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Herzgesundheit: »Sie können mehr als zehn gesunde Lebensjahre gewinnen«

Wer auf sein Herz achtet, lebt länger – das zeigt eine aktuelle Studie. Der Kardiologe Stefan Blankenberg erklärt, worauf es ankommt und warum man früh beginnen sollte.
Ein Arzt in einem weißen Kittel hält ein rotes Herzmodell in den Händen, das symbolisch für Herzgesundheit und medizinische Fürsorge steht. Im Hintergrund ist ein Stethoskop sichtbar, das um den Hals des Arztes hängt.

Viele Menschen unterschätzen, wie sehr sie ihre Herzgesundheit beeinflussen können. Stefan Blankenberg erlebt die Folgen jeden Tag auf seiner Station. Er leitet das Herzzentrum am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und ist der neue Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie.

Herr Blankenberg, auf dem Weg zu Ihrem Büro fiel uns auf, dass hier auf der Station einige Patienten in ihren Betten auf dem Flur warten. Ist bei Ihnen gerade viel los?

Ja, diese Woche sind wir bis unter das Dach voll. Wir haben neben den geplanten Behandlungen gerade viele Herzinfarkte.

Haben Sie eine Vermutung, woran das liegt?

Wir beobachten so einen Anstieg häufiger mal, wenn es einen starken Temperaturwechsel gibt von kalt zu warm, wenn es einen Tiefdruck-Hochdruck-Wechsel gibt. Dann kommen mehr Menschen mit einem Infarkt zu uns.

Stefan Blankenberg | ist Ärztlicher Leiter des Universitären Herz- und Gefäßzentrums Hamburg und Direktor der Klinik für Kardiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Ab Frühjahr 2025 übernimmt er die Präsidentschaft der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie.

Für einen Patienten ist das ein einschneidendes Ereignis, das Leben ändert sich von jetzt auf gleich. Ist das ein Gedanke, der Ihnen als Arzt auch nach der langen Berufserfahrung in den Sinn kommt?

Oh ja, wenn ich länger und etwas komplizierter interveniere, wie ich es erst heute Morgen getan habe, dann stelle ich mir manchmal vor: Wie wäre es eigentlich, wenn ich da jetzt liegen würde? Kein schöner Gedanke. Bei so einem Ereignis dreht sich das Leben um 180 Grad. Aber als derjenige, der therapiert, weiß ich, dass es doch auch im Notfall meistens gut ausgeht und man sehr gut helfen kann.

Was bedeutet das, wenn Sie sagen, Sie haben kompliziert interveniert?

Heute Morgen stand ein Patient ganz kurz vor einem Herzinfarkt. Er hatte eine hochgradige Engstelle, die in einer sehr ungünstigen Position in den Koronararterien lag. Das sind die Herzkranzgefäße, die den Herzmuskel mit Blut versorgen. Wenn so eine Engstelle noch dazu mit hartem Kalkmaterial versehen ist, muss man alle Techniken aufwenden, um das wieder durchgängig zu bekommen. Denn wenn diese Stelle zugeht, kann das lebensgefährlich werden.

Vor welcher Situation haben Sie als Arzt am meisten Respekt?

Wenn ein kritisch erkrankter Patient noch recht jugendlich ist – jugendlich heißt bei mir: alles unter 75, und besonders jugendlich ist unter 60. Wenn in so einem Fall die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass der Therapieerfolg nicht eintritt – das nötigt mir Respekt ab. Denn das bedeutet häufig einen bleibenden Schaden oder gar Todesfall.

Sie sagen »die Wahrscheinlichkeit, dass der Therapieerfolg nicht eintritt« – ist die Art, wie Sie das formulieren, bewusst so distanziert? Haben Sie sich das angewöhnt, um nicht ständig sagen zu müssen: Hier können Menschen sterben?

