Früchte ausbilden. Andere, darunter viele Obstsorten, Gurken oder Avocado, haben nach der Bestäubung durch Tiere bis zu 90 Prozent mehr Fruchtansätze. Bei Raps, Sonnenblumen oder vielen Erdbeersorten steigt der Ertrag durch Insektenbestäubung immerhin um bis zu 40 Prozent an. Eine umfassende Liste über die Abhängigkeit verschiedener Kulturpflanzen von Bestäubern hat Alexandra-Maria Klein, heute an der Universität Freiburg, gemeinsam mit internationalen Kollegen und Kolleginnen 2006 in »Proceedings of the Royal Society B« veröffentlicht. Demnach hängen drei Viertel aller Kulturpflanzen auf der Erde mehr oder weniger stark von tierischen Bestäubern ab. Dieser Anteil macht weltweit fast ein Drittel der pflanzlichen Nahrungsmittelproduktion aus.
Auf Grundlage verschiedener Parameter wie Bestäuberabhängigkeit, jährliches Produktionsvolumen und Weltmarktpreis der jeweiligen Kulturpflanze lässt sich näherungsweise der finanzielle Beitrag schätzen, der auf das Konto der Bestäuber geht. 2013 wendeten wir dieses Berechnungsprinzip auf die Länder der Europäischen Union (EU) an. Außerdem ermittelten wir für jedes EU-Land das jeweilige Gefährdungspotenzial im Fall eines massiven Rückgangs oder gar Ausfalls der Bestäuber. Dazu betrachteten wir, welchen Anteil die bestäuberabhängigen Kulturpflanzen am Gesamtertrag ausmachen. Für Deutschland lag dieser zwischen 1991 und 2009 beispielsweise bei 13 Prozent. Der durch die Tiere erwirtschaftete Betrag summierte sich im Schnitt auf mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr. Äpfel, verschiedene Kohlsorten und Raps gehören dabei zu denjenigen Kulturpflanzen, die hier zu Lande am meisten von den Bestäubern profitieren. Die größten ökonomischen Einbußen auf Grund eines Bestäuberschwunds müssen allerdings die südlichen EU-Länder fürchten, darunter Spanien, Italien, Frankreich und Griechenland. Dort ist man am stärksten auf die Arbeit der fleißigen Insekten angewiesen, wie unsere Berechnungen demonstrieren.
Höhere Diversität, größerer Ertrag
Zwei in den Tropen durchgeführte Studien veranschaulichen wiederum die Bedeutung der Bestäuberdiversität. Klein und zwei weitere Forscher zeigten 2003, dass ein Anstieg an Bestäubern von 3 auf 20 Arten bei Kaffeepflanzen in Indonesien zu einem 30 Prozent höheren Fruchtansatz führte, und dies völlig unabhängig von der Häufigkeit, mit der die Blüten besucht wurden. Die Anzahl der in den Kaffeeplantagen vorkommenden Spezies war ihrerseits abhängig von der Entfernung zum Regenwald: Je näher am Wald, desto mehr Arten flogen die Kaffeepflanzen an.
2005 stellten der US-amerikanische Ökologe Taylor Ricketts und sein Team auf einer Konferenz eine zuvor veröffentlichte Studie vor. Sie hatten den Gewinn aus dem Ernteertrag von Kakaoplantagen in Costa Rica berechnet. Die Plantagen befanden sich ebenfalls unterschiedlich weit von Regenwaldresten und damit dem Zuhause zahlreicher bestäubender Insekten entfernt. Farmen in Reichweite der im Wald beheimateten Bestäuber erwirtschaften jährlich 60 000 US-Dollar mehr als solche, die weiter entfernt waren. Ich nahm damals als Studentin mit Forschungsgebiet tropische Bienen teil und war begeistert von dem Vortrag. Enttäuschung machte sich allerdings in mir breit, als Ricketts auf meine Frage, ob diese Ergebnisse auch den Bauern und Interessenvertretern vor Ort mitgeteilt worden waren, mit einem verständnislosen »Nein« antwortete.
Immerhin hat sich inzwischen ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass es sowohl aus ökologischer als auch aus ökonomischer Sicht sinnvoll ist, wenn möglichst viele unterschiedliche Bestäuberarten vorkommen. Das liegt an einem gerade für Ökosysteme typischen Phänomen: der Absicherung durch Diversität. Fällt aus irgendwelchen Gründen eine Art aus, weil sie etwa einem plötzlichen Aussterbeereignis zum Opfer fällt, dann können die anderen Arten diesen Ausfall kompensieren.
Ein weiterer Vorteil einer solchen Systemstruktur heißt Komplementarität. Beispielsweise meiden gerade Honigbienen kühle regnerische Temperaturen, wie sie häufig im Frühjahr vorkommen. Zu diesen Zeiten sind dann vor allem die an Kälte angepassten Hummeln als Bestäuber unterwegs und damit essenziell für früh blühende Obstsorten. Auch mögen Honigbienen keinen Wind, wie 2012 Klein und ihre Kollegen herausfanden. Sie hatten das Verhalten von Honig- und Wildbienen auf Mandelplantagen in Kalifornien untersucht und dabei festgestellt, dass Honigbienen lieber zu Hause bleiben, wenn es stark bläst. Die wilden Pendants zeigten sich hingegen von solchen Wetterbedingungen wenig beeindruckt. Mandelbaumblüten wurden daher an windigen Tagen in Plantagen, in denen außer Honigbienen keine weiteren Bestäuber aktiv waren, nicht befruchtet.
Passend zu diesem Ergebnis berichtete eine Forschergruppe um Lucas Garibaldi von der argentinischen Universidad Nacional de Río Negro 2013, dass der Ertrag von mehr als 40 der weltweit angebauten Kulturpflanzen in Anwesenheit von Wildbienen doppelt so hoch ist, wie wenn lediglich Honigbienen vorkommen. Nur auf Letztere zu setzen, ist also auch aus rein wirtschaftlicher Perspektive keine gute Idee.
Es gibt demnach ökologische wie ökonomische Gründe, den kontinuierlichen Verlust an Bestäubern aufzuhalten. Einzig auf solche Weise lässt sich sicherstellen, dass neben der faszinierenden Vielfalt dieser Tiere ebenfalls deren herausragende Leistung, die Bestäubung zahlreicher Wild- und Kulturpflanzen, erhalten bleibt. Es ist daher allerhöchste Zeit, der Bedeutung dieser Tiere mit großer Vehemenz Aufmerksamkeit zu verschaffen und alles daranzusetzen, ihren beeindruckenden Artenreichtum dauerhaft zu erhalten.
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