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Klimawandel: Warum sterben gerade so viele Grauwale?

Mehr als 70 Grauwale sind in den vergangenen Wochen vor der Westküste der USA gestorben. Die National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) hat eine Untersuchung eingeleitet. Es spricht einiges dafür, dass Veränderungen im Zuge des Klimawandels die Ursache sind.
Grauwal

Eine lange graue Schnauze, weiß marmoriert und gebogen, hebt sich prustend aus der seichten Lagune: Eine Grauwalmutter (Eschrichtius robustus) streckt ihren Kopf aus dem grünlich blauen Wasser. Er ist mit Placken aus Seepocken und Walläusen bewachsen; wo dieser Bewuchs abgefallen ist, haben die Parasiten runde helle Vernarbungen auf der schiefergrauen Haut hinterlassen. Langsam manövriert die 15 Meter lange Riesin an der Seite des Bootes voller begeisterter Menschen, ihr Kalb hält sich eng an ihrer Seite. Urtümlich wirkend, gemächlich und oft gar nicht scheu, sind die Grauwalmütter mit ihrem Nachwuchs die Attraktion der warmen flachen Pazifikbuchten vor der mexikanischen Baja California. Dort kommen die kleinen Wale zur Welt und verbringen ihre ersten Lebensmonate, sicher vor Jägern wie Schwertwalen und großen Haien.

Das geruhsame Leben der Grauwale findet zwischen diesen Kinderstuben und den Nahrungsgründen im arktischen Ozean statt, zweimal im Jahr ziehen sie die 6000 Kilometer lange Route vor der Küste dahin. Die Mutter-Kind-Idylle in den mexikanischen Lagunen und der Grauwalzug vor der US-amerikanischen Pazifikküste locken jedes Jahr Tausende von Whale-Watching-Touristen an. In diesem Jahr ist die Idylle jedoch gestört: Tote Meeresriesen werden an den Küsten der US-Bundesstaaten Kalifornien, Oregon, Washington und nun auch in Alaska angespült.

Ausgestreckt wie schlaffe, graue Walzen liegen sie auf den Sandstränden. Das helle Muster der Seepockennarben wird ergänzt von weißlichen Schlieren aus Exkrementen der Möwen, die sich auf den Walkadavern zum Fressen niedergelassen haben. Manche Walkörper sind auch blutüberströmt – sie sind auf felsigem Grund gestrandet, scharfe Steine haben ihre Haut aufgerissen. Mindestens 70 Grauwale sind bis jetzt an der Ostküste gestorben. Die National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) hat eine offizielle Untersuchung eingeleitet wegen dieser ungewöhnlichen Todesfälle.

65 Tonnen Flohkrebse für ein Waljahr

Die Erklärung liegt eventuell mehr als 9600 Meilen weiter nördlich im eisigen Beringmeer: In der Bering- und Tschuktschensee, am Übergang zwischen Nordpazifik und Nordpolarmeer, fressen sich die Grauwale in jedem arktischen Sommer von Juni bis August eine dicke Speckschicht an. Auf dem Walspeiseplan stehen vor allem Flohkrebse, die an einigen flachen Stellen des schlammigen Meeresbodens in dichten und großen Konzentrationen vorkommen – sie sind besonders nahrhaft. Sonst weichen die Meeressäuger aber auch auf in der Wassersäule schwimmende Krillkrebse, Schwebegarnelen oder Heringslarven aus.

Zum Fressen graben sich die Wale in einer rollenden Bewegung über eine Schnauzenseite ins weiche Sediment und nehmen ein Maul voll Schlick und Flohkrebsen auf. Geschickt spülen sie den Schlick wieder heraus, die kleinen Krebse bleiben in den kurzen Barten des Oberkiefers hängen und werden dann geschluckt. Die meisten Grauwale rollen dabei übrigens über die rechte Seite, nur wenige bevorzugen die linke. Die »Rechts- oder Linksmäuligkeit« ist an der Abnutzung der Barten gut erkennbar. Sie sind die einzigen Bartenwale, die am Meeresboden fressen, dabei wühlen sie so viel Sediment auf, dass solche Mahlzeiten vom Boot oder Flugzeug aus gut zu beobachten sind. Charakteristische große Mulden am Meeresboden zeugen noch lange von der Walschlemmerei.

In der Arktis stillen die grauen Riesen den größten Teil ihres Futterjahresbedarfs von immerhin 65 Tonnen und legen sich eine dicke Fettschicht zu. Genug »Treibstoff« für die lange Wanderung nach Süden und wieder zurück sowie für den Aufenthalt im Sommerquartier. In den wärmeren Meeresgebieten fressen sie nur noch selten, das Nahrungsangebot ist dort zu gering.

Meereis und Eisalgen im Klimawandel

Für das Jahr 2018 hat die US-amerikanische Schnee- und Eisvorhersage (National Snow and Ice Data Center, NSIDC) im Beringmeer einen Temperaturrekord gemessen – so warm und eisfrei war es noch nie in der Beringsee. Und das bringt Probleme mit sich für die Futtersuche der Grauwale: Die besonderen Verhältnisse von Licht und Eis sind nämlich das Geheimnis des Nahrungsreichtums der Polarmeere. Über den dunklen langen Winter hinweg reichern sich die Nährstoffe im Meer an. Mehr Licht und höhere Frühlingstemperaturen geben den Startschuss für eine gewaltige Algenblüte. Die an der Unterseite und in den winzigen Kanalsystemen des Meereises wachsenden Eisalgen sind die Basis des polaren Büfetts, daran fressen sich Krillkrebse und andere Tiere des Zooplanktons satt. So groß ist die Masse der Minialgen, dass noch genug auf den Meeresboden sinkt und auch die Bodenbewohner im Überfluss schwelgen können. Haben die Algen die Nährstoffe aufgezehrt, endet der Nahrungsüberfluss.

In kalten Jahren bleibt das schwimmende Eis bis zum späten Frühling und hält die Schichtung des darunterliegenden Ozeans stabil: Schmelzwasser ist Süßwasser, auf Grund seiner geringeren Dichte schwimmt es direkt unter dem Eis über dem salzigeren Meerwasser. Durch diese stabile Schichtung zirkuliert das Wasser kaum, so bleibt das Phytoplankton in der lichtdurchfluteten oberen Wasserschicht und hat ideale Wachstumsbedingungen.

Toter Grauwal | An der Westküste Nordamerikas steigt die Zahl tot angeschwemmter Grauwale.

Schmilzt das Meereis zu früh und zu schnell, kann der Wind die ungeschützte Meeresoberfläche aufwühlen und die Schichtung der Wassersäule verwirbeln. Nährstoffe und Algen verteilen sich großräumiger und geraten auch in die dunkleren Bereiche – das Algenwachstum fällt so wesentlich schwächer aus. Der größte Teil der Minipflanzen wird von Schwebegarnelen und anderen Meeresvegetariern sofort weggegrast, nur wenige sinken nach unten für die Flohkrebse und andere Schlammbewohner mit und ohne Beine, Borsten und Schalen.

Hungerwelle durchzieht das Ökosystem

Hohe Temperaturen können die Algenblüte früher beginnen lassen, sie endet dementsprechend aber auch eher. Oft zu früh für die ozeanischen Algenfresser, eine Hungerwelle setzt sich darauf über alle Ebenen des Ökosystems fort, bis zu den Grauwalen. Eine andere Folge der hohen Temperaturen könnte sein, dass das Meereis erst wesentlich weiter im Norden beginnt. Dann müssten die Grauwale auf dem Weg zum besten Futterangebot 1000 bis 2000 Kilometer weiter schwimmen und länger von ihren Reserven zehren.

Auch wenn die Auswirkungen des warmen Sommers noch nicht detailliert erforscht sind, steht fest: Die Erwärmung des Ozeans hat in der Arktis viel dramatischere Auswirkungen als in anderen Ozeanen, weil die arktischen Ökosysteme maßgeblich vom Meereis abhängen. Ein stärkeres oder früheres Abschmelzen des Eispanzers verändert schnell die Ozeanografie und das gesamte Ökosystem.

»Der Klimawandel geschieht gerade und zwar sehr schnell. Am allerschnellsten in der Arktis«Amelia Brower

Darum halten Wal- und Arktisexperten einen Zusammenhang des sehr warmen arktischen Sommers mit dem Grauwalsterben für wahrscheinlich: »Der Klimawandel geschieht gerade und zwar sehr schnell. Am allerschnellsten in der Arktis. Wenn wir die Grauwale und ihr Verhalten betrachten und diese Daten langfristig sammeln und auswerten, bekommen wir einen Einblick in die Veränderungen dieses Ökosystems«, erklärt die erfahrene Walforscherin Amelia Brower vom Alaska Fisheries Science Center: »Die Grauwale sind wichtige Zeugen dieser Veränderungen.«

Man sieht den Walen den Hunger regelrecht an: Die Fettschicht der Wale – der Blubber – ist Isolierung und Nahrungsreserve gleichermaßen. Findet ein Wal nicht genug Futter, zehrt er dieses Fett auf. Bei sehr mageren Tieren treten schließlich die Rückenwirbel und Rippen deutlich sichtbar hervor, der Wal wirkt bucklig.

In diesem Jahr sind viele Grauwale bucklig und unterernährt. Bei säugenden Walmüttern ist der Effekt besonders ausgeprägt, schließlich müssen sie auch noch ihren Nachwuchs ernähren: 190 Liter Milch täglich mit einem Fettgehalt von mehr als 40 Prozent lassen das Baby in wenigen Monaten auf zehn Meter Länge heranwachsen. In diesem Jahr haben einige Grauwalmütter ihren Nachwuchs schon vor den Lagunen zur Welt gebracht – sie hatten offenbar keine Kraft oder keine Zeit mehr, um die Bucht zu erreichen.

»Die Wale wirken, als ob ihnen der Treibstoff ausgegangen ist«Padraig Duignan

Seit März ziehen die schiefergrauen Meeresriesen wieder nach Norden, dem arktischen Sommer entgegen. Viele von ihnen sind diesmal ungewöhnlich nahe der US-Küste unterwegs, ausgehungert wühlen sie im Flachwasser nach Nahrung. Aber die küstennahen Gewässer bis hinein in die Bucht vor San Francisco mit ihrem dichten Schiffsverkehