Mentale Fitness: Der Höhepunkt kommt in der zweiten Lebenshälfte

Mit ungefähr 20 Jahren erzielen wir in Intelligenztests persönliche Bestwerte. Da stehen wir beruflich gerade erst in den Startlöchern. Den Gipfel der Karriere erklimmen die meisten erst später – dann, wenn die geistigen Fähigkeiten bereits merklich nachgelassen haben. Eine ungünstige Konstellation? Nein, wie eine Studie in der Fachzeitschrift »Intelligence« nahelegt: Wenn man eine Vielzahl erfolgsrelevanter Eigenschaften berücksichtigt, erreicht der Mensch erst jenseits der Lebensmitte seine Bestform. So berichten es Gilles Gignac von der University of Western Australia und Marcin Zajenkowski von der Universität Warschau, die 2025 für ihre Narzissmusforschung gemeinsam den Ig-Nobelpreis in Psychologie verliehen bekamen.
In ihrer neuen Studie analysierten sie die Entwicklung von mehr als 5000 Erwachsenen zwischen 19 und 88 Jahren anhand bereits vorliegender Daten aus mehreren Ländern. Zu den 16 erfassten Merkmalen zählten kognitive Fähigkeiten wie logisches Denken, die Gedächtnisspanne, emotionale Intelligenz, die fünf großen Persönlichkeitsdimensionen, moralisches Urteilsvermögen und Lebenserfahrung sowie spezielle Fähigkeiten wie Finanzwissen. Diese Merkmale kombinierten die Forscher zu einem »umfassenden Modell« der psychischen Fitness. Wie genau sie die Merkmale gewichtet haben, zeigen sie in einer selbstentwickelten App: Man kann die Gewichtung dort nach Gutdünken verändern, zum Beispiel einzelne Merkmale gar nicht berücksichtigen, und so die Lebenskurve neu berechnen lassen.
Laut dem Modell der beiden Psychologen starten junge Erwachsene – im gewichteten Mittel über alle 16 Merkmale – auf einem eher niedrigen Niveau. Die Kurve steigt bis etwa 25 steil an, danach moderater bis 35 und weiter leicht bis 60: In diesem Alter erreicht der Durchschnittswert sein Allzeithoch. Bis 65 nimmt er nur wenig ab, danach sinkt er deutlich. 85-Jährige liegen trotzdem noch in etwa auf dem Niveau von 18-Jährigen.
Die Kurven setzen sich aus verschiedenen Entwicklungstrends zusammen, wie Gignac und Zajenkowski erklären. Die fluide Intelligenz, darunter beispielsweise logisches Denken, nimmt ab 20 stetig ab. Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität dagegen nehmen von der Jugend bis ins mittlere Alter zu. Die kristalline Intelligenz, darunter der Wortschatz, wächst sogar bis jenseits der 60. Und das moralische Denken reift bis ins hohe Alter weiter.
Das könne erklären, warum ein fortgeschrittenes Lebensalter für Führungspositionen oder politische Spitzenämter gar nicht so schlecht sei, meinen die Autoren. Bei komplexen Entscheidungen komme es eben nicht nur darauf an, schnell zu denken. Geeignete Personen sollten deshalb nicht jünger als 40, aber auch nicht älter als 65 Jahre alt sein – ab diesem Alter ließen sich die kognitiven Einbußen nur noch schwer kompensieren. Die individuellen Unterschiede seien allerdings erheblich, räumen sie ein: Manche Menschen behalten ihre kognitiven Fähigkeiten bis ins hohe Alter, andere bauen schon früh ab. Die beste Phase für vielschichtige Entscheidungen liege aber offenbar jenseits der Lebensmitte.
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