Insektensterben: »Wir sind immer noch bei Stufe null«

Das Insektensterben ist in aller Munde, seit die Krefelder Studie im Jahr 2017 erschienen ist. 30 Jahre lang haben die Krefelder Entomologen in Naturschutzgebieten in Deutschland Insekten gefangen und herausgefunden, dass die Biomasse der Fluginsekten in Naturschutzgebieten in dieser Zeit um mehr als 75 Prozent geschrumpft ist. Die Daten, die dieser Studie zu Grunde liegen, sind immer wieder kritisiert worden – zuletzt von Kollegen aus Würzburg. Jetzt reagieren die Autoren der Krefelder Studie mit einem eigenen Artikel in »Nature« darauf.
Vor anderthalb Jahren haben Würzburger Forscher im Fachmagazin »Nature« einiges Aufsehen erregt. In ihrer Studie analysierten die Biologen die Daten aus Krefeld zusammen mit Erhebungen aus eigenen Fängen in Bayern. Die Autorinnen und Autoren titelten: »Wetter erklärt Rückgang und Anstieg der Insektenbiomasse über 34 Jahre«. Die Veröffentlichung stieß schon damals auf Kritik.
Die erhält Roland Mühlethaler vom Michael-Otto-Institut im Naturschutzbund (Nabu) auch heute aufrecht. Er ist einer der Autoren um die Krefelder Entomologen, die jetzt noch einmal in »Nature« auf diese Studie reagieren. »Wenn man nur den Titel liest, hat man das Gefühl, es ist nur das Wetter schuld«, sagt er. Außerdem schrieben die Würzburger Forscher: Der Trend habe sich umgekehrt. Seit 2017 hätten sich die Insektenbestände wieder etwas erholt.
Roland Mühlethaler und sein Team bemängeln, dass die Würzburger Kollegen andere Methoden verwenden, unter anderem andere Fallen: »Darum sind diese Daten auch nur bedingt vergleichbar.« Außerdem haben die Krefelder jetzt ihre Daten aus den Jahren bis 2017 um die Erkenntnisse aus zwei neuen Projekten ergänzt, vor allem aus dem Dina-Projekt sowie aus Erhebungen der Krefelder für ein Update ihrer Studie. Dina steht für »Diversität von Insekten in Naturschutz-Arealen« und wird vom Nabu geleitet.
Das Insektensterben geht unverändert weiter
Roland Mühlethaler fasst die Analyse so zusammen: »Die niedrigen Werte von 2017 sind gleich tief geblieben oder nehmen sogar noch etwas ab.« Dabei seien in die aktuelle Studie auch Daten von Standorten eingeflossen, an denen man mehr Insekten vermuten könne, zum Beispiel in Süddeutschland. »Wir hatten einige Standorte in Baden-Württemberg, wo allein wegen des Klimas mehr Insekten unterwegs sind als im Norden«, sagt Mühlethaler, »aber selbst da waren die Bestände sehr niedrig.« Es geht den Insekten also weiterhin schlecht.
Die Würzburger Forscher reagieren ihrerseits in »Nature« auf die Vorwürfe: Sie hätten gar nicht nach Trends gesucht, sondern nach Erklärungen für das Insektensterben. Und werfen den Krefeldern vor, auch deren neue Daten eigneten sich nicht für Trendanalysen.
