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News: Israels Blumenkinder

Man nehme: eine Reihe vergnügungshungriger israelischer Studienanfänger und einen zwölfjährigen, frischgebackenen Neueinwanderer aus Rußland, ein benachteiligtes Kind, dessen Vater im Gefängnis sitzt, ein äthiopisches Einwanderermädchen, das in einem überbelegten, heruntergekommenen Containerhaus wohnt und das noch nie im Kino oder im Freibad war. Man ordne sie paarweise und gebe ihnen ein Jahr lang zwei gemeinsame Nachmittage in der Woche. Sie erhalten: echte Freundschaften und jede Menge kleiner und großer Glücksfälle.
So ließe sich das Rezept für Israels landesweites Tutorenprogramm PERACH (Hebräisch "Blume", das Wort ergibt sich aus den Anfangsbuchstaben des offiziellen Projektnamens) beschreiben, einem der größten Tutorenprogramme der Welt.

Bei der jährlichen Zeremonie zur Ehrung herausragender PERACH-Tutoren erhielten kürzlich zwölf Studenten die Gelegenheit, ihre Dankbarkeit für die Teilnahme an dem Projekt auszudrücken. Sollte es eigentlich nicht umgekehrt sein?

Die Studenten waren für ihren außergewöhnlichen Einfluß auf das Leben ihrer jungen Schützlinge ausgewählt worden und beschrieben ihre Erfahrungen. Gegründet wurde das Projekt vor 20 Jahren von Prof. Haim Harari, der damalige Dekan der Feinberg Graduate School des Weizmann Institut und heute Präsident des Instituts und Vorsitzender des Verwaltungsrates von PERACH. Studenten erhalten aus privaten und öffentlichen Fonds ein Stipendium über maximal 50 Prozent der Studiengebühr. Als Gegenleistung verschreiben sie sich der guten Sache von PERACH und bewahren Kinder in Problemsituationen vor echten sozialen Notlagen.

"Universitätsstudenten haben ein Einflußpotential auf diese Kinder. Nachdem wir das erkannt hatten, entwickelten wir ein intensives Tutorenprogramm mit zwei wöchentlichen Zusammenkünften", sagt Amos Carmeli, der Landesleiter des Programms. Doch wie die zwölf Studenten gerne bestätigen sind die zwei Nachmittage nur der Rahmen. Zwischen Schützling und Betreuer herrscht schon bald eine tiefe, echte Verbindung.

Nehmen wir zum Beispiel Gadiel Daltorf, Student mit Hauptfach Geographie, der einst selbst einen PERACH-Tutor hatte. Fast täglich betreute er Sergei, ein zwölfjähriges Einwandererkind aus Rußland, Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Daltorf wurde bald zu Sergeis großem Bruder. Und was tun große Brüder, wenn der Vater nicht da ist? Daltorf brachte Sergei das Radfahren bei, machte mit ihm Ausflüge und manchmal hingen sie auch nur einfach so zusammen rum. "Bei jedem Treffen", sagt er, "war das Hauptziel, Sergei zu einem Lächeln zu bewegen." Dieses Ziel hat er erreicht.

Eine andere der zwölf Preisträger, Beli Geva-Batiska, erhielt den Schützling Meir. Sein Dilemma: Er hatte das Unglück, seinem Vater ähnlich zu sehen. Meirs Mutter vernachlässigte ihren Sohn, weil sie die schmerzliche Erinnerung an ihren Ex-Ehemann schlicht nicht ertragen konnte.

Meir wurde ein häufiger Gast im Haus der Familie Geva-Batiska. Dort erlebte er erstmals den Umgang in einer stabilen, liebevollen, sicheren Umgebung. Der Halbwüchsige lernte, daß er gemocht wurde als die Person, die er ist, ohne Bedingungen und Vorbelastungen. Die junge Studentin gab ihm etwas von sich und erhielt es hundertfach zurück.

Genau darum geht es bei PERACH.

Ayelet Arkin, die ein äthiopisches Mädchen betreute, drückte es so aus: "Ich verliebte mich in sie in dem Augenblick, als sie das erste Mal meine Hand nahm. PERACH hat mir etwas besonders gegeben. Es bringt Licht in das Leben von Kindern, die sonst nicht wissen, zu wem sie aufschauen sollen."

Beweis für den erstaunlichen Erfolg des Projekts sind auch die andauernden, zahlreichen Anfragen von Eltern und Lehrern, die ihre Kinder gern im Projekt unterbringen möchten. Obwohl das Programm, das seinen Sitz im Kugler-PERACH-Verwaltungsbau auf dem Campus des Weizmann-Instituts hat, in ganz Israel 45 000 Kinder und Jugendliche betreut, können nicht alle Anträge erfüllt werden. In einer Umfrage letztes Jahr antworteten 95 Prozent der befragten Beratungslehrer an Schulen, daß "die meisten Kinder von der Betreuung profitiert haben."

PERACH ist jedoch nicht nur ein Programm zum Wohlfühlen. Die Ergebnisse sind meßbar. Meirs Lehrer, der ihn einst wegen seines aggressiven Verhaltens von Schulausflügen ausschloß, sagt heute: "Meir geht auf andere Kinder ein und spielt mit ihnen in der Pause." Meir leidet auch nicht mehr unter mangelnder Aufmerksamkeit im Unterricht. "Er ist motiviert, seine Noten sind besser geworden." Das heißt, er hat eine Eins in Mathematik und eine Zwei in Thora – zwei schwierige Fächer.

Am wichtigsten ist vielleicht die positive Wirkung auf das Selbstbewußtsein des Kindes und des Betreuers. Gadiel Daltorf sagt es so: "Als ich hörte, wie Sergei, der früher fast nie den Mund aufmachte, bei einem Fußballspiel im Viertel seine Mannschaftskameraden anschrie, sie sollten besser schießen, wußte ich, daß er auf dem richtigen Weg war."

Die Feier war durchdrungen von einer Atmosphäre der Erfüllung und Dankbarkeit – auf beiden Seiten. Die Tutoren von PERACH drücken ihre Gefühle am besten selbst aus: "Ich habe meine Gratifikation längst erhalten." "Ich weiß nicht, warum so viel Aufhebens von dem gemacht wird, was ich getan habe. Der Junge hat alles selbst getan. Er hat mir so viel gegeben."

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