Erich Kästner: »Ein Weltuntergang in zehn Zeilen und eine Herde Einhörner«
Kinderbuchautor, Humorist und Moralist – lange Zeit wurde der Schriftsteller Erich Kästner in der Forschung kaum ernst genommen. Zu Unrecht, findet Sven Hanuschek, Kästner-Biograf und Literaturwissenschaftler an der LMU München. Kästner war und ist einer der erfolgreichsten Autoren deutscher Sprache, seine Kinderbücher gelten als zeitlose Klassiker. Ebenso schrieb er lyrische Werke und Romane wie »Fabian«.
2024 ist – im kästnerschen Sinn – ein doppeltes Jubiläumsjährchen. Der Autor kam vor 125 Jahren am 23. Februar in Dresden zur Welt, und am 29. Juli vor 50 Jahren starb er in München. Dementsprechend herrscht zurzeit viel Trubel um ihn. Es seien regelrechte Kästner-Festspiele, findet Hanuschek – anlässlich eines Schriftstellers, dessen Werke zwar leicht daherkommen, jedoch dramaturgisch und sprachlich tiefgründiger angelegt sind als gemeinhin bekannt.
Herr Hanuschek, gerade ist viel los um Kästner. Aber war es je still um ihn?
Es gab schon Jahre, in denen wenig passiert ist oder in denen er sehr kritisch gesehen wurde. In den 1980er und 1990er Jahren erschienen einige kritische Dissertationen. Doch tatsächlich muss man sagen: Auch in der Zeit wurden seine Bücher verfilmt. Und gelesen wurde er immer.
Können Sie erklären, warum es immer wieder neue Filme gibt? 2023 »Das fliegende Klassenzimmer«, 2021 »Fabian oder Der Gang vor die Hunde«, 2017 »Das doppelte Lottchen«. Was macht die Stoffe so zeitlos?
Die wichtigsten Gründe sind bestimmt Kästners Zugang zu Emotionen und die enorm durchdachte Dramaturgie. Seine Geschichten sind unheimlich gut auf den Punkt geschrieben. Da ist kein Wort zu viel, die Handlungen sind stark durchkomponiert. Das macht die Stoffe so haltbar. Und gerade bei den Kinderbüchern merken wir: Er weiß, wie sich kindliche Ängste anfühlen. Er selbst hat erst spät einen Sohn bekommen, aber er wusste aus der eigenen Kindheit noch genau, wie er sie erlebt hatte. Er nimmt kindliche Emotionen ernst. Dazu kommt eine meist schwungvolle Sprache.
»Das doppelte Lottchen« finde ich sprachlich bisweilen altbacken …
»Das doppelte Lottchen« ist auf eine andere Art interessant als etwa »Emil und die Detektive« oder »Pünktchen und Anton«. Es geht um eine Menge Erwachsenenprobleme, und vieles scheint für Erwachsene geschrieben zu sein, zum Beispiel Lottes Albtraum über die Trennung der Zwillinge, als der Vater das Bett der Mädchen durchsägt. Was mir gefällt: Es gibt zwei Heldinnen, die gemeinsam all die Schwierigkeiten durchleben und Probleme lösen. Kästners Frauenbild ist zwar nicht immer sympathisch, doch in diesem Buch sind nicht Musterknaben, sondern Mädchen die Handelnden. Beim »Lottchen« finde ich außerdem aufregend, dass Kästner subtil politische Ebenen in die Geschichte eingewoben hat. Eine ist mir erst vor Kurzem aufgefallen: Kästner hat »Das doppelte Lottchen« auf der Fraueninsel im Chiemsee geschrieben, während zugleich auf der Herreninsel der Verfassungskonvent tagte.
Sie meinen, als Sachverständige 1948 auf Herrenchiemsee einen Entwurf des Grundgesetzes ausgearbeitet haben.
Ja, genau. Ich wollte wissen, ob das für ihn eine Bedeutung hat. Und tatsächlich findet man in Kästners Text einiges dazu. Bei der Trennung der Zwillinge geht es unterschwellig um die deutsche Teilung. Luise und Lotte sind nach einer Person benannt, nach Kästners Freundin Luiselotte Enderle. Und im Roman geht es wie beim Konvent um Verträge und Friedensverhandlungen. Diese Ebene ist bestimmt nicht für Kinder gedacht.
Kästner ist einer Ihrer Forschungsschwerpunkte. Wie ernst nehmen Ihre Fachkolleginnen und -kollegen den Autor?
Das Urteil von Lesepublikum und Literaturwissenschaft fällt bei Kästner immer schon etwas auseinander. Den begeisterten Lesern steht eine Literaturwissenschaft gegenüber, die den Volksschriftsteller lange belächelte. Das ändert sich gerade. Es gibt Publikationen, Kästner-Konferenzen, ein Kästner-Handbuch und ein Jahrbuch der Kästner-Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass die Rezeption an Niveau zugelegt hat. Davor war er vor allem in der Forschung zur Kinder- und Jugendbuchliteratur präsent. Doch in den letzten Jahrzehnten hat die Wissenschaft ihn wieder als Erwachsenenautor entdeckt. Zu Recht. Kästners Sprache kommt zwar oft gefällig daher, aber wenn man sie untersucht, zeigt sich, dass jedes Wort sitzt. Seine Texte sind sehr gefeilt und tiefgründig. Er war immerhin promovierter Germanist und hat Philosophie studiert. Allerdings wollte er für ein großes Publikum schreiben und etwas bewirken. Ein weiteres Problem für die Literaturwissenschaft: Er schrieb mit Humor. Damit kann man es in Deutschland in dem Fach selten zu was bringen. Und wenn Literaturforscher Komik auseinandernehmen, wird es meist ziemlich unwitzig.
Kästner wurde stets übel genommen, dass er während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland geblieben ist. Und dass er damals keinen großen Roman über Nazideutschland geschrieben hat.
Dazu gibt es eine Menge Fehleinschätzungen. Kästner hatte sich 1933 nicht vorgenommen, den großen Zeitzeugenroman zu liefern und deshalb in Deutschland zu bleiben – als seine Freunde, Verleger und Kollegen schon weg waren. Anfangs hat er wie viele andere die Lage falsch beurteilt und gedacht, der Spuk geht vorüber. Das hat er später selbst sehr kritisch gesehen. Er hat sich im Nachhinein nie als Held präsentiert und sein Verhalten durchaus hinterfragt. Warum hatte er zugeschaut und nur die Fäuste in der Hosentasche geballt, als seine Bücher ins Feuer geworfen wurden?
In den Kriegsjahren fing er an, für einen Roman zu sammeln, aber das Modell ist ihm 1945 zusammengebrochen. Weil ihm klar wurde, was der Holocaust war, weil er erkannte, dass er bei dem Thema nur scheitern konnte. Ich finde, das ehrt Kästner. Wer hat in den 1940er oder 1950er Jahren den großen Roman über die Nazizeit geschrieben? Niemand. Der kam erst Jahrzehnte später, als Autoren Strategien entwickelt hatten, mit den Stoffen umzugehen. Kästner hat dann versucht, 1956 mit »Schule der Diktatoren« und 1961 mit »Notabene 45« seinen Teil zur Aufklärung beizutragen. Nach 1945 war er zudem ein ganz anderer politischer Autor als noch vor 1933. Vor dem Krieg schrieb er eher Lyrik und Kabarett, danach mehr Essays. Er hielt politische Reden, ging auf die Straße und war bei Demos vorne dabei.
Während des Dritten Reichs wurden Kästners Bücher verboten und verbrannt. Doch er fand Wege, unter Pseudonym zu schreiben. Wie ordnen Sie den Film »Münchhausen« aus dem Jahr 1943 ein, für den Kästner als »Berthold Bürger« das Drehbuch schrieb?
Dass ein Autor, der seit Jahren nicht arbeiten durfte, die Gelegenheit nutzte, das Drehbuch zu schreiben, finde ich verständlich. Der Film war Göbbels wichtig, kam aber nicht zuallererst als Propagandafilm heraus. So schaffte es Kästner, ein paar spitze Bemerkungen und eine Hitler-Karikatur in den Film zu schmuggeln. Das ist schon sehr lustig. Hitler drehte durch, als er erfuhr, wer hinter dem Pseudonym steckte.
Trotzdem wurde Kästner später scharf kritisiert. Haben viele Leserinnen und Leser einen hohen moralischen Anspruch an ihren Lieblingsautor? Als müsste er besser sein als Anton oder Emil?
Das hängt vielleicht mit dem Missverständnis zusammen, ein Moralist müsste moralisch sein. Dabei ist er einer, der die Gesellschaft beobachtet. Wie moralisch sollte er denn sein? Kästner musste auch ein Alltagsleben führen und irgendwie durchkommen. An viele Schriftsteller werden hohe Ansprüche gestellt – sie müssten so sein, wie sie schreiben, oder leisten, was sie in ihren Schriften verlangen. Das ist naiv.
Sie schreiben in Ihrer Biografie, dass sich Kästner selbst stark stilisierte. Inwiefern schrieb er sich ein Musterjungen-Image auf den Leib?
Die Selbststilisierung ist nicht unproblematisch, aber er relativierte sie später in Interviews und Reden. Sein autobiografisches Buch »Als ich ein kleiner Junge war« ist recht schonungslos. Vielleicht weil er nicht wie sonst für seine Mutter schrieb, sondern über sie. Sein Mutterbild ist zum Teil sehr bitter und nicht wirklich kindertauglich. Da hat er wenig beschönigt. Zugleich hat er in seine Tagebücher für die Veröffentlichung in »Notabene« stark eingegriffen. Er wollte schon entscheiden, wie die Nachwelt ihn sieht. Das wird etwa an der sehr überarbeiteten Sprache deutlich.
»Wenn Literaturforscher Komik auseinandernehmen, wird es meist ziemlich unwitzig«
Trotzdem sollte es klingen »wie hingespuckt«, sagte Kästner einmal.
Das ist eine meiner Lieblingsformulierungen. Damit es sich am Ende leicht liest, feilte er an jeder Silbe. Gleichzeitig konnte er sehr schnell und viel schreiben, das hatte er aus dem Journalismus. Er nutzte die journalistischen Techniken für die Literatur. »Fabian« schrieb er unheimlich schnell, und trotzdem ist der Text sehr geschliffen. Für sein Empfinden wie hingespuckt.
Er schrieb nicht nur viel, sondern bespielte auch viele Medien.
Kästner war immer an den neuen Medien seiner Zeit dran und hat mit ihnen experimentiert. Er hat früh für den Film geschrieben. Es gibt eine Funkoper, Hörspiele, Drehbücher, Kabarettstücke, Werbung, Essays, Romane, Lyrik. Dabei hatte er immer einen Blick für die dramaturgische Struktur. Deshalb lassen sich die Stoffe so gut verfilmen. Das Schreiben war ihm wichtig. Es musste ständig kreativ sein. Als diese Kreativität im Alter nachließ, hat er unheimlich gelitten. Für ihn war es wichtig, sein Publikum zu erreichen, und das hat großartig geklappt. Das zeigt die Fanpost von Kindern und Erwachsenen.
Und offenbar tauchen immer noch unbekannte Texte von Kästner auf.
Neulich wurde ein unheimlich lustiges Gedicht gefunden: ein Weltuntergang in zehn Zeilen. Es geht um das posttechnische Zeitalter, und es kommt eine Herde Einhörner darin vor. Das Gedicht ist sehr witzig illustriert. Ein Zufallsfund, der als Faksimile in die aktualisierte Fassung der Biografie aufgenommen wurde. Aber auch sonst: Immer wieder tauchen bislang unbekannte Zeitungstexte und Gedichte von ihm auf. Auch weil er manches unter Pseudonym geschrieben hat. Einige Kisten standen bei seiner Sekretärin oder in Berliner Archiven. Wir wissen also nicht, was er noch alles geschrieben hat. Kästners Wohnung brannte im Zweiten Weltkrieg aus. Zudem vernichtete er womöglich Texte, nachdem die Gestapo ihn mehrfach vernommen hatte. Ihm war klar, dass er für viele Texte im KZ gelandet wäre.
Wie sind Sie eigentlich zu Kästner gekommen?
Ich hatte als Kind ein paar seiner Bücher gelesen, aber richtig mit ihm beschäftigt habe ich mich später im Rahmen eines Forschungsprojekts über das PEN-Zentrum, eine Schriftstellervereinigung, deren Präsident Kästner zehn Jahre lang war. Damals habe ich mich gewundert, dass die Biografien so glatt sind, und habe deshalb angefangen, mich mit dem Nachlass zu beschäftigen. Meine Biografie über ihn erschien erstmals 1999. Doch weil immer wieder Neues von Kästner auftaucht, geht die Arbeit weiter.
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