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Intersexualität: Macht ein Testosteronlimit den Sport gerechter?

Mann gegen Mann, Frau gegen Frau. Die Trennung soll Wettkämpfe fair machen, mit Testosteron als Maß. Doch die Regeln sind zu überdenken, wie die Geschichte von Olympiasiegerin Caster Semenya und aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung zeigen.
Caster Semenya

Caster Semenya ist eine Weltklasse-Sportlerin. Dreimal Gold bei Weltmeisterschaften, zweimal Gold bei Olympia. Doch im Herbst 2019 verzichtete sie auf die Teilnahme an der WM und auch bei den Olympischen Spielen in Tokio wird sie nicht dabei sein. Weil sie wegen der umstrittenen »Testosteron-Regel« in ihrer Paradedisziplin auf 800 Metern nicht antreten darf, wich die Olympiasiegerin auf die Langstrecke aus und scheiterte mehrfach an der Olympianorm.

Seit November 2018 gilt für den Testosteronspiegel ein Limit, das der Leichtathletik-Weltverband IAAF festgelegt hat: fünf Nanomol pro Liter. Mehr Testosteron darf man nicht im Blut haben, um bei internationalen Wettkämpfen in der Frauenkategorie starten zu dürfen. Der Grenzwert gilt für Läufe über 400 Meter bis zu einer Meile (1609 Meter). Die Konzentration des Hormons liegt bei Frauen etwa bei 0,12 bis 1,79 und bei Männern zwischen 7,7 und 29,4 Nanomol pro Liter Blut.

Weil ihr Wert nicht zur Norm passt, darf Semenya per Definition des Verbands nicht als Frau antreten. Zahlreiche weitere Sportler und Sportlerinnen mit intersexuellen Anlagen sind von dieser Richtlinie betroffen. Dabei bezweifeln einige Forschende, dass sich Athleten anhand des Hormons einem biologischen Geschlecht sinnvoll zuordnen lassen. Den natürlichen Testosteronwert durch Medikamente senken, damit die Wettkämpferinnen doch noch teilnehmen können? Umstritten. Den Unterschied ignorieren? Umstritten. Eine Missachtung des Privatlebens, überhaupt darüber zu sprechen? Umstritten.

Die Debatte darüber, welche Sportlerinnen und Sportler welchem Geschlecht angehören, hat diverse Fragen zu medizinischer Ethik und Menschenrechten aufgeworfen, die längst nicht beantwortet sind. Umso wichtiger ist es, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Semenyas Körper produziert etwa so viel Testosteron wie der eines Mannes

Testosteron, das wichtigste männliche Sexualhormon, ist für die Entwicklung der Geschlechtsorgane sowie weiterer männlicher Merkmale zuständig: tiefe Stimme, breite Schultern, Bart. Doch nicht nur Männer, auch Frauen reagieren auf das Hormon, das ihre Nebennieren und Eierstöcke in geringen Mengen herstellen. Viele Gewebe, etwa Muskel-, Blut- und Knochenzellen, haben Andockstellen dafür, die Androgenrezeptoren. Bindet das im Blut zirkulierende Hormon an diese Rezeptoren, werden in den Zellen bestimmte Gene abgelesen. So kurbelt Testosteron beispielsweise den Aufbau von Muskelmasse und die Bildung roter Blutkörperchen an. Außerdem fördert es die Regeneration: Man benötigt kürzere Pausen und kann häufiger trainieren.

Warum haben manche Frauen extrem hohe Testosteronwerte?

Eine Überproduktion männlicher Sexualhormone (Hyperandrogenämie) bei Frauen kann verschiedene Ursachen haben. Neben Mutationen im Androgenrezeptor-Gen kann auch die Hormonproduktion in Nebenniere und Eierstöcken außer Kontrolle geraten. Die häufigste Ursache ist das so genannte polyzystische Ovarsyndrom, bei dem sich die Ovarien, also die Eierstöcke, stark vergrößern und zahlreiche Geschwulste (Zysten) ausbilden. Die Hormonstörung, die sich häufig durch unregelmäßige oder gar ausbleibende Monatsblutungen, übermäßige Behaarung und Hautprobleme äußert, betrifft weltweit etwa fünf bis zehn Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter.

Sowohl im Ausdauersport als auch in der Bodybuilder-Szene ist man sich der Wirkung des »Power-Hormons« bewusst. Laut einer Studie vom Zentrum für Präventive Dopingforschung an der Sporthochschule Köln sind 87 Prozent der leistungssteigernden Mittel, die auf dem Schwarzmarkt oder vom Zoll sichergestellt wurden, anabole Steroide. Dazu zählen Testosteron sowie künstlich hergestellte Abkömmlinge des Steroidhormons, die muskelaufbauend wirken, auch anabol genannt. Sie alle stehen auf der weltweit gültigen Verbotsliste der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA).

Doch Semenya dopt nach jetziger Kenntnis nicht. Als die damals 18-Jährige 2009 in Berlin all ihre Konkurrentinnen weit hinter sich ließ und zum ersten Mal Weltmeisterin über die 800-Meter-Distanz wurde, gab es zahlreiche Gerüchte. Der äußerst muskulöse Körper, die breiten Schultern und die tiefe Stimme der Athletin irritierten Mitstreiterinnen und Publikum. Ist Semenya ein Mann? Um das herauszufinden, ordnete der Verband einen umfangreichen – und überaus umstrittenen – Geschlechtstest an. IAAF-Generalsekretär Pierre Weiss teilte der Presse daraufhin mit: »Es ist klar, dass sie eine Frau ist, aber vielleicht nicht zu 100 Prozent.«

Was soll das bedeuten? Semenya ist intersexuell. Sie trägt also sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale. Das kann verschiedene Ursachen haben. Bei Semenya liegt es am Chromosomensatz: Sie hat ein männliches und ein weibliches Geschlechtschromosom – X und Y. Genetisch gesehen ist sie demnach ein Mann. Darum produziert ihr Körper etwa genauso viel Testosteron wie der eines Mannes. Warum sieht sie dann – zumindest teilweise – aus wie eine Frau? Die Antwort ist: Das Testosteron wirkt bei ihr nicht. Jedenfalls nicht wie bei einem Mann.

Nicht nur das Testosteron, auch den Rezeptor dafür braucht es

Ob das Hormon seine mannigfaltige Wirkung entfalten kann, hängt davon ab, wie gut die Androgenrezeptoren eines Menschen funktionieren. Sind die Andockstellen voll funktionsfähig, entwickelt sich ein Kind mit den Geschlechtschromosomen X und Y auch äußerlich zum Mann. Arbeiten die Rezeptoren – auf Grund von Mutationen im verantwortlichen Gen – nur teilweise, können männliche Geschlechtsorgane und -merkmale verschieden stark ausgeprägt sein. Personen mit einer solchen partiellen Androgenresistenz kann man häufig nicht eindeutig als männlich oder weiblich einordnen; die Grenzen verschwimmen. Sind die Rezeptoren ganz defekt – man spricht von kompletter Androgenresistenz –, wächst das Kind zunächst als Mädchen auf. Meist fällt erst in der Pubertät, wenn die Periode ausbleibt, auf, dass es zwar eine Scheide, aber weder Eierstöcke noch eine Gebärmutter besitzt. Stattdessen sind in seinem Unterleib Hoden angelegt, wie bei Semenya.

»Es ist fraglich, ob das vermehrte Testosteron intersexuellen Patienten mit Androgenresistenz einen Leistungsvorteil bringt. Das müsste über eine Muskelbiopsie und Rezeptoranalyse geklärt werden«, sagt Horst Hohmuth, Androloge und Sportmediziner in Ulm. In einer Pressemitteilung, die die IAAF anlässlich ihrer im Jahr 2019 angepassten Regelung veröffentlichte, schreibt der Verband lediglich, sie gelte für Athletinnen, die »die Möglichkeit haben, das in ihrem Körper zirkulierende Testosteron zu nutzen«. Eigentlich müsste man folglich nicht nur die Testosteronwerte, sondern auch die Rezeptorausstattung der Betroffenen überprüfen.

