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Verhaltensbiologie: Nutztieren gerecht werden

Schweine, Rinder und Ziegen verfügen über ein erstaunlich komplexes mentales Innenleben, zeigen Forschungsarbeiten der letzten Jahre. Diese Erkenntnis beeinflusst entscheidend unser Verständnis von Tierwohl und erfordert ein Umdenken darüber, wie wir Tiere halten und behandeln.
Eine Ziege mit braunem und weißem Fell blickt direkt in die Kamera vor einem schwarzen Hintergrund. Sie trägt eine gelbe Ohrmarke mit der Nummer "110" und ein grünes Halsband.
Nutztiere offenbaren sich als intelligente und einfühlsame Wesen – Eigenschaften, die in der Tierhaltung nahezu unberücksichtigt bleiben.

Ein Videoausschnitt aus einer unserer Versuchsreihen beeindruckt mich noch immer: Das sechs Wochen alte Ferkel mit der blauen Rückennummer 1 betritt die Testarena unseres Versuchsstalls, steht etwas unschlüssig da und schaut abwechselnd nach links und rechts. Es sieht fast so aus, als ob es darüber nachdenkt, was es jetzt tun soll. Nach etwa zehn Sekunden »Bedenkzeit« läuft es zielstrebig auf eine mittig vor ihm stehende Box zu, öffnet mit der Schnauze den Deckel und holt sich die Futterbelohnung, eine kleine Portion Apfelmus. Unsere Versuchstiere hatten zuvor gelernt, dass auf der einen Seite der Arena ein Leckerbissen lockt, während sie gegenüber mit einer knisternden Plastiktüte erschreckt werden, falls sie die Kiste öffnen. Was passiert aber, wenn die Box in der Mitte steht?

In einer 2004 erschienenen, für die moderne Tierschutzforschung wegweisenden Studie hatte das Team von Michael Mendl von der University of Bristol das aus der Humanpsychologie stammende Konzept der kognitiven Verzerrung (cognitive bias) auf Ratten angewendet. Die Idee dahinter lautet, dass Emotionen beeinflussen, wie ein Individuum auf einen mehrdeutigen Reiz reagiert. So neigen ängstliche Personen dazu, Ereignisse im Zweifelsfall eher als ungünstig zu bewerten. Umgekehrt können Forscher aus der Entscheidung eines Individuums auf dessen emotionalen Zustand rückschließen. Mendl und seine Kolleginnen hatten nun Ratten beigebracht, bei einem bestimmten Ton einen Hebel zu drücken, um Futter zu ergattern, während sie ihn bei einem anderen Klang unangetastet lassen sollten, um nicht mit einem unangenehmen Störgeräusch bestraft zu werden. Stressten die Forscher ihre Versuchstiere und präsentierten dann einen Ton, dessen Höhe genau zwischen den beiden vorher gelernten lag, mieden diese den Hebel – sie reagierten also eher »pessimistisch«. Ungestresste Ratten dagegen betätigten ihn meist »optimistisch« in Hoffnung auf den Leckerbissen.

Themenwoche: Wie Tiere denken und fühlen

Natürliche Neugier

Wenn die Verhaltensforschung der letzten Jahre eines sehr deutlich zeigt, dann dass wir die kognitiven und emotionalen Leistungen zahlreicher nichtmenschlicher Lebewesen lange unterschätzt haben. Dabei nicht zu vergessen: jene der so genannten »Nutztiere«. Wollen wir das gesamte Spektrum des tierischen Verhaltens und Denkens begreifen, dann dürfen wir uns Menschen dabei nicht in den Mittelpunkt stellen. Wie kann das gelingen? Antworten auf diese und weitere Fragen liefert »Spektrum.de« in einer Themenwoche.

Intelligenz: Nicht das Maß aller Dinge

Hunde: Die Welt mit der Nase sehen

Soziale Kognition: Sind Tiere empathisch?

Verhaltensbiologie: Nutztieren gerecht werden

Insektengemeinschaften: »Ameisen sind soziale Superstars«

Alle Inhalte zur Themenwoche »Wie Tiere denken und fühlen« finden Sie auf unserer entsprechenden Themenseite.

Unser Ferkel Nummer 1 hat sich auf den ambivalenten Reiz der in der Mitte stehenden Box ebenfalls als »Optimist« gezeigt: Schnurstracks lief es auf die Kiste zu, da es offensichtlich eher mit Futter als mit Strafe rechnete (siehe »Optimistisches Schwein«).

Um zu untersuchen, inwieweit so ein emotional getriggertes Verhalten bei Hausschweinen (Sus scrofa domesticus) – ähnlich wie beim Menschen – von den bekannten neurochemischen Prozessen im Gehirn beeinflusst wird, senkten wir bei Ferkeln den Serotoninspiegel in verschiedenen Hirnarealen wie der Amygdala oder dem Hypothalamus durch den Inhibitor p-Chlorphenylalanin. Daraufhin reagierten die Tiere signifikant verzögert auf den ambivalenten Reiz, was eine »pessimistische« Haltung vermuten lässt.

Optimistisches Schwein | Das Schwein mit der Nummer 1 hatte am Forschungsinstitut für Nutztierbiologie an einem »Cognitive-Bias-Test« teilgenommen. Dabei hatte es zuvor gelernt, dass auf einer Seite einer Versuchsarena ein Behälter mit einer Futterbelohnung wartet (positive Konditionierung), während auf der anderen eine Bestrafung droht (negative Konditionierung). Präsentierten die Forscher nun eine Testbox, die dazwischen stand, musste sich das Versuchstier entscheiden, ob es die Kiste öffnet oder nicht. »Optimistisch« eingestellte Schweine zögern nicht lange und laufen zur Box (kurze Latenz). Ein länger andauerndes Verharren (lange Latenz) spricht dagegen für »Pessimismus«.

Mit solchen kognitiven Entscheidungstest, die auf einem überprüfbaren emotionalen Zustand beruhen, sollte sich demnach das Wohlergehen von Nutztieren beurteilen lassen. Und tatsächlich konnte die Gruppe um Melissa Bateson von der Newcastle University 2012 nachweisen, dass Schweine durch äußere Lebensumstände wie verbesserte Haltungsbedingungen mit weichem Stroh, anregendem Spielzeug oder mehr Platz »optimistischer« agierten als Kontrolltiere, die unter Standardbedingungen gehalten wurden.

»Aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf«

Seit vielen Jahren versuchen mein Team und ich herauszufinden, wie man mit solchen und anderen Ansätzen das Verhalten und Innenleben unserer Nutztiere erforschen und vor allem ihre kognitiven und affektiv-emotionalen Fähigkeiten sichtbar machen kann. Dahinter steckt die gesellschaftliche, je nach Standpunkt durchaus kontrovers geführt Debatte, ob Schweine, Rinder und Ziegen eher als zweckdienliche Objekte zur Nutzung durch den Menschen oder – biologisch begründet und wie andere Tiere auch – als Subjekte mit eigenen Erfahrungen und klaren Verhaltensansprüchen zu betrachten sind. Auf der Ebene des Tierschutzrechts der Europäischen Union ist das erstaunlich deutlich formuliert. Den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen (sentient beings) ist demnach in vollem Umfang Rechnung zu tragen. Auch im deutschen Tierschutzgesetz heißt es in Paragraf 1, dass »aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen« ist. Und weiter: »Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.«

Bedenkzeit | Ein Schwein zögert, ob es zu der rechts stehenden Box laufen soll – könnte hier doch eine Futterbelohnung locken oder eine Strafe drohen. Schließlich …
Entschluss | … entscheidet es sich dafür, die Box zu öffnen, und offenbart somit seinen »Optimismus«.

Trotz dieser Klarheit geht in der gesellschaftlichen, aber auch in der wissenschaftlichen Debatte oft unter, dass die Tierschutzgesetzgebung Begriffe wie Wohlbefinden oder Leiden kaum kritisch hinterfragt. Hinzu kommt, dass Verhaltensbiologen und Zoologen lange zögerten, mentale Zustände von Tieren als objektive Parameter zu erfassen. Begründet haben sie das zum einen mit dem Hinweis auf die wissenschaftlich schwierige Zugänglichkeit; zum anderen hieß es, dass die evolutionäre Funktion des Verhaltens vor allem in der Maximierung der Fitness, also in der Weitergabe von Genen an die nächste Generation liege. Die These der evolutionären Psychologie, wonach sich auch Emotionen evolutionär entwickelt haben, da sie durchaus Selektionsvorteile bieten wie eine optimierte Bewertung und Reaktion auf bestimmte Situationen, haben die Fachleute dagegen lange Zeit ignoriert. Hier sprang die angewandte Verhaltensforschung, insbesondere die Nutztierethologie, in die Bresche und entwickelte wissenschaftliche Konzepte, um Verhalten und Wohlbefinden von Nutz-, Zoo-, Labor- oder Heimtieren zu beschreiben. Die gebräuchlichen Begriffe »Wohlergehen«, »Wohlbefinden« oder in den letzten Jahren zunehmend auch »Tierwohl« werden im englischen Sprachraum unter dem Begriff »animal welfare« subsumiert, so dass dieser im wissenschaftlichen Kontext häufig ebenfalls im Deutschen verwendet wird, um Begriffsverwirrungen zu vermeiden.

Fünf Freiheiten für Nutztiere

Im Jahr 1979 stellte das britische Farm Animal Welfare Committee (FAWC) in einer Pressemitteilung bestimmte Mindestanforderungen für die Haltung von Tieren vor. Unter der Federführung des Veterinärmediziners John Webster von der University of Bristol wurden diese zum Konzept der »Fünf Freiheiten« weiterentwickelt und 1993 vom FAWC veröffentlicht. Es besagt, dass Tiere frei sein sollten von 1. Hunger, Durst und Mangelernährung, 2. Unbehagen und Unwohlsein, 3. Schmerzen, Verletzungen oder Krankheiten, 4. Angst und Leiden sowie dass sie 5. die Freiheit haben sollten, normale Verhaltensweisen auszuleben. Dieses Konzept ist weit verbreitet und anerkannt. Allerdings formuliert es eher eine Idealvorstellung aus der Sicht des Menschen, wobei der Fokus auf den negativen Aspekten des Tierwohls liegt. Wie sieht es aber im Bereich der affektiven und kognitiven Reaktionen aus? Mein Team und ich nehmen an, dass diese ganz wesentlich zum Wohlbefinden auch von Nutztieren beitragen. Die Frage nach tierischer Befindlichkeit stellt sich vor allem dann, wenn man einer bestimmten Spezies kognitive Fähigkeiten zugesteht, die es ihr ermöglichen, ihren eigenen Zustand wahrzunehmen und zu bewerten.

Zumindest die affektiven Komponenten spielen eine wichtige Rolle in einigen neueren Animal-Welfare-Konzepten. Zu nennen sind etwa jene von David Fraser von der University of British Columbia in Kanada oder von David Mellor von der University of New England in Australien. Insbesondere im »Fünf-Domänen-Modell« von Mellor gibt es neben den körperlich-funktionellen Bereichen Ernährung, Umwelt und Gesundheit sowie dem Verhalten, das vor allem situationsbezogen ist, einen fünften Sektor, die Affektdomäne (siehe »Fünf Domänen«). Die individuellen Erfahrungen in den vier körperlich-funktionellen Domänen fließen in die positive oder negative Bewertung durch die Tiere im affektiv-mentalen Bereich ein. Und die bestimmt letztlich die Qualität des Wohlbefindens.

Fünf Domänen | Dieses vereinfachte Modell versucht, das Wohlbefinden (animal welfare) von Nutztieren zu beschreiben. Dabei beeinflussen die für das Überleben wichtigen körperlichen Bedürfnisse gesunde Ernährung, günstige Umweltbedingungen, ein guter Gesundheitszustand sowie ein artgerechtes Verhalten den mentalen Zustand des Individuums. Alles zusammen wirkt sich entscheidend auf das Tierwohl aus.

Landwirtschaftliche Nutztiere leben in der Regel unter weitgehend standardisierten Fütterungs- sowie meist stark eingeschränkten Haltungsbedingungen. Wie lässt sich bei ihnen die emotional geprägte Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt verbessern? Bereits vor mehr als 20 Jahren entwickelten wir einen generellen Ansatz dazu. Es geht darum, die biologische Relevanz der Haltungsumwelt zu erhöhen und somit diese an die Bedürfnisse der Tiere anzupassen sowie artspezifisches Verhalten durch adäquate Umweltanreicherungen zu fördern. Besonders vielversprechend erschien es uns, die noch relativ wenig bekannten kognitiven Fähigkeiten von Nutztieren zu analysieren, um diese dann bei der Haltung berücksichtigen zu können. Inzwischen weiß man auch dank unserer Forschung, dass Nutztiere neugierige Wesen mit komplexen kognitiven Fähigkeiten sind – Erkenntnisse, die 2023 dem Wissenschaftsmagazin »Science« eine Titelgeschichte wert waren.

Doch wie lassen sich kognitive Herausforderungen in den Stallalltag integrieren? Und was bewirken sie? Dazu haben wir eine Reihe von Experimenten sowohl mit Schweinen als auch mit Rindern durchgeführt, die Überraschendes zu Tage förderten. Beispielsweise sollte jedes Schwein in einer unserer Versuchsgruppen auf ein individuell unterschiedliches akustisches Signal (zunächst verschiedene Dreiklänge, später dreisilbige Namen) reagieren, um sich aus einer Futterbox eine Belohnung holen zu können. Hierzu mussten die Tiere zusätzlich lernen, mit der Schnauze einen Druckschalter zu betätigen, damit die »rufende« Box das Futter frei gibt. Diese Kombination aus klassischem und operantem Konditionierungslernen führten wir bis zu 25-mal am Tag durch, so dass die Schweine sukzessive ihre tägliche Futterration aufnehmen konnten. Innerhalb weniger Tage bewältigten die Tiere die Herausforderungen erfolgreich.

»Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen«§ 1 Tierschutzgesetz

Wenig überraschend bewegten sie sich durch die vielen Aufrufe deutlich mehr als konventionell gehaltene Kontrollgruppen. Bemerkenswert war jedoch eine Reihe von psychophysiologischen Effekten, die wir bei unseren Versuchstieren nachweisen konnten. Diese reichten von einem gestärkten Immunsystem mit einer verbesserten Wundheilung über verminderte Aggressivität in der Gruppe bis hin zu weniger Angstreaktionen in entsprechenden individuellen Verhaltenstests. Die für uns spannendste Frage lautete allerdings, ob sich die emotionalen Bewertungstendenzen der Tiere ebenfalls messbar veränderten. Und tatsächlich: In deren Amygdala verringerte sich die Anzahl spezifischer Opioidrezeptoren, die bei der Regulation von Stress und Emotionen eine Rolle spielen. Auch die Herzfrequenz sank, was in Kombination mit den gemessenen Veränderungen in der Herzfrequenzvariabilität auf eine durch den Parasympathikus des autonomen Nervensystems vermittelte Entspannung hinweist. Die physiologischen Mechanismen scheinen denen zu ähneln, die bei uns Menschen nach einer schwierigen, aber letztlich erfolgreich gemeisterten Prüfung ablaufen, nach der wir uns einfach nur gut fühlen.

Kühe, die aufs Töpfchen gehen

Bisher ging man davon aus, dass Rinder ihre Ausscheidungen nicht oder nur sehr eingeschränkt kontrollieren können. Durch die Vermischung von Kot und Harn entsteht jedoch Ammoniak, ein indirektes Treibhausgas. Zudem gefährdet es die Gesundheit der Tiere, wenn sie in ihren eigenen Exkrementen liegen, was etwa zu Gelenkproblemen führen kann. Wir stellten uns die Frage, ob der den Tieren eigene Lerneifer dazu beitragen könnte, diese Probleme zu lösen. Auch Kleinkinder müssen erst die Kontrolle über ihre Ausscheidungen erlernen – warum sollte das nicht Kälbern auch gelingen?

Latrinengang | Nach seinem »Geschäft« verlässt ein Kalb die »Kuhtoilette«.

Hierzu entwickelten wir ein »Latrinentraining«: 16 junge Hausrinder (Bos taurus) belohnten wir mit Futter, wenn sie einen bestimmten Ort aufsuchten und dort urinierten. Taten sie das außerhalb der »Kuhtoilette«, wurden sie zur Strafe mit Wasser abgespritzt. Tatsächlich lernten 11 der 16 Kälber innerhalb weniger Tage, ihre Blase zu kontrollieren und selbstständig »aufs Töpfchen« zu gehen. Der Urin kann dann getrennt gesammelt und abtransportiert oder sogar anderweitig verwendet werden. Das Erlernen der Harnkontrolle bedeutet, dass die Kälber über ein »interozeptives Bewusstsein« verfügen, also die Fähigkeit, wahrzunehmen, was in ihrem eigenen Körper vor sich geht. Etwas verallgemeinert zeigt unser Experiment gleichfalls, wie eng Lernen, Wahrnehmen und Fühlen und damit die Grundvoraussetzungen für die Existenz von Bewusstsein miteinander verknüpft sind.

Schweine, die auf Mitleid hoffen

Von vielen sozial lebenden Tierarten ist bekannt, dass bereits die Anwesenheit eines vertrauten Artgenossen Stress abpuffern kann, der beispielsweise nach der Trennung von der Mutter oder den Wurfgeschwistern auftritt. Diese als soziale Unterstützung bezeichneten Effekte konnten wir auch bei Schweinen und Ziegen nachweisen. Aber können sich unsere Nutztiere tatsächlich in ihre Artgenossen hineinversetzen, also Empathie oder zumindest empathieähnliches Verhalten zeigen, wie es von Menschenaffen und einigen anderen Tierarten bereits bekannt ist? Zwei weitere Experimente unserer Gruppe geben erste Antworten.

Seit vielen Jahren untersuchen wir die sozialen und kommunikativen Beziehungen bei Hausschweinen. Dabei interessieren wir uns einerseits für deren akustische Verständigung untereinander. Andererseits möchten wir aber auch klären, ob und inwieweit Laute etwas über den jeweiligen emotionalen Zustand eines Individuums verraten. In einem Playback-Experiment meiner Mitarbeiterin Sandra Düpjan konnten wir zunächst zeigen, dass Stresslaute von Artgenossen im Vergleich zu neutralen Tönen zu einer erhöhten Aufmerksamkeit der zuhörenden Tiere führen.

2023 brachte meine Kollegin Liza Moscovice Ferkeln bei, eine Tür in einer Box mit der Schnauze zu öffnen. Die neugierigen Tiere betraten daraufhin die unbekannte Umgebung, um sie schnüffelnd zu erkunden. Doch was geschieht, wenn die Box zur Falle wird und die Tür hinter einem Individuum plötzlich zuschlägt? Tatsächlich halfen die Schweine ihren eingesperrten Kameraden, indem sie ihnen die Tür öffneten: Binnen 20 Minuten wurden 85 Prozent der 75 Tiere im Experiment von einem Artgenossen herausgelassen. Die Hilfsbereitschaft stieg, je mehr das eingesperrte Ferkel klagend quiekte. Ähnliches hatten tschechische Forscher 2020 bei den nächsten Verwandten unseres Hausschweins beobachtet: Automatische Kameras hatten in einem Wildgehege bei Prag dokumentiert, wie eine Wildschweinrotte zwei Jungtiere aus einer Käfigfalle befreite. Sollte sich bestätigen, dass Schweine die emotionale Notlage ihrer Artgenossen erkennen, stellen sich eine Reihe von ethischen Fragen zur Haltung und zum Wohlbefinden von Nutztieren, die vor allem den Umgang mit dem zweifellos vorhandenen Leid in der Tierhaltung betreffen.

Eine Wildschweinrotte befreite zwei Jungtiere aus einer Käfigfalle

In eine ähnliche Richtung deutet die Erkenntnis, dass Schweine wie eine Reihe anderer als intelligent geltender Tiere wie Hunde, Schimpansen, Krähen oder Tintenfische mit Belohnungsaufschub umgehen können: Sie erkennen, dass ein Verhalten nicht sofort, sondern verzögert belohnt wird. Im letzten Jahrhundert fragten sich Fachleute, ab wann Kinder über genügend Selbstkontrolle verfügen, um einer unmittelbar erreichbaren Süßigkeit zu widerstehen, sofern nach einer gewissen Zeit etwas Besseres lockt. Das hierzu in den 1970er Jahren von dem amerikanischen Persönlichkeitspsychologen Walter Mischel (1930–2018) entwickelte Verhaltensexperiment ging als »Marshmallow-Test« in die Wissenschaftsgeschichte ein. Dabei saß jeweils ein Kleinkind vor einem Tisch, auf dem ein Marshmallow lag. Das Kind durfte die Schaumzuckerware sofort verzehren – oder darauf warten, nach einer gewissen Zeit zwei Stück der begehrten Süßigkeit zu bekommen.

Den berühmten Test setzen Fachleute heute in verschiedenen angepassten Versionen auch bei Tieren ein, um deren Fähigkeit zur Impuls- und Selbstkontrolle zu beurteilen. 2021 versuchten wir das mit Hausschweinen. Statt mit Marshmallows lockten wir unsere Versuchstiere beispielsweise mit Geflügelwürstchen, wobei wir eines unter einem weißen Becher und vier Stück unter einer schwarzen Abdeckung versteckten. Nach und nach verzögerten wir zunehmend die Präsentation des schwarzen Bechers. Tatsächlich warteten 13 ältere Schweine bis zu elf Sekunden auf die größere Belohnung, statt sich sofort auf die kleine Portion zu stürzen; sechs Jungtiere schafften es immerhin, sich bis zu fünf Sekunden zu gedulden. Obwohl der Vorhersagewert des Marshmallow-Tests für die zukünftige individuelle Entwicklung von Kindern inzwischen umstritten ist, zeigt er doch: Das Verhalten vieler Tiere – in unserem Fall von Schweinen – wird durch ein erstaunliches Maß an gegenwärtiger, aber auch auf die unmittelbare Zukunft gerichteter kognitiver Selbstreflexion gesteuert.

Ziegen, die auf Bildschirme starren

Was passiert, wenn man den Tieren die Wahl lässt, eine für sie notwendige Ressource entweder ohne großen Aufwand oder durch eine vorgeschaltete Herausforderung zu erhalten? Wofür entscheiden sie sich? Ein entsprechendes Experiment hat mein Mitarbeiter Jan Langbein bereits 2009 mit Hausziegen (Capra aegagrus hircus) durchgeführt. Die Tiere sollten lernen, bestimmte Symbole auf einem Bildschirm zu erkennen, und bekamen eine kleine Ration Wasser als Belohnung, wenn sie das richtige Zeichen mit ihrer Schnauze antippten. Das verblüffende Ergebnis: In etwa einem Drittel der Fälle deckten die Ziegen ihren Wasserbedarfs durch das Lösen der Bildschirmaufgabe, obwohl sie gleichzeitig die Möglichkeit hatten, ihren Durst ohne den Aufwand zu löschen.

Das zu Grunde liegende Konzept des »Contrafreeloading« prägte 1963 der Tierpsychologe Glen Jensen, der Ratten vor die Wahl gestellt hatte, Futter direkt aus einer Schale oder aus einem Futterspender zu beziehen, bei dem die Tiere auf ein Pedal treten mussten. Überraschenderweise zogen es die Nager vor, für ihre Nahrung zu »arbeiten«, anstatt sie umsonst zu bekommen. Dahinter stecken vermutlich zwei wichtige Verhaltensbedürfnisse: erstens die aktive, selbstmotivierte Suche nach Nahrung und zweitens die Beschaffung von Information. Beides lässt sich in der Nutztierhaltung durch geeignete kognitive Herausforderungen relativ einfach befriedigen, was gleichzeitig – so unser Ansatz – das Tierwohl verbessert.

Bildschirmarbeit | Eine junge Ziege scheint noch unschlüssig zu sein, ob sie an einem Lerntest teilnehmen soll. Wenn sie auf dem Bildschirm (im Hintergrund) das richtige Symbol antippt, wird sie zur Belohnung eine Ration Wasser bekommen.

Doch über welche kognitiven Fähigkeiten verfügen Nutztiere? Um das herauszufinden, entwickelten wir für unsere Ziegen eine Reihe von Aufgaben. Die Methodik war im Wesentlichen immer gleich: Wenn die Tiere mit ihrer Schnauze auf einem Touchscreen eines von vier Bildern berührten, lief zur Belohnung Wasser aus einem Schlauch in einen Napf. Art und Form der Zeichen variierten wir je nach Aufgabe, um die verschiedenen kognitiven Fähigkeiten der Tiere zu testen. Die gesamte Lernapparatur bauten wir in die Gruppenbucht der Ziegen ein, die dadurch rund um die Uhr und je nach Lust und Laune Zugang hatten.

Schnell lernten die Ziegen, mit dem Gerät umzugehen, die Symbole zu unterscheiden und ihre Leistung schrittweise zu verbessern. So behielten sie die gelernten Figuren mehrere Wochen lang im Gedächtnis, erkannten bestimmte Gemeinsamkeiten und übertrugen diese als eine Form der Kategorienbildung auf neue Symbole. Ebenso konnten die Ziegen zweidimensionale Fotos bekannter Artgenossen von ihnen unbekannten Tieren unterscheiden und bewiesen damit ihre Fähigkeit zur Individualerkennung. Letzteres gilt als entscheidende Voraussetzung für komplexes Sozialverhalten.

Tiere sehen den Menschen als soziale Bezugsperson an

Was aber tun Tiere, wenn sie eine Aufgabe erkennen, ihnen jedoch die Lösung unmöglich gemacht wird? Mein Mitarbeiter Christian Nawroth hat den Zugang zu einer Box mit Futter für die Ziegen experimentell so gestaltet, dass sie diese nicht selbst öffnen konnten, um an die Belohnung zu gelangen. Die Tiere versuchten daraufhin, den menschlichen Versuchsleiter durch Blick- und Körperkontakt dazu zu bewegen, ihnen beim Öffnen der Box zu helfen. Ein solches Verhalten kennt man von Hunden und anderen Haustieren, aber bei den ebenfalls seit Langem domestizierten Nutztieren ist das kaum untersucht. Offensichtlich führen die Domestikation und der häufige Kontakt mit dem Menschen während des Aufwachsens dazu, dass die Tiere durchaus Homo sapiens als soziale Bezugsperson ansehen. Dieser an sich einfache experimentelle Ansatz demonstriert, wie wichtig eine funktionierende Mensch-Tier-Beziehung für Tiere in menschlicher Obhut ist, und lässt erahnen, wie viel bisher kaum genutztes Potenzial darin schlummert, die Nutztierhaltung und das Tierwohl zu verbessern.

Fühlende und denkende Wesen

Seit Jahrtausenden lebt der Mensch mit Tieren zusammen, hat einige Arten gezielt domestiziert und nutzt sie unterschiedlich: als Gefährten (Haustiere), als Versuchstiere in der Forschung, zu einem großen Teil aber auch zur Nahrungsmittelproduktion oder zur Landschaftspflege mit Kreaturen, die wir anthropozentrisch als Nutztiere bezeichnen. Deren künstliche Haltungsbedingungen, die mit der Umwelt ihrer wild lebenden Vorfahren wenig gemein haben, wurden aus ökonomischen, hygienischen und arbeitsorganisatorischen Gründen optimiert – ebenso wie die jeweiligen durch Zucht maximierten Leistungsmerkmale der Tiere selbst. Umso erstaunlicher erscheint es, dass wir zwar einiges über allgemeine und spezielle Verhaltensmuster von Nutztieren wissen, allerdings vergleichsweise wenig darüber, was diese als fühlende und denkende Wesen ausmacht und wie sie ihre physische und soziale Umwelt wahrnehmen und bewerten. Das sollte aber meiner Ansicht nach der eigentliche Kern dessen sein, was in der neueren gesellschaftlichen, politischen und rechtlich-ethischen Diskussion relativ weit gefasst mit Tierwohl umschrieben wird.

Wir müssen Haltung, Zucht und Management so umgestalten, dass wir zu einer artgerechteren Tierhaltung gelangen

Die Forschung hat vor allem in den letzten Jahren gezeigt, dass Nutztiere wie Schweine, Rinder oder Ziegen über ausgeprägte und zum Teil sehr individuelle kognitive und mentale Bedürfnisse und Fähigkeiten verfügen. Diese fließen in ihre Interaktion mit der Umwelt ein und beeinflussen darüber ihre physische und psychische Gesundheit sowie damit ihr Wohlbefinden positiv oder negativ. Daraus ergeben sich klare Konsequenzen: Erstens brauchen wir bessere Kenntnisse über das kognitive und emotionale Leben der Nutztiere, das offensichtlich deutlich komplexer ist als bisher angenommen. Zweitens müssen wir – basierend auf diesem Wissen – Haltung, Zucht und Management so umgestalten, dass wir zu einer wissenschaftlich fundierten, deutlich artgerechteren und zudem gesellschaftlich akzeptierten Tierhaltung zum Wohl und Schutz unserer Mitgeschöpfe gelangen.

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  • Quellen

Dirksen, N. et al.:Learned control of urinary reflexes in cattle to help reduce greenhouse gas emissions. Current Biology 31, 2021

Grimm, D.:What are farm animals thinking? Science 382, 2023

Langbein, J. et al.:How do goats »read« 2D-images of familiar and unfamiliar conspecifics? Frontiers in Psychology 14, 2023

Moscovice, L. R. et al.:Spontaneous helping in pigs is mediated by helper's social attention and distress signals of individuals in need. Proceedings of the Royal Society B 290, 2023

Nawroth, C. et al.:Farm animal cognition – Linking behavior, welfare and ethics. Frontiers in Veterinary Science 6, 2019

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