Renaturierung: »Man muss den Leuten klarmachen: So wie jetzt funktioniert es nicht«

Herr Zerbe, Sie sind 2017 ein Jahr lang durch Deutschland und Mitteleuropa gereist und haben sich zahlreiche Renaturierungsprojekte angeschaut. Verraten Sie uns Ihre Highlights?
Was mich sehr beeindruckt hat, ist die Rekultivierung, die RWE im rheinischen Revier durchführt. Ganz abgesehen von der Frage nach der Kohleenergie, das ist eine andere Diskussion. Wo Braunkohle im Tagebau abgebaut wird, entstehen in der Landschaft riesige Löcher und Abraumhalden. Die Sophienhöhe zum Beispiel ist eine große Deponie westlich von Köln. Dort wurden mit neuen Renaturierungstechnologien ganz neue Ökosysteme geschaffen: Seen, Wälder, Wiesen. Es wurden sogar ein Weinberg und eine Streuobstwiese angelegt. Das folgt auf die vorherige komplette Zerstörung der Kulturlandschaft. Von daher ist das ein großer Erfolg.
Hat der Konzern das freiwillig gemacht?
RWE war verpflichtet, zu renaturieren, aber sie haben deutlich mehr gemacht, als sie mussten. Sie haben auch eine eigene Forschungsstelle eingerichtet, die die Ergebnisse regelmäßig publiziert.
Weinberge, Streuobstwiesen, das klingt nicht gerade nach einer »ursprünglichen« Natur. Geht es darum nicht bei der Renaturierung?
Darum geht es nur sehr selten. Wir haben die Ökosysteme so stark verändert, dass wir den ursprünglichen Zustand – wann immer der genau war – meist gar nicht mehr herstellen können. Vielmehr geht es darum, ökologische Prozesse zu reaktivieren, die man durch Übernutzung oder nicht nachhaltige Nutzung verloren hat, und stattdessen ein funktionierendes Ökosystem wiederherzustellen. Das schließt auch eine Nutzung nicht aus, sofern sie nachhaltig ist und mit den natürlichen Ressourcen sorgsam umgeht.
Ist die Sophienhöhe denn ein solches funktionierendes Ökosystem?
Im Großen und Ganzen funktioniert es sehr gut. Dass man ab und zu noch mal nachjustieren muss, ist das Wesen der Renaturierung. Mittlerweile ist die Sophienhöhe auch ein wertvolles Naherholungsgebiet in einer ansonsten ausgeräumten Agrarlandschaft.
Sind Ihnen auf Ihrer Reise auch Negativbeispiele begegnet?
Die gibt es immer wieder. Mecklenburg-Vorpommern geht in eine sehr gute Richtung, was die Moorrenaturierung anbelangt. Aber als 2013 das Kieshofer Moor wiedervernässt wurde, ist dort ein Wald abgestorben. Das ist ökologisch erklärbar und auch sinnvoll: Wenn ich einen Wald schlagartig vernässe, dann sterben die Bäume, die nicht an Nässe angepasst sind. Aber das wurde nicht gut kommuniziert. Die Bevölkerung hat den toten Wald gesehen und gesagt: Ihr wollt renaturieren und macht stattdessen den Wald kaputt.
Welche Landschaften müssen wir am dringendsten wiederherstellen?
Die Forstwirtschaft hat in den letzten 30 Jahren durch wirklich zukunftsfähige Waldbauprogramme viel erreicht. Gleichzeitig haben wir immer noch große Nadelholzmonokulturen, die jetzt vielerorts aufgrund von Trockenheit und Borkenkäferbefall absterben. Also kann sich die Forstwirtschaft nicht in den Sessel setzen und warten. Anders sieht es in der Landwirtschaft aus. Dort haben die ganzen Naturschutzprogramme der letzten Jahrzehnte nicht verhindert, dass sehr viele Arten verschwunden sind und dass wir viele pestizidverseuchte und überdüngte Böden haben. Und zuletzt sind da natürlich die urbanen Räume, wo mittlerweile 70 Prozent der Menschen in Europa leben. Der Lebensraum Stadt muss verbessert werden, sonst kriegen wir ganz schlimme Probleme, auch mit Blick auf den Klimawandel.
Von Wäldern und Wiesen bis zu Dünen und Meeresböden – 80 Prozent aller Flächen der EU gelten als degradiert. Durch menschliches Handeln ist die Natur dort kaputt, und ökologische Funktionen laufen nicht mehr, wie sie sollten. Darum hat sich die EU 2024 mit dem Renaturierungsgesetz verpflichtet, bis 2050 die Wiederherstellung fast aller dieser zerstörten Lebensräume in Gang zu bringen.
Das umstrittene Gesetz steht unter heftigem Beschuss aus konservativen Kreisen. Die Renaturierung ist aber vielerorts längst im Gang. Unsere Autorin Iris Proff hat drei europäische Großprojekte besucht, die Methoden erproben, um verlorene Biodiversität in Wälder, Flüsse und Meere zurückzubringen. Überall zeigt sich: Ohne die lokale Bevölkerung geht es nicht.
Gibt es Städte, die mit gutem Beispiel vorangehen?
Da muss man das ganze Ruhrgebiet betrachten. Dort sind durch die industrielle Transformation Flächen frei geworden, mit denen man etwas machen musste. Da wurden sehr schöne Projekte initiiert, wie die Wiederbegrünung von Industrieanlagen. Ein anderes Vorzeigeprojekt ist die Renaturierung eines Abschnitts der Wupper in Wuppertal. Hier war der Fluss bis in die 1980er Jahre ein stinkender Abwasserkanal – wie viele Flüsse in Mitteleuropa, die durch große Städte fließen. Hier hat sich viel verändert, auch durch die Europäische Wasserrahmenrichtlinie. Auch entlang der Isar in München wurden naturnahe Uferbereiche wiederhergestellt und die Menschen haben Zugang zum Wasser bekommen. Sie sehen den Fluss nicht mehr als bedrohlich oder negativ. Das ist auf ökologischer und auf sozialer Ebene wirklich ein Erfolg.
Muss der Mensch immer eingreifen? Kann man die Natur nicht einfach sich selbst überlassen?
Im Wald ist passive Renaturierung oft sinnvoll. In vielen Kieferforsten verjüngt sich die Kiefer nicht mehr, sondern die besser angepassten Laubbäume. Das heißt, man muss einfach warten, und dann hat man in 50 Jahren einen Laubbestand. In einem Fichtenforst funktioniert das nicht. Wenn man da passiv renaturieren würde, hätte man wieder eine Fichtenmonokultur.
Haben Sie noch ein Beispiel?
Auch wenn der Boden verseucht ist, kann man nicht passiv renaturieren. Also im urban-industriellen Bereich oder auch bei Überdüngung in der Landwirtschaft. Da muss der Boden gesäubert werden, und dann braucht es Geduld, bis sich diese Systeme erholen. Diese Geduld fehlt aber häufig. Man hat in den letzten Jahrzehnten Ökosysteme zerstört und erwartet nun, dass sie in wenigen Jahren renaturiert werden. Im Küstenbereich funktioniert das, da legt man einen Deich zurück und hat innerhalb weniger Jahre wieder eine Salzwiese. Doch bei vielen anderen Ökosystemen braucht es mehr Zeit.
Renaturierung dauert nicht nur lange, sondern ist auch teuer. Muss der Staat das alles zahlen oder gibt es Möglichkeiten, andere Geldgeber zu gewinnen?
Ich möchte erstmal klarmachen, dass Renaturierung nicht bedeutet, dass man nur investiert und nichts dabei rauskriegt. Wenn ich in der Landwirtschaft ein degradiertes System habe, dann kann Renaturierung es wieder produktiv machen – möglicherweise nicht wie ein Intensivsystem, aber eben nachhaltig produktiv. In den letzten 15 Jahren hat sich eine eigene Disziplin entwickelt, die das untersucht und quantifiziert: die Renaturierungsökonomie.
Und was ist mit der Finanzierung?
Deutschland hat eine sehr vielfältige Stiftungslandschaft, die auch Naturschutzaktivitäten unterstützt. Eine andere Möglichkeit ist, dass Firmen Geld in die Hand nehmen. Coca-Cola zum Beispiel investiert in Österreich in die Renaturierung der Donau. Allerdings muss man dabei aufpassen, dass das nicht zu Greenwashing führt, wenn die unterstützten Projekte letztlich nicht sinnvoll sind.
Kann Renaturierung auch von den Menschen vor Ort ausgehen?
Ja, Initiativen von Einzelpersonen, Betrieben und Gemeinden spielen auch eine Rolle. Hier möchte ich das Dorf Brodowin nördlich von Berlin nennen. Dort hat die Agrargenossenschaft »Ökodorf Brodowin« eine Streuobstwiese renaturiert, Hecken wieder in die Landschaft gebracht, und sie beweiden artenreiches Grünland extensiv. Die Renaturierung ist hier also von einem landwirtschaftlichen Betrieb ausgegangen.
Und was passiert, wenn die Bevölkerung nicht mitspielt?
Ich komme aus Aschaffenburg, aus dem Spessart. Da wollte man vor einigen Jahren einen Nationalpark etablieren. Das war von oben bestimmt, die bayerische Landesregierung hat gesagt: Wir brauchen einen zusätzlichen Nationalpark, und der Spessart passt gut. Die Bevölkerung ist jedoch auf die Barrikaden gegangen, und so wurde das komplett an die Wand gefahren.
Was kann man daraus lernen?
Es ist wichtig, von Anfang an die Bevölkerung miteinzubeziehen, im besten Fall so, dass die Leute selbst aktiv werden. Damit spart man Kosten und trägt dazu bei, dass die Leute eine positive Einstellung gegenüber dem Projekt haben. Mittlerweile gibt es ein Repertoire an Methoden, mit denen man die Bürger partizipieren lassen kann. Es ist oft viel Überzeugungsarbeit notwendig, und man muss den Leuten klarmachen: Wie es jetzt läuft, funktioniert es nicht.
Beim EU-Renaturierungsgesetz, das 2024 beschlossen wurde, ist das nur bedingt gelungen: Einflussreiche Verbände und Parteien versuchen nach wie vor, das längst beschlossene Gesetz zu Fall zu bringen. Brauchen wir überhaupt eine solche europaweit einheitliche Regelung?
Ja. Wir brauchen Renaturierung zum Überleben. Wenn man in Europa feststellt, dass 80 Prozent der Ökosysteme und Landnutzungssysteme in einem degradierten Zustand sind, dann muss Renaturierung eine Toppriorität sein. Das Gesetz ist eine ähnlich gute Initiative wie die Wasserrahmenrichtlinie. Es hätte eigentlich schon früher kommen müssen. Aber das Problem liegt eben in der Umsetzung. Wir schaffen es allein mit Naturschutzgebieten und Nationalparks nicht, diese degradierten Ökosysteme wiederherzustellen. Das heißt, wir müssen die Nutzung wieder nachhaltig machen, und das Gesetz gibt hier einen wichtigen Impuls.
Konservativen Politikern und Bauernverbänden zufolge ist das Gesetz nicht umsetzbar. Was halten Sie von diesem Einwand?
Große Teile der Landwirtschaft müssen einfach umdenken. Wir produzieren zu viel, wir produzieren ungesund. Aber natürlich werden Menschen immer nervös, wenn sie etwas verändern müssen, was sie jahrzehntelang so gemacht haben. Hier in Südtirol ist das extrem, hier ist Renaturierung so gut wie kein Thema, mit Ausnahme der Flüsse. Denn der Laden brummt mit der Apfel- und Weinproduktion. In solchen Regionen wird es ganz schwierig sein, Renaturierungsprojekte auf den Nutzflächen zu etablieren. Doch wir müssen da ran. Allerdings passiert das nicht, indem man dem Landwirt eine Fläche wegnimmt und sagt: Das ist jetzt wieder Natur, die darf nicht mehr genutzt werden. Vielmehr wollen wir ins Gespräch kommen: Wie könnt ihr euer Land anders nutzen, sodass es nachhaltiger ist, biodiverser, mehr Ökosystemleistungen erbringt? Hier gibt es einige Missverständnisse.
Machen Sie sich Sorgen, dass das Renaturierungsgesetz noch zurückgedreht werden könnte?
Das ist eine politische Frage, und ich bin Ökologe. Aber ich als Bürger mache mir schon Sorgen. Wenn man sich die Weltlage anschaut, sind wir in einer Phase, in der beim Natur- und Klimaschutz abgespeckt wird, weil einfach andere Prioritäten gesetzt werden. Doch die vielen tollen Initiativen von Einzelpersonen, von Gruppen, von Verbänden, von Betrieben, die einen anderen Pfad einschlagen, werden in jedem Fall weiterlaufen. Ich hege die Hoffnung, dass die irgendwann im Größeren aufgenommen werden, auch hier in Südtirol.
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