Auf 1000 Leichtathletinnen kommen sieben mit dem Chromosomensatz XY. Das geht aus einer Studie von 2014 hervor, auf die sich auch die IAAF bezieht. Eine teilweise oder komplette Androgenresistenz tritt hier also etwa 140-mal häufiger auf als in der Gesamtbevölkerung. Bei den Olympischen Spielen im Jahr 2016 ergab sich eine besondere Situation: Alle Medaillengewinnerinnen der 800-Meter-Disziplin waren mit hoher Wahrscheinlichkeit intersexuell. Gold ging an Semenya, Silber an Francine Niyonsaba und Bronze an Margaret Wambui. Obwohl andere Teilnehmerinnen wie etwa die Schottin Lyndsey Sharp ihre persönlichen Bestzeiten knackten, hatten sie keine Chance auf eine Medaille. Sharp wurde Sechste. Danach sagte sie der Presse: »Jeder konnte sehen, dass es zwei verschiedene Rennen waren.«

War es also im Sinne der Chancengleichheit notwendig, eine Regel einzuführen? Ein erstes Testosteronlimit wurde bereits 2011 festgelegt. Es galt noch für alle Leichtathletinnen und lag bei zehn Nanomol pro Liter. Um weiterhin starten zu dürfen, mussten Semenya und andere ihren Hormonspiegel mit Medikamenten senken. Zwar lief die Südafrikanerin ab 2011 etwas langsamere Zeiten als zuvor. Allerdings litt sie während dieser Zeit auch unter einer langwierigen Knieverletzung.

2014 brachte die indische Sprinterin Dutee Chand den Grenzwert ins Wanken. Die ebenfalls von der Regelung betroffene Sportlerin hatte vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS in Lausanne Klage eingereicht und Recht bekommen. Sie durfte weiterhin in der Frauenkategorie über 100 und 200 Meter starten. Die Begründung der Richter: Es sei nicht wissenschaftlich erwiesen, dass Athletinnen mit erhöhtem Testosteronwert einen Leistungsvorteil hätten. Auch Semenya lief fortan wieder ohne Behandlung und überbot ihre eigenen Bestleistungen.

Aussagekraft einer mitentscheidenden Testosteron-Studie ist umstritten

Das regte die Diskussionen um den Grenzwert erneut an. Um die fehlenden Beweise nachzuliefern, führten die Sportmediziner Stéphane Bermon und Pierre-Yves Garnier, beide IAAF-Mitglieder, selbst eine Studie durch. Sie setzten die Bestleistungen, die männliche und weibliche Athleten bei den Weltmeisterschaften 2010 und 2013 erzielt hatten, in Verbindung mit deren Testosteronwerten. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass Frauen mit höheren Testosteronwerten je nach Sportart um bis zu 4,5 Prozent bessere Leistungen erbrachten. Allerdings ausschließlich in den Disziplinen 400- und 800-Meter-Lauf, 400-Meter-Hürdenlauf, Hammerwurf und Stabhochsprung.

»Bis zu einem Drittel der Daten waren schlecht«
Roger Pielke Jr., Sportmanagementforscher

Da die Studie nicht explizit intersexuelle – beziehungsweise androgenresistente – mit nicht intersexuellen Sportlerinnen, sondern lediglich »höhere« mit »niedrigeren« Werten verglich, ist ihre Aussagekraft höchst umstritten. Zudem sei sie fehlerhaft, sagen Wissenschaftler, die den Datensatz nachträglich überprüften.

»Bis zu einem Drittel der Daten waren schlecht«, sagte Roger Pielke Jr., Sportmanagementforscher an der University of Colorado Boulder, in einem »Nature«-Artikel im Frühjahr 2021. Er hat gefordert, dass die Studie zurückgezogen wird, etwa weil einige Leistungszeiten dupliziert wurden, andere Zeiten nicht in den offiziellen Wettkampfergebnissen existierten und weil wegen Dopings disqualifizierte Athleten Teil des Datensatzes waren. Bermon sagt, er und seine Kollegen hätten 2018 einen Brief veröffentlicht, der einige dieser Probleme anspricht, aber Pielke bleibt unzufrieden.

Dennoch führte die IAAF Ende 2018 die neue Regelung auf Basis jener Studie ein. Mindestens sechs Monate vor einem Wettkampf müssen betroffene Athletinnen ihren Testosteronspiegel absenken und ihn so lange niedrig halten, bis sie nicht mehr in besagten Disziplinen starten wollen. Semenya klagte, wie zuvor Chand, vor dem Sportgerichtshof – und scheiterte. Die Richter des CAS bestätigen sogar, dass die Regel diskriminierend sei. In Anbetracht der vorgelegten Beweise sei sie aber ein »notwendiges, vernünftiges und angemessenes Mittel«, um die Integrität des Sports in den betroffenen Disziplinen zu erhalten.

Warum gilt das neue Limit dann nicht für die Disziplinen Hammerwurf und Stabhochsprung? Und: Womit ist die Ausweitung auf eine Meile und 1500 Meter, über die Semenya ebenfalls sehr erfolgreich war, gerechtfertigt? Bermon argumentierte in »Nature«, er räume Kritik an der Entscheidung ein, die 1500 Meter einzubeziehen, begründet es aber damit, dass Athleten, die im Mittelstreckenlauf antreten, oft auch die längere Distanz laufen.

Das ändert jedoch nichts an dem grundlegenden Problem des umstrittenen Testosteronwerts. Eine andere Studie mit fast 600 russischen Athletinnen, die im Magazin »The Journal of Sports Medicine and Physical Fitness« veröffentlicht wurde, kam zwar zu dem Ergebnis, dass eine Kurzstreckensportlerin umso erfolgreicher war, je mehr Testosteron sie im Blut hatte. Bei Lang- und Mittelstreckenläuferinnen – darunter fallen die Distanzen von 800 Metern bis zu einer Meile – konnten die Forscher jedoch keinen testosteronabhängigen Leistungsvorteil feststellen. Im Gegenteil: Erfolgreiche Sportlerinnen hatten im Schnitt sogar etwas niedrigere Hormonwerte. Die Kategorie »Sprint« beinhaltete in diesem Fall Laufen über 100 bis 400 Meter sowie kurze Distanzen Radfahren, Schwimmen, Kajak oder Eisschnelllauf. Wie bei der Studie der IAAF ging es hier nicht speziell um intersexuelle oder androgenresistente Sportlerinnen; die Testosteronwerte der Probandinnen lagen zwischen 0,08 und 5,8 Nanomol pro Liter Blut – also zumeist im »erlaubten« Bereich.

»Es geht gar nicht mehr um Sport. Es geht um Menschenwürde«
Caster Semenya

Der Leistungsvorteil von Athletinnen mit höherem Testosteronspiegel äußere sich vor allem deshalb auf kürzeren Strecken, weil es dort auf Schnellkraft und Kraftausdauer ankomme, sagt Sebastian Weiß, der bis zum Jahr 2021 Bundestrainer für Mittel-/Langstrecke beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) war. Diese Faktoren seien für die Bewältigung längerer Stecken nicht im selben Maß entscheidend. Dass auch auf der Kurzstrecke ein erhöhter Testosteronspiegel nicht zwangsläufig zum Sieg führen muss, zeigte sich am Beispiel der 400-Meter-Läuferin Aminatou Seyni. »Es ist wie bei Caster Semenya«, teilte sie der Presse mit und wechselte auf Grund der neuen Regeln bei der WM 2019 auf die 200-Meter-Strecke. Dafür wurde sie heftig kritisiert, von der Konkurrenz gefürchtet und schied bereits im Halbfinale aus.

Ist ein medizinischer Eingriff gerechtfertigt?

Nachdem Semenya zwei Tage nach dem Urteil des CAS – ausgerechnet in Doha – ihr vorerst letztes 800-Meter-Rennen gewonnen hatte, erklärte sie in einem Fernsehinterview: »Ich kann alles laufen: von 100 bis 5000 Meter. Wenn ich die Strecke wechseln möchte, mache ich das. Aber ich lasse mir das nicht vorschreiben.« Seit zehn Jahren kämpft sie dafür, ihren Sport ohne Einschränkungen ausüben zu dürfen. »Es geht gar nicht mehr um Sport. Es geht um Menschenwürde«. Schriftlich erklärt sie: »Ich möchte natürlich rennen, so, wie ich geboren wurde. Ich bin Mokgadi Caster Semenya – ich bin eine Frau und ich bin schnell.«