Ja, natürlich. Die Wahrheit zu sagen, ist unerlässlich, aber der Weg dahin ist gestaltbar. Wenn ich Patienten zum Beispiel über die Risiken eines Eingriffs aufkläre, ist das Wichtigste, die Sache zu beschreiben: Wie dehne ich die Koronararterie auf? Wie hoch ist das Risiko, dass dabei etwas schiefgeht? Was werde ich tun, falls zum Beispiel die Gefäßwand an einer Stelle reißt? Wenn ich ganz sachlich beschreibe, was da passiert, nimmt das den Menschen die Angst. Ich würde zum Beispiel nie so was sagen wie: Sie haben ja einen riesengroßen Infarkt.

Wie würden Sie es stattdessen sagen?

Sie haben eine Herzkranzarterie, die ist vorübergehend komplett verschlossen gewesen. Das hat den Blutfluss unterbrochen. Jetzt bemühen wir uns, das wieder aufzumachen, oder haben es schon aufgemacht. Aber wenn der Blutfluss zu lange unterbrochen war, kann das dazu führen, dass das Herzgewebe vorübergehend oder dauerhaft schwach wird. Und landauf, landab nennt man so etwas übrigens einen Herzinfarkt.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in Deutschland auf Platz eins der Todesursachen. Jeder dritte Todesfall geht zurück auf einen Herzinfarkt, eine Herzschwäche oder einen Schlaganfall. Müssen wir uns damit abfinden oder ließe sich das ändern?

Wir geben europaweit mit Abstand am meisten Geld dafür aus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu behandeln, darin sind wir wirklich gut. Doch bei der kardiovaskulären Lebenserwartung bewegen wir uns in Europa nur im untersten Fünftel. Warum? Weil der Weg dahin, die Prävention, sträflich vernachlässigt wird.

Haben Sie ein Beispiel?

Wenn ich zum Beispiel mit einem Patienten eine Stunde lang spreche und ihn überzeuge, mit dem Rauchen aufzuhören oder abzunehmen, bekommt mein Krankenhaus dafür 3,70 Euro. Wenn ich ihn nach einem Herzinfarkt 20 Minuten im Katheterlabor behandele, 30 000 Euro. Natürlich habe ich diese Zahlen jetzt etwas provokativ benannt, um den Unterschied zu verdeutlichen. Ein anderes Beispiel: Wir haben europaweit eine der höchsten Raucherquoten, aber unsere Tabaksteuer ist mit die niedrigste.

»Bei der kardiovaskulären Lebenserwartung bewegen wir uns in Europa nur im untersten Fünftel«

Wie viele Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen ließen sich durch eine bessere Prävention vermeiden?

Genau zu diesem Thema haben wir gerade eine weltweite Studie mit mehr als zwei Millionen Teilnehmenden aus 39 Ländern veröffentlicht. Meine Kollegin Christina Magnussen war da federführend. Wir haben ausgerechnet, wie viele gesunde Lebensjahre ein Mensch gewinnen kann, wenn er die fünf großen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen kontrolliert.

Welche fünf Risikofaktoren sind das?

Bluthochdruck, Diabetes, erhöhter Cholesterinspiegel, Unter- oder Übergewicht und Rauchen. Unsere Untersuchung zeigt, dass jeder sein Leben deutlich verlängern kann: Wer im Alter von 50 Jahren keine Risikofaktoren hatte, lebte mehr als zehn Jahre länger als diejenigen, die alle fünf Risikofaktoren hatten. Das heißt, Sie können mehr als zehn Jahre gewinnen. Selbst wenn man im Alter von 55 bis 60 Jahren nur seinen Bluthochdruck einstellen lässt, kann man fast zwei gesunde Lebensjahre gewinnen. Und aus früheren Studien wissen wir: Jede zweite Herzerkrankung wäre durch den Lebensstil vermeidbar.

Das zeigt die Studie

Für die Studie, die nun im renommierten Fachjournal »The New England Journal of Medicine« erschien, untersuchten Christina Magnussen vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und mehr als 100 internationale Wissenschaftler, wie sich die bekannten Risikofaktoren auf die Lebenserwartung auswirken. Das Ergebnis: Wer im Alter von 50 Jahren rauchte, über- oder untergewichtig war sowie Bluthochdruck, einen erhöhten Cholesterinspiegel und Diabetes hatte, erkrankte im Schnitt 10,6 Jahre (Männer) bis 13,3 Jahre (Frauen) früher an einer Herz- oder Kreislauferkrankung als Menschen, die keinen dieser Risikofaktoren aufwiesen.

Die Studie zeigte auch, dass es sich selbst im fortgeschrittenen Alter noch lohnen kann, den Lebensstil zu ändern: Wer zwischen 55 und 60 Jahren vier seiner fünf Risikofaktoren in den Griff bekam, gewann 3,1 (Männer) bis 5,1 (Frauen) Lebensjahre. Den größten Einfluss auf das Erkrankungsrisiko und die Lebenserwartung hatten in der Untersuchung der Blutdruck und das Rauchen.

Das ist ja eigentlich motivierend.

Ja, aber leider unterschätzen viele, dass das, was sie heute tun oder eben nicht tun, 30, 40 oder auch 50 Jahre später eine Konsequenz hat. Wenn Sie noch jung sind, merken Sie nicht unbedingt, ob Sie einen Blutdruck von 120 zu 70 oder 160 zu 80 haben, und es interessiert Sie vielleicht auch nicht. Nach dem Motto: »Mein Gott, mir geht's doch gut.« Aber irgendwann werden Sie die Folgen Ihres unbehandelten Bluthochdrucks spüren, ob mit Ende 60, mit 75 oder auch erst mit 80.

Seinen Lebensstil kann man ändern. Aber es gibt ja auch Risikofaktoren, auf die wir keinen Einfluss haben.

Ja, die familiäre Belastung beispielsweise. Wenn mir jemand gegenübersitzt, der meint, dass es in seinem Brustkorb etwas zieht und dann sagt: »Mein Vater hatte übrigens mit 45 einen Herzinfarkt«, gehen bei mir alle Alarmglocken an.

Worin genau besteht diese familiäre Belastung? Ist das eine genetische Veranlagung, und was ist der Mechanismus dahinter?

Die Frage kann ich mit 50 : 50 beantworten. Das eine ist: Menschen, die vor dem 50. Lebensjahr einen Herzinfarkt erleiden, haben genetisch bedingt extrem erhöhte Blutfettwerte und einen Bluthochdruck und von beidem nichts gemerkt. In diesem Fall führt die Genetik also zu etwas Messbarem, zu einem Risikofaktor, der erklärbar ist und der den Infarkt verursacht. Das sind die einen 50 Prozent. Die anderen: wissen wir nicht. Das versuchen wir aber herauszufinden, unter anderem in unserer Hamburg City Health Study, die hier seit ein paar Jahren läuft. Da sequenzieren wir das gesamte Genom von 10 000 Menschen. Wir wollen schauen: Wo gibt es weitere genetische Variationen, die das Risiko für eine frühzeitige Herzerkrankung erhöhen?

Hamburg City Health Study

Die Hamburg City Health Study gilt als größte lokale Gesundheitsstudie der Welt. Insgesamt 45 000 Hamburger im Alter von 45 bis 74 Jahren werden dafür untersucht. Die Forscher messen unter anderem den Puls und Blutdruck der Probanden, ihre Lungen- und Gefäßfunktion sowie die Gedächtnisleistung. Die Teilnehmer beantworten zahlreiche Fragen, etwa zu ihrer Ernährung. Über viele Jahre sollen sie nachverfolgt werden, um festzustellen, wer im Lauf der Zeit bestimmte Erkrankungen bekommt, wie etwa Herzinfarkt, Schlaganfall oder Demenz. Mehr als 30 Institute und Kliniken des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf sind an der Studie beteiligt.

Wenn Sie eine Kampagne starten könnten, um die Herz-Kreislauf-Gesundheit zu fördern: Was wären Ihre wichtigsten Ansatzpunkte?

Das sind insgesamt drei. Erstens: die Tabaksteuer erhöhen. Das ist eines meiner großen Anliegen für die nächsten drei Jahre, in denen ich Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie bin. Wenn ich mir mein Umfeld anschaue, wird immer noch oder wieder enorm viel geraucht. Auch unter den Jugendlichen. Wäre das Päckchen Zigaretten doppelt oder dreimal so teuer, würde die Raucherquote enorm sinken.

Was denken Sie über Kolleginnen und Kollegen, die rauchen?

Da versuche ich nicht drüber nachzudenken.

Was wäre der zweite Punkt Ihrer Kampagne?

Nahrungsmittel besser deklarieren. Es hat mich enorm geärgert, dass die verpflichtende Ernährungsampel gescheitert ist. Wenn Sie durch den Supermarkt gehen und die Regale von Grün bis Rot leuchten, greifen Sie automatisch weniger in den roten Bereich.

Und der dritte Punkt?

Screening-Programme etablieren. Bei den Vorsorgeuntersuchungen für Kinder, den U-Untersuchungen, sollten künftig auch ein bis zwei Dinge gemacht werden, die für die Herz-Kreislauf-Gesundheit wichtig sind. Der Kinderarzt könnte schon einmal die Blutfettwerte des Kindes bestimmen, um festzustellen, ob sie genetisch bedingt erhöht sind. So ein Test kostet zehn Cent, die kann man doch wirklich investieren.

Hand aufs Herz: Was tun Sie selbst, um gesund zu bleiben?

In meinem Alltag gilt ein absolutes Verbot von Aufzug und Rolltreppe. Ich laufe – sei es am Berliner Hauptbahnhof oder hier in den achten Stock auf Station. Und als meine Tochter beschloss, Veganerin zu werden, hat mich das inspiriert.

Sie leben vegan?

Nicht ganz. Ich verzichte auf Fleisch, aber nicht dogmatisch. Wenn es sich ergibt, esse ich auch mal ein Schinkenbrot. Aber das passiert nur noch alle zwei Monate.

Sie sprachen die Früherkennung an. Was schätzen Sie: Wie viele Menschen laufen da draußen herum, die gar nicht ahnen, dass sie Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in sich tragen?

So genau wissen wir das natürlich nicht. Studien liefern aber Anhaltspunkte. Für die Hamburg City Health Study haben wir bisher 20 000 Menschen untersucht. Bis zu 15 Prozent von ihnen hatten Risikoanzeichen, von denen sie nichts wussten. Manche hatten zum Beispiel unentdeckte Beinarterienverschlüsse oder einen nicht gut eingestellten Blutdruck.

Welche Früherkennungstests sollten junge Erwachsene machen, sagen wir im Alter zwischen 30 und 40?

Mit 30 sollte jeder seinen Blutdruck und seine Blutfettwerte kennen. Und man sollte definitiv auch mal ein EKG schreiben lassen. In etwa ein bis zwei Prozent der Fälle decken Ärzte auf diese Weise versteckte Herzrhythmusgefahren frühzeitig auf. Und die könnten – wenn auch sehr selten – ein bösartiges Rhythmusereignis wie den plötzlichen Herztod vorhersagen. So etwas kommt ja sonst »out of the blue«, ohne Anzeichen. Aber wenn man im EKG Hinweise findet, hat man die Möglichkeit, vorzubeugen.

Was die Blutfettwerte bedeuten

Die Blutfettwerte geben Auskunft darüber, wie viele verschiedene Fette das Blut enthält und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Sie sind wichtig, um das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu bewerten, und können vom Hausarzt oder Kardiologen bestimmt werden. Die wichtigsten Blutfettwerte sind das LDL-Cholesterin (»schlechtes« Cholesterin), das HDL-Cholesterin (»gutes« Cholesterin), die Triglyzeride, das Lipoprotein a, das Gesamtcholesterin (unter anderem LDL und HDL) sowie das Nicht-HDL-Cholesterin (alle »schlechten« Cholesterine, unter anderem LDL).

Was mache ich, wenn ich beim Herzcheck einen erhöhten Blutdruck habe oder erhöhtes Cholesterin? Kann das ein Zufallsbefund sein oder sollte ich direkt etwas unternehmen?

Da gehen die Meinungen auseinander, je nachdem, ob Sie bei einer Kardiologin sitzen oder bei einem Hausarzt. Ich würde sagen: Wenn der Blutdruck einmal in der Praxis erhöht war, sollte man das eine Woche später kontrollieren.

Ab wann würden Sie etwas unternehmen?

Wenn ein 30- oder 40-Jähriger in Ruhesituationen einen Blutdruck von beispielsweise 140 zu 80 hat, sollte man das auf jeden Fall im Blick behalten. Man kann das mal ein halbes Jahr beobachten und dem Patienten raten, mehr Sport zu treiben. Aber ein Blutdruck, der dauerhaft über 140 oder sogar über 150 liegt, gehört therapiert, weil das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall einfach zu hoch ist.

»Mit 30 sollte jeder seinen Blutdruck und seine Blutfettwerte kennen«

Das heißt Blutdrucksenker?

So ist es. Ich habe selbst auch mit 30 angefangen, regelmäßig meinen Blutdruck zu messen. Mit 35 hatte ich dann einen Blutdruck von 140, obwohl ich viel Sport gemacht habe. Da habe ich angefangen, einen Blutdrucksenker zu nehmen, weil ich wusste, dass das mein gesundes Leben verlängert.

Gerade jüngeren Menschen fällt es oft schwer, schon regelmäßig blutdrucksenkende Tabletten zu schlucken. Oder auch Statine gegen einen erhöhten Cholesterinspiegel.

Vor allem Statine sind ein hochemotionales Thema. Ich verstehe aber nicht, warum. Das ist erst einmal nur ein Stoff, der den Blutfettwert senkt und den man nehmen kann oder nicht. Es gibt Diagramme, an denen Sie genau ablesen können, wenn Sie einen LDL-Wert von so und so haben, wie hoch Ihr Risiko ist, in den folgenden 30 Jahren zu erkranken. Jeder Patient, dem ich so eine Kurve gezeigt habe, nimmt zu 100 Prozent danach Statine ein.

Umstritten ist ja aber, ab wann das sinnvoll ist.

Ja, manchmal kann man etwas höhere Grenzwerte erst mal akzeptieren und noch beobachten. Auf der anderen Seite: Was kann passieren, wenn man ein Statin nimmt? Zwei bis drei Prozent der Menschen bekommen Muskelschmerzen, bei manchen erhöhen sich bestimmte Leberwerte. Wenn man das merkt, setzt man das Statin eben wieder ab.

Sie sagten, dass Hausärzte und Kardiologen das zum Teil unterschiedlich sehen. Was macht man da als Patientin?

Schwierig. Es kommt immer auf den Wert und den Kontext an. Manches ist diskutierbar. Aber ich hatte hier letztens eine junge, sportliche Dame – wie eingangs gesagt: Jung heißt für mich unter 60 oder sogar unter 75. Und diese Dame hatte einen LDL-Cholesterinwert von über 160 Milligramm pro Deziliter. Da ist mit Ernährung und Sport nicht mehr viel zu machen. Doch der Hausarzt wollte nicht, dass sie Statine nimmt. Dabei grenzt es fast an Körperverletzung, wenn man das nicht macht. Denn ich weiß genau, dass bei über 160 Milligramm pro Deziliter LDL das Risiko für atherosklerotische Ablagerungen in den nächsten 30 Jahren gigantisch ist. Und die können bis hin zum Schlaganfall oder Herzinfarkt führen.

Empfehlen denn auch die Leitlinien in solchen Fällen Statine?*

Die europäischen Leitlinien, auf welche wir uns beziehen, nehmen den so genannten Score2 zur Kalkulationsgrundlage. Er berechnet auf der Basis des Alters, Geschlechts und der Risikofaktoren Blutdruck, Blutfettwerte, Rauchen und Diabetes, wie wahrscheinlich es ist, innerhalb der nächsten zehn Jahre einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Der errechnete Prozentwert wird als Grundlage für das Vorgehen herangezogen. Bei einer Frau im Alter von 60 Jahren, einem Blutdruck von 140, keine Raucherin wäre schrittweise vorzugehen.

Was heißt das?

Schritt eins wäre, den Lebensstil zu verändern. Bei einer sportlichen und schlanken, ernährungsbewussten Person, über die wir gerade sprachen, lässt sich so aber keine wesentliche Blutfettwertsenkung erzielen. Schritt zwei bedeutet dann die medikamentöse Therapie zu erwägen.

Was dabei aber dringend zu beachten ist: Diese Kalkulationen in den Leitlinien beziehen sich nur auf das Zehn-Jahres-Risiko. Wenn ich zum Beispiel 45 Jahre alt bin, gehe ich ja aber davon aus, 55 zu werden; wichtiger ist es, auch mein gesundes langes Leben jenseits der 55 im Blick zu haben. Und die Lipide entfalten ihre schädliche Wirkung eben besonders stark nach 20 bis 30 Jahren durch die dauerhafte Blutfettbelastung. Dieses enorme späte Risiko wird in den Leitlinien noch gar nicht abgebildet, das wird aber in den nächsten Jahren folgen. Dann werden die Schwellenwerte, um Statine zu verschreiben, vermutlich weiter sinken.

»Es gibt eine Grundvorhersage, die auf den vier großen Risikofaktoren basiert: Rauchen, Diabetes, Blutdruck und Blutfettwerte«

Wie genau lässt sich das individuelle Risiko vorhersagen?

Es gibt eine Grundvorhersage, die auf den vier großen Risikofaktoren basiert: Rauchen, Diabetes, Blutdruck und Blutfettwerte. Dafür gibt es einen Rechner und sogar eine App von der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie. Damit kann jede und jeder sein Zehn-Jahres-Risiko berechnen. Ich gebe da mein Alter, mein Geschlecht und mein Heimatland ein. Natürlich sollte man dafür eben seinen Blutdruck und den Blutfettwert kennen. Noch genauer wird die Prognose, wenn ich zum Beispiel einen Ultraschall von der Halsschlagader machen lasse oder den Wert eines bestimmten Blutfetts messen lasse, das so genannte Lipoprotein a, kurz Lp(a).

Lipoprotein a

Das Lipoprotein a, kurz Lp(a), ist ein fettähnlicher Stoff, der dem so genannten schlechten Cholesterin ähnelt, dem Low Density Lipoprotein (LDL). Grundsätzlich hat jeder Mensch Lp(a) im Blut, aber in sehr unterschiedlicher Menge. Ein hoher Wert kann das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen; auch wenn die Cholesterinwerte normal sind. Fachleute raten daher dazu, diesen Wert mitbestimmen zu lassen (das ist nicht der Standard). Wie die Cholesterinwerte kann das auch der Hausarzt im Rahmen einer Blutuntersuchung machen. Die Höhe des Lp(a)-Werts ist angeboren – sie lässt sich daher in der Regel nicht durch Ernährung oder Sport und derzeit auch noch nicht durch Medikamente beeinflussen. Die Therapie der Wahl ist daher, andere mögliche Risikofaktoren wie den LDL-Wert zu senken und das Gefäßrisiko insgesamt durch einen gesunden Lebensstil gering zu halten.

Angenommen, beim Ultraschall der Halsschlagader findet sich eine Ablagerung – woher weiß ich, ob sie schon behandlungsbedürftig ist?

Wenn Sie so einen Ultraschall machen lassen, dann am besten dort, wo große Expertise herrscht. Entdeckt der Kardiologe oder die Kardiologin während der Untersuchung atherosklerotische Plaques, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Das Wichtigste ist, Ihre Risikofaktoren zu senken, also mehr Sport zu treiben, die Ernährung umzustellen und zum Beispiel ein Statin oder einen Blutdrucksenker zu nehmen.

Was genau sind eigentlich diese Plaques, die sich in Blutgefäßen ablagern können?

Plaques bilden sich aus Fett- und Entzündungszellen sowie Abbauprodukten von Zellen. Sie sind von einer Bindegewebskappe umgeben und können so lange weiterwachsen, bis sie zu einer Verengung einer Arterie führen. Das nennt man Atherosklerose. Es kann aber auch passieren, dass der Inhalt der Plaque ganz plötzlich durch das Bindegewebe bricht und sich wie ein Vulkan entlädt. Sobald die Fett- und Entzündungszellen mit dem Blut in Kontakt kommen, aktiviert der Körper die Blutgerinnung, um die vermeintliche Verletzung zu heilen. Es entsteht ein Gerinnsel, das die Arterie verstopfen kann. Je nachdem, ob das in der Halsschlagader oder in den Herzkranzgefäßen passiert, kann das dann einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt auslösen.

Gerade Menschen, die einen Herzinfarkt erlitten haben, leiden hinterher oft unter Ängsten, weil sie ihrem Herzen nicht mehr vertrauen. Was sagen Sie in so einer Situation?

Wenn die Patienten mit einem Infarkt das Krankenhaus erreichen, dann ist die Prognose sehr gut. Und dann sage ich: Seien Sie froh. Jetzt kennen wir all Ihre Schwachstellen, haben die behoben. Sie sind jetzt viel sicherer als jemand, der überhaupt nicht weiß, was er hat. Sie können festen Vertrauens wieder gehen.

Die enge Verbindung zwischen Herz und Psyche wird häufig beschrieben. Erleben Sie das oft hier bei Ihren Patienten in der Klinik?

Ja, auf vielfältige Weise. Permanente psychische Anspannung kann zu Bluthochdruck und Herzschwäche führen. Bei Depressionen entwickeln sich entzündliche Prozesse im Körper, die negativ aufs Herz wirken können. Und Sie haben sicher schon von dem gebrochenen Herzen gehört: Tako Tsubo. Ich kann mich noch genau erinnern, als ich das zum ersten Mal bei einer jungen Frau gesehen habe. Beschwerden wie beim Herzinfarkt, EKG wie beim Herzinfarkt, Blutwerte wie beim Herzinfarkt. Nur die Herzkranzarterien waren erstaunlicherweise komplett in Ordnung. Frei. Superschön. Doch dann sieht man, dass sich das Herz nur noch an der Basis zusammenzieht und die Spitze sich zu einem Ballon aufwölbt. Deshalb nennt man es Tako Tsubo …

… benannt nach einer alten japanischen Tintenfischfalle, weil das Herz so aussieht wie ein Tintenfisch, der in einem Gefäß feststeckt.

Dieses Ereignis tritt nach einem hochgradig emotionalen, belastenden Ereignis auf. Nach einer schweren Trennung, hoher psychischer Belastung. Manche kommen gerade von einer Beerdigung. Doch wie das eine zum anderen führt, hat bis heute keiner richtig verstanden.

Ein gebrochenes Herz ist ein seltenes Phänomen. Ist Stress generell schädlich für das Herz-Kreislauf-System?

Also ich weigere mich, zu sagen: Stress ist automatisch eine Gefahr fürs Herz. Es gibt Anspannung und Entspannung, und es gibt diesen berühmten Eu-Stress und Dis-Stress. Wenn ich hier 14 Stunden am Stück in der Klinik arbeite und diese Arbeit mir Freude bereitet, dann ist das zwar Arbeit und manchmal auch etwas Anspannung, aber in dem Sinne kein Stress. Anders ist es mit Stress, den man negativ empfindet. Der ist auf Dauer höchstgradig ungesund. Dieser Stress bedeutet 30 mmHg mehr Blutdruck und damit: früherer Tod oder Herzinfarkt. Vor dem Hintergrund sollte man wirklich vermeiden, sich dauerhaft Stress hinzugeben.

Apropos 14-Stunden-Arbeitstage – Sie sind ab jetzt zusätzlich zu Ihrem Job im UKE auch Präsident der deutschen Kardiologen. Da werden Sie sich angesichts der Krankenhausreform auch der Frage stellen müssen, ob es in Deutschland, insbesondere in der Herzmedizin, zu viele Krankenhäuser gibt. Was denken Sie?

Ich unterstütze den Reformansatz. Sicher, wenn ich an einem kleinen Krankenhaus arbeiten würde, das geschlossen zu werden droht, wäre ich alles andere als begeistert. Und wir müssen die Ängste der Menschen ernst nehmen. Aber es ist dennoch richtig, wenn es weniger Krankenhäuser gibt.

Warum?

Nehmen wir die Herzchirurgie hier in Hamburg. Chirurgie am offenen Herzen bedarf einer unglaublich hohen Expertise. Sie wird aber in Zukunft weniger Fälle haben, weil wir in der Kardiologie viele Behandlungen minimalinvasiv machen können. Nun haben wir allein in Hamburg vier Herzchirurgien. Die Fälle, die da behandelt werden, reichen nicht aus, um an allen Orten eine ausreichende Ausbildung des Personals zu gewährleisten. Es wäre also im Sinne der Qualität, im Sinne von Patientinnen und Patienten, die Eingriffe auf zwei Zentren zu konzentrieren.

Weil mehr Eingriffe an weniger Orten zu mehr Routine und Können beim Personal führen.

Ja. Es braucht eine bestimmte Anzahl von Eingriffen pro Kopf. Wir haben letztes Jahr eine Vergleichsstudie zu Aortenklappen-Erkrankungen gemacht. Das war die weltweit erste nicht industrieabhängige Studie dazu. Sie hat eine große Kontroverse ausgelöst, weil die chirurgischen Ergebnisse in Deutschland schlechter sind als im internationalen Kontext. Das können Sie in der Ein-Jahres-Mortalität messen. Und das ist nicht, weil unsere Chirurgen schlecht wären, sondern weil die Strukturen nicht gegeben sind, um eine bessere Ausbildung und bessere Fähigkeiten zu gewährleisten. Deswegen müssen die Eingriffe auf weniger Krankenhäuser konzentriert werden.

Sie müssen entschuldigen, aber weil wir über das Herz reden, haben wir zum Schluss noch zwei, sagen wir mal, romantische Fragen …

Super. Ich freu mich schon.

Wenn alle Menschen ihr eigenes Herz sehen könnten, was würde das in ihnen auslösen?

Sie meinen, mit offenem Brustkorb? Ich denke, viele Menschen wären begeistert, wie ästhetisch das Herz ist. Die Fasern, die man da sieht, und wie sich die Arterien auf dem Herz entlangschlängeln. Und es sieht so majestätisch aus, wie es schlägt.

Letzte Frage: Ist das Herz wirklich das Organ der Liebe?

Eindeutig ja.

* Transparenzhinweis: Wir haben nachträglich an dieser Stelle im Interview eine Formulierung präzisiert und eine Frage sowie Antwort ergänzt, um konkreter ins Detail zu gehen, da die erste Fassung ein paar Fragen offenließ.

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