»Der Entomologische Verein Krefeld liefert in einer Wahnsinnsarbeit die Daten, die sonst niemand sammelt«Christoph Scherber, Ökologe
Der Streit wirkt für Außenstehende reichlich akademisch. Er zeigt aber einmal mehr, wie schlecht die Datenlage zur Biodiversität in Deutschland ist. So sieht es auch Christoph Scherber. Er leitet das Zentrum für Biodiversitätsmonitoring am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels in Bonn. »Es rächt sich, dass die Datenbasis in Deutschland nach wie vor schlecht ist und wir kein durchgängiges Insektenmonitoring haben.«
Dabei war eine wichtige Folge der ursprünglichen Krefelder Studie die Einrichtung des Nationalen Monitoringzentrums zur Biodiversität in Leipzig. Es ist dem Bundesamt für Naturschutz angegliedert. Doch das Monitoringzentrum komme nur schleppend in Gang, sagt Scherber: »Wir sind immer noch bei Stufe null vom Insekten-Monitoring in Deutschland.«
Beobachtungen über lange Zeit, die nötig wären, um Trends abzubilden, werden also noch Jahre auf sich warten lassen. Ein wesentlicher Kritikpunkt an den Daten der Krefelder Studie: Die Entomologen wechseln die Standorte ihrer Fallen, von keinem Standort gibt es also durchgehende Daten über die mehr als 30 Jahre der Erhebung. Zusammen mit Statistikern der Universität Nijmegen in den Niederlanden haben die ehrenamtlichen Insektenforscher die Daten so ausgewertet, dass sie belastbare Schlüsse ziehen konnten. Bei allen Mängeln füllten die Daten der Krefelder Entomologen damit weiterhin eine riesige Lücke, sagt Christoph Scherber: »Der Entomologische Verein Krefeld liefert in einer Wahnsinnsarbeit die Daten, die sonst niemand sammelt, die Universitäten machen das nicht, die anderen Forschungsinstitute auch nicht, Bund und Länder machen auch nichts.«
Die meisten Studien vernachlässigen Wechselwirkungen
Mängel sieht der Wissenschaftler vom Bonner Leibniz-Institut auch in der Studie der Würzburger Fachleute und anderer Forschungsgruppen: »Wo all diese Studien ein bisschen zu kurz denken: Sie werfen immer alle möglichen Messgrößen – Zeit, Wetter, Landnutzung in der Umgebung – ebenbürtig in ihr Modell.« Das entspreche aber nicht der Weise, wie Ökosysteme funktionieren. Man müsse sich die Lebensräume vielmehr als Netzwerke vorstellen, in denen sich alles gegenseitig beeinflusst. »Diese Wechselwirkungen hat keine der Studien bisher angeschaut«, sagt Scherber.
»Man kann das gar nicht oft genug sagen: Wir haben die Werkzeuge in der Hand«Christoph Scherber, Ökologe
Gleichzeitig warnt er ausdrücklich davor, immer weiter auf bessere Daten zu warten. Die Treiber des Artensterbens allgemein und des Insektensterbens im Speziellen seien hinreichend bekannt: die Folgen der Flurbereinigungen, der Verlust von Feldrändern und Brachflächen sowie Kunstdünger und Gifte gegen Insekten, unerwünschte Kräuter und Pilze. »Wir stehen nach wie vor auf dem Gaspedal in der Landnutzung«, fasst Christoph Scherber zusammen, »es ist klar, dass das zu einem massiven Rückgang an biologischer Vielfalt auf allen Ebenen führt, beispielsweise bei Vögeln oder Insektengruppen.«
Biodiversität lohnt sich – für die Gesundheit und Ertrag
Dabei zeigen Studien, dass Vielfalt und Biodiversität Vorteile für den Menschen auch auf solchen Flächen bringen, die landwirtschaftlich genutzt sind. Ein internationales Team, dem auch Scherber angehört, hat im Fachblatt »Science« im vergangenen Jahr gezeigt: Maßnahmen, die den Boden und die Artenvielfalt schützen, fördern die Gesundheit des Menschen und sorgen für höhere Erträge.
Es sei also längst bekannt, in welche Richtung wir die Landbewirtschaftung ändern sollten, fasst Christoph Scherber zusammen: »Man kann das gar nicht oft genug sagen: Wir haben die Werkzeuge in der Hand.« Es könne noch Jahre dauern, bis ein sauberes Monitoring zur Verfügung stehen. »Die Gefahr besteht, dass es dann nichts mehr zu monitoren gibt.« Dann gebe es keinen Kiebitz mehr, und auch keinen Mosel-Apollofalter.
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