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Charismatische Arten: Invasoren mit Knuddelfaktor

Ob wir Tier- und Pflanzenarten schön, niedlich oder nützlich finden, hat direkten Einfluss auf deren Wohlergehen. Das zeigt sich besonders deutlich am Umgang mit invasiven Arten.
Der Inbegriff der charismatischen Invasoren: der Waschbär

Zwischen den Jahren 1890 und 1891 ließ der New Yorker Eugene Schieffelin rund 100 Stare über dem Central Park aufsteigen. Angeblich wollte er alle Vögel, die Shakespeare in seinen Werken erwähnt, in Amerika heimisch machen. Heute ist der Bestand in den Vereinigten Staaten auf 200 Millionen Exemplare angewachsen, die einen geschätzten landwirtschaftlichen Schaden von 800 Millionen US-Dollar im Jahr verursachen.

Seit jeher wirbelt die Menschheit die Ökosysteme durcheinander, selten mit so exzentrischen Motiven wie Schieffelin, fast immer aber aus zutiefst menschlichen Gründen: Die Konquistadoren brachten neben Krankheitserregern auch das Pferd als Reittier nach Amerika. In Mauritius machten Ratten, Affen und Schweine dem Dodo den Garaus und der Mauritius-Ralle gleich mit. Die Invasoren waren auf den Schiffen der Europäer mitgesegelt. Entdecker führten das Kamel in Australien ein, wo es bis heute lebt. Aus Käfigen entkommene Halsbandsittiche bevölkern den Rhein, und in der Spree schwimmen südamerikanische Nutrias, deren Vorfahren einst auf Pelzfarmen gezüchtet wurden.

Sie alle zählen zu den so genannten invasiven Arten – Arten, die der Mensch, bewusst oder unbewusst, eingeschleppt hat. Ob sie sich in ihrer neuen Umgebung dauerhaft etablieren oder, wie Schieffelins Stare, sogar über einen ganzen Kontinent ausbreiten, hängt von vielen Faktoren ab: von den Fressfeinden vor Ort, von den klimatischen Bedingungen und nicht zuletzt auch von ihrer Attraktivität. »Charismatische Arten haben es bei der Ausbreitung deutlich leichter«, sagt Franz Essl.

Der Waschbär ist geradezu der Inbegriff einer charismatischen Art

Der Biologe von der Universität Wien hat als Koautor einer im April 2020 erschienenen Studie untersucht, inwieweit das Aussehen von Pflanzen oder Tieren ihnen bei der Ausbreitung von Nutzen ist. »Charismatisch in diesem Sinn sind zum Beispiel Arten, denen die Mehrheit eher positiv gegenüber eingestellt ist, weil sie positive Emotionen auslösen«, sagt Essl. Hilfreich ist zum Beispiel, wenn eine Art uns ähnlich ist, das Kindchenschema erfüllt, besonders zutraulich, neugierig oder niedlich ist. Insekten und andere Wirbellose können kaum mit Charisma punkten, Vögel und vor allem Säugetiere dagegen schon.

Ein possierlicher Nager verdrängt den schüchternen Einheimischen

Das Grauhörnchen ist dafür ein gutes Beispiel: Die nordamerikanische Entsprechung unserer Eichhörnchen ist etwas größer und zutraulicher als die europäischen Hörnchen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Tiere in Parkanlagen in England freigelassen. Amerikareisende hatten Gefallen an den flinken Nagern gefunden und erhofften sich von ihnen eine Bereicherung der heimischen Fauna. Heute leben mehrere Millionen Exemplare der amerikanischen Variante in England. Wo sie sich breitmachen, bleibt für die roten Eichhörnchen kein Platz mehr. Die Grauhörnchen sind größer und deshalb durchsetzungsstärker. Außerdem stecken sie ihre europäischen Verwandten mit schweren Krankheiten an, die ihnen selbst kaum etwas ausmachen.

Problemhörnchen | Invasive Grauhörnchen schaden dem in Europa einheimischen roten Eichhörnchen. Eine Ausrottungskampagne stieß aber auf Widerstand von Naturschützern, die sich das putzige Äußere des Nagers zu Nutze machten.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat das Grauhörnchen auch im nördlichen Italien eine neue Heimat gefunden. Auf Grund der Erfahrungen aus England gab es in den 1990er Jahren konkrete Pläne, die invasive Art zurückzudrängen oder ganz zu eliminieren. »Dazu kam es dann aber nicht, weil der öffentliche Widerstand gegen die Maßnahmen zu groß geworden ist«, sagt Essl. Unter anderem haben Tierschützer eine niedliche Comicversion des Grauhörnchens entwickelt, mit der sie für den Erhalt der Neubürger warben. Offenbar mit Erfolg. Zumindest ist das Grauhörnchen weiter auf dem Vormarsch und dabei, seine rötlichen Verwandten zu verdrängen.

Auch der Waschbär wurde in Deutschland angesiedelt, um »die heimische Fauna zu bereichern«. 1934 war das am hessischen Edersee. 1945 entkamen außerdem rund 20 Waschbären einer Pelzfarm bei Straußberg (Brandenburg) und gründeten eine zweite Population. Mittlerweile ist der Gesamtbestand auf mehrere hunderttausend Tiere angewachsen. Mit seiner pummeligen Gestalt, dem dichten Fell, der Panzerknackermaske und den geschickten Händen ist er geradezu der Inbegriff einer charismatischen Art.

Allerdings können die alles fressenden Kleinbären auch ökologische Schäden anrichten: Waschbären machen sich mit ihren flinken Fingern zum Beispiel gern über Eier und Jungvögel her. Deshalb werden sie mitverantwortlich für den Rückgang von Bodenbrütern gemacht. Aber auch baumbrütende Arten sowie Amphibien und Reptilien stehen auf ihrem Speiseplan. Die letzten Großtrappen in Deutschland konnten bislang nur deshalb überleben, weil die bevorzugten Brutplätze großräumig eingezäunt wurden. Hinter dem Zaun sind die Trappen und ihre Eier sicher vor Füchsen, Waschbären und anderen Prädatoren.

Waschbären gefährden die Europäische Sumpfschildkröte

Auch die vom Aussterben bedrohte Europäische Sumpfschildkröte gerät durch den Waschbären zusätzlich unter Druck. Deutlich häufiger als früher werden heute Schildkröten mit Bisswunden gefunden, die auf den Waschbären zurückgehen. In Mecklenburg-Vorpommern sah sich ein zunächst erfolgreiches Wiederansiedlungsprojekt gezwungen, die Lebensräume der Schildkröten durch einen Elektrozaun vor Waschbären zu sichern.

Der Waschbär könnte also tatsächlich einigen vom Aussterben bedrohten Arten den Garaus machen. Gegen die regionale Bekämpfung der Raubsäuger regt sich allerdings Widerstand: Die Tierrechtsorganisation PETA spricht sich etwa auf ihrer Internetseite pauschal gegen die Waschbärenjagd aus. Andere Verbände wie etwa der NABU akzeptieren die Jagd zumindest in Einzelfällen auf lokaler Ebene. Tatsächlich ist unklar, ob eine Bejagung überhaupt zur Bestandskontrolle taugt. Die Debatte darüber wird aber intensiv geführt und von der Öffentlichkeit weitaus aufmerksamer verfolgt als bei den weniger charismatischen Neubürgern Marderhund und Mink.

Manche einheimische Arten können sich dagegen mit ihrem eigenen Charisma regelrecht zur Wehr setzen – indem sie gewissermaßen den Menschen dafür einspannen. »Wenn eine fremde invasive Art eine bekannte heimische Art gefährdet, sind Maßnahmen zu ihrer Eindämmung leichter durchzusetzen«, sagt Essl. An der Ostküste Schottlands etwa drohte die eingeschleppte Baumförmige Strauchpappel mehrere Brutkolonien des Papageitauchers zu überwuchern. Weil es immer weniger Raum für Nistplätze gab, brachen die Populationen in der Folge zusammen. Die Bedrohung für den fotogenen Vogel mit seinem bunten Schnabel rief bald mehr als 1300 Freiwillige auf den Plan, die nun in regelmäßigen Einsätzen die Strauchpappeln zumindest im Zaum halten.

Manchmal funktioniert die Bestandskontrolle

Dass allerdings auch charismatische Invasoren zurückgedrängt werden können, zeigt ein Beispiel aus Großbritannien. Hier wurde die Nutria in den 1980er Jahren erfolgreich eliminiert, nachdem sich aus Pelztierfarmen entflohene Tiere stark vermehrt hatten. Hintergrund der Bejagung war aber eher die Abwehr einer wirtschaftlichen als einer ökologischen Bedrohung: Nutrias leben in Höhlen, die sie in die Uferböschung graben. Sie können also erhebliche Schäden an Deichen anrichten und somit Menschen oder deren Besitzstand in Gefahr bringen.

Schwarzkopfruderente | Wegen ihres blauen Schnabels wurde die Ente als Ziervogel nach Europa eingeführt. Doch hier zu Lande bedroht sie ihr seltenes einheimisches Pendant. In Großbritannien wurde sie darum bereits gezielt ausgerottet.

Auch auf die Schwarzkopfruderente wird in Europa gezielt Jagd gemacht und das, obwohl sie mit ihrem markanten blauen Schnabel auf der Attraktivitätsskala eigentlich weit oben steht. Geschossen werden die Vögel, weil sie den Bestand der extrem seltenen heimischen Weißkopfruderente gefährden. Zum einen sind die ursprünglich aus Amerika stammenden Erpel durchsetzungsstärker und können ihre europäischen Verwandten leichter aus einem Revier verdrängen. Zum anderen können sie die Weibchen der einheimischen Art begatten. Dies ist die fast noch größere Gefahr, denn so droht die Weißkopfruderente durch Hybridisierung mit der nahe verwandten Art im genetischen Nichts zu verschwinden. Vor diesem Hintergrund wurde in Großbritannien deshalb fast der gesamte Bestand der Schwarzkopfruderenten – immerhin mehrere tausend Tiere – getötet.

Die Schwarzkopfruderente kam auf dem Umweg der Volieren als Ziervogel nach Europa. Wie viele andere exotische Arten hätte sie es ohne die Liebhaberei der Menschen nicht geschafft, den Atlantik zu überqueren. Ähnlich ist das bei vielen eingeschleppten Pflanzenarten, die auch nur wegen ihres guten Aussehens ihr angestammtes Gebiet verlassen konnten. Erst in die Gärten und von da in die freie Natur: Der Pontische Rhododendron zum Beispiel ist nur deshalb heute in vielen europäischen Ländern heimisch, weil er so schön blüht. Allerdings überwuchert er auch viele seltene heimische Pflanzen und wird dann zum Problem. Gleiches gilt für die Spätblühende Traubenkirsche, die einst als Ziergehölz nach Europa gebracht wurde.

»Wenn man das Charisma einer invasiven Art mit berücksichtigt, kann das eine nötige Bekämpfung erleichtern«, sagt Franz Essl. Ist es Naturschützern und Behörden im Vorfeld bewusst, dass eine invasive Art besonders beliebt ist, können sie in der Öffentlichkeit gezielt um Verständnis für die Maßnahmen werben. Vielleicht lässt sich dann zum Beispiel die Bekämpfung der charismatischen Neuankömmlinge mit dem Schutz eines charismatischen Einheimischen begründen.

Doch die Unausgewogenheit im Umgang mit den Schönlingen in Tier- und Pflanzenwelt reicht sogar noch tiefer – bis in die Forschung hinein: »Es ist deutlich leichter, Mittel für die Erforschung charismatischer Arten zu bekommen«, sagt Essl. Und nicht zuletzt macht das attraktive Äußere die Arten auch zu beliebteren Studienobjekten. So wie tagaktive Tiere deutlich besser erforscht sind als nachtaktive, allein schon weil man sie wesentlich einfacher beobachten kann.

Je stärker die Wissenschaft um den Einfluss solcher subjektiven Aspekte weiß und sie in die Forschung mit einbezieht, desto objektiver dürften die Ergebnisse am Ende ausfallen. Essl und seine Kollegen und Kolleginnen werden das Thema jedenfalls weiter verfolgen. Die EU hat 2016 eine Liste mit mehr als 60 invasiven gebietsfremden Arten erstellt. Zu diesen Arten wollen die Forschenden nun ein Charisma-Profiling betreiben. Das soll später den Umgang mit ihnen erleichtern.

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