Aus medizinischer Sicht kann der Eingriff in den Hormonhaushalt einer gesunden Person kaum sinnvoll sein. Auch Weiß findet es nicht richtig, den Körper eines Sportlers oder einer Sportlerin durch Medikamente »in die eine oder andere Richtung« zu verändern. Laut der IAAF genügen normale Dosen üblicher Verhütungsmittel, um das Testosteron auf den geforderten Wert abzusenken. Selbst diese Präparate haben bekanntermaßen Nebenwirkungen. Außerdem ist fraglich, ob sie tatsächlich ausreichen. Üblicherweise, so erklärt Hohmuth, würden die Hoden, die im Leistenkanal oder im Bauchraum liegen, nach Einsetzen der Pubertät entfernt und eine Östrogenbehandlung durchgeführt, um die Ausprägung der weiblichen Geschlechtsmerkmale zu unterstützen.

Wie es sich physisch, psychisch und sozial auswirken kann, wenn Testergebnisse zur Disqualifikation von Wettkämpfen führen, hat die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im Jahr 2020 dokumentiert. Die indische Athletin Santhi Soundarajan zum Beispiel versuchte, sich das Leben zu nehmen, nachdem die Ergebnisse eines Sexualtests 2006 an die Medien durchgesickert waren. Eine andere indische Athletin beging 2001 Suizid, nachdem sie ihr Ergebnis erfahren hatte.

Sollte man eine Kategorie der »Superfitten« einführen?

Kann es je eine faire Lösung geben? Ist es gerecht, wenn Frauen mit normalen Testosteronwerten chancenlos sind? Oder wenn Frauen wie Semenya oder Niyonsaba – auch sie verzichtete im Herbst 2019 auf die Teilnahme an der WM –, die es in der Gesellschaft ohnehin schwer haben, vom Sport ausgeschlossen werden?

»Usain Bolt sagt man ja auch nicht, er müsse sich die Beine kürzen«
Balian Buschbaum

»Semenya kam mit einem Geschenk zur Welt. Um weiter Spitzensport zu machen, müsste sie es abgeben. Das verstößt meiner Meinung nach gegen das Menschenrecht«, sagt Balian Buschbaum. Bis 2007 war er – damals noch unter dem Namen Yvonne Buschbaum – erfolgreich im Stabhochsprung. »Ich wurde als Mann mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren«, sagt er.

Buschbaum bekannte sich zur Transsexualität, begann eine Hormontherapie und unterzog sich einer geschlechtsangleichenden Operation. Sicher lässt sich sein Fall nicht mit dem intersexueller Athletinnen wie Semenya vergleichen. Doch er weiß, was es heißt, anders zu sein. Der Exathlet ist der Meinung, dass das von der IAAF eingeführte Testosteronlimit nicht die Chancengleichheit verbessere, sondern grundlegende Rechte verletze. »Usain Bolt sagt man ja auch nicht, er müsse sich die Beine kürzen«, meint Buschbaum. Der 1,95 Meter große jamaikanische Sprinter Bolt hält den Weltrekord über 100 Meter.

Brauchen wir künftig eine Kategorie der »Superfitten«? Es dürfte schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, genügend Sprinter über 1,90 Meter oder Spieler mit anderen besonderen Eigenschaften zu finden, um einen Wettkampf zu ermöglichen oder gar eine ganze Fußball- oder, vielleicht noch besser, Handballmannschaft zusammenzustellen.

»Es gibt viele körperliche Vorteile, die bedingen, dass Männer schneller sind als Frauen«

Bei manchen Sportarten, etwa dem Boxen, wird in Gewichtsklassen eingeteilt. Ist auch der Testosteronwert ein – oder gar der wichtigste – Parameter, um einen fairen Wettkampf zu ermöglichen? Erübrigt eine solche Einordnung gar die Unterscheidung zwischen Mann und Frau, die ohnehin mitunter schwierig ist? Ihr läge die Annahme zu Grunde, dass die körperliche Überlegenheit von Männern allein auf die Konzentration ihrer Geschlechtshormone und die Möglichkeit, sie zu nutzen, zurückzuführen ist.

Dabei können weibliche und männliche Spitzensportlern durchaus ähnliche Testosteronwerte haben, wie eine Studie von 2014 zeigt. Die Forschenden untersuchten 693 Wettkämpferinnen und Wettkämpfer aus 15 Sportarten. Das Ergebnis: Etwa 14 Prozent der Frauen hatten Werte, die über dem typischen weiblichen Bereich lagen – einige hatten sogar Werte, die als hoch für einen Mann angesehen werden. Und etwa 17 Prozent der Männer hatten Testosteronwerte unterhalb des typischen männlichen Bereichs.

Sebastian Weiß betont: »Es gibt viele körperliche Vorteile, die bedingen, dass Männer schneller sind als Frauen.« Ein Beispiel: Donavan Brazier, der schnellste Mann bei der WM 2019, brauchte über 800 Meter nur eine Minute und etwas über 42 Sekunden. Da hätte wohl selbst Semenya keine Chance gehabt.

Der Vorteil zeigt sich nicht nur beim Laufen. Bei Spitzensportlern scheinen die Konkurrenten in Männerkategorien 10 bis 12 Prozent schneller zu schwimmen als die Konkurrenten in Frauenkategorien, und sie springen 20 Prozent weiter oder höher. Aber es ist nicht klar, wie viel Testosteron zu diesen Unterschieden beiträgt.

Aktuell reiche die Anzahl – etwa ein Dutzend – intersexueller Sportler und Sportlerinnen nicht aus, um einen Vergleich in den zahlreichen Disziplinen zu ermöglichen, sagt Buschbaum. Er ist Mitorganisator der EuroGames, die im August 2020 in Düsseldorf hätten stattfinden sollen. Wegen der Coronapandemie musste die Veranstaltung jedoch abgesagt werden. Die nächsten EuroGames sollen nun vom 12. bis 22. August 2021 in Kopenhagen und Malmö stattfinden.

Ziel dieser Sportveranstaltung ist es, die Vielfalt im Sport und die Akzeptanz von Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierungen und Identitäten zu fördern. Bei manchen Sportarten, zum Beispiel beim Synchronschwimmen, Wasserball oder Hockey, wird es nur eine gemeinsame Kategorie für alle Geschlechtsidentitäten geben. Bei vielen Teamsportarten gibt es eine männliche, eine weibliche sowie eine gemischte Kategorie (»all genders«). Zudem weiten die Veranstalter die klassischen Kategorien auf »sich als Mann« beziehungsweise »sich als Frau identifizierende« Personen aus – unabhängig von deren Testosteronwerten.

Bei einigen Individual- und Teamsportarten wie Laufen, Schwimmen, Tennis und Badminton müssen sich auch die EuroGames strikt nach externen Regularien richten. Neben »Mann« und »Frau« bieten sie hier aber auch eine dritte Kategorie, »nicht-binär«, an. Auf ihrer Webseite schreiben die Veranstalter dazu: »Wir erkennen an, dass eine binäre Definition des Geschlechts Menschen ausschließt, die nicht-binär sind, und so werden wir in den Sportarten, in denen es verschiedene Geschlechterkategorien gibt, eine dritte Kategorie für nicht-binäre Athleten haben.«

Hohmuth findet es richtig, Menschen wie Semenya bei sportlichen Wettkämpfen als weiblich einzuordnen. »Die gängige sportmedizinische Beurteilung und geschlechtliche Zuordnung bei Intersexuellen richtet sich nach deren frei gewählter Geschlechtsidentität«, sagt er.

»Um Fortschritte zu erzielen, müssen wir dieses Thema aus wissenschaftlicher, ethischer, rechtlicher und menschenrechtlicher Sicht angehen«, sagte Martínez-Patiño, Sportwissenschaftlerin an der Universität Vigo in Spanien gegenüber »Nature«. Caster Semenya hat inzwischen Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. An den Olympischen Spielen 2021 wird sie jedoch nicht teilnehmen können. Die nächste große Chance für neue Regeln bietet die Leichtathletik-WM, die im Sommer 2022 in den USA stattfinden soll.

Policing Sex: eine Geschichte der Geschlechtstests im Frauensport

1936

Die US-Sprinterin Helen Stephens unterzieht sich einer Untersuchung, um ihr Geschlecht zu verifizieren, nachdem Journalisten ihren Sieg über 100 Meter bei den Olympischen Spielen in Berlin in Frage gestellt hatten. Das Ergebnis des nicht näher spezifizierten Tests, das bestätigt, dass sie eine Frau ist, wird öffentlich bekannt gegeben.

1946

Der Internationale Amateur-Leichtathletik-Verband (IAAF) verlangt ein ärztliches Attest, das die Startberechtigung bei Frauenwettkämpfen belegt. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) beschließt dieselbe Regel für die Spiele 1948.

1966

Frauen werden bei den Leichtathletik-Europameisterschaften einer Nacktkontrolle durch ein Ärztegremium unterzogen und bei den Commonwealth Games einer gynäkologischen Untersuchung. Die Tests stoßen auf Ablehnung, einige Athletinnen entscheiden sich, nicht anzutreten.

1967

Chromosomentests werden bei der Europameisterschaft erprobt. Die polnische Sprinterin Ewa Kłobukowska ist die erste, die daraufhin disqualifiziert wird. Das IOC übernimmt die Tests für die Olympischen Winterspiele 1968, bei denen auch der österreichische Skiläufer Erik Schinegger, der damals als Frau lebte, disqualifiziert wird.

1985

Die spanische Hürdenläuferin María José Martínez-Patiño wird von den Wettkämpfen ausgeschlossen, nachdem ein Chromosomentest ergeben hat, dass sie 46,XY ist. Sie legt Berufung ein mit der Begründung, sie habe das Androgen-Insensitivitäts-Syndrom und deshalb keinen Vorteil. Ihre Sperre wird 1988 wieder aufgehoben.

1992

Die IAAF beendet pauschale Geschlechtstests und untersucht stattdessen weibliche Athleten nur in bestimmten Fällen. Das IOC führt jedoch einen Test für alle Frauen ein, der auf dem SRY-Gen basiert. Dieser bleibt bis zu den Olympischen Spielen 2000 in Sydney, Australien, vorgeschrieben.

2009

Caster Semenya gewinnt bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften das 800-Meter-Rennen. Während des Wettkampfs wird von der IAAF und den Medien bekannt, dass die 18-Jährige einem Geschlechtstest unterzogen wird. Sie wird zum Rücktritt gezwungen, darf aber elf Monate später wieder antreten.

2011

Die IAAF beschließt eine Richtlinie für Testosteron, die den Blutspiegel für Teilnehmerinnen an Frauenwettbewerben auf 10 Nanomol pro Liter begrenzt. Wer über diesem Wert liegt und androgensensibel ist, muss testosteronsenkende Medikamente einnehmen oder sich einer Operation unterziehen, um an Wettkämpfen teilnehmen zu können.

2014

Die indischen Behörden verbieten die Teilnahme der Sprinterin Dutee Chand wegen ihres hohen Testosteronspiegels. Sie klagt vor dem Court of Arbitration for Sport (CAS), der 2015 zu ihren Gunsten entscheidet. Das IAAF-Reglement wird ausgesetzt, Chand kann ohne Einschränkungen an Wettkämpfen teilnehmen.

2018

Die IAAF verkündet ein Reglement, das einen Testosteron-Grenzwert von fünf Nanomol pro Liter für Teilnehmer an Frauenwettbewerben über 400 Meter und eine Meile festlegt. Mittelstreckenläuferin Semenya legt Einspruch beim CAS ein, der die Regeln bis zu einer vollständigen Anhörung aussetzt.

2019

Der CAS entscheidet gegen Semenya. Im folgenden Jahr verliert sie erneut vor einem Schweizer Gericht. Semenya legt Berufung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Das Urteil steht aus.

Nature, 10.1038/d41586-021-00819-0, 2021

Anm. d. Red.: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, der mexikanische Torwart Guillermo Ochoa habe an einer Hand sechs statt fünf Finger. Das ist nicht korrekt, die Passage haben wir entfernt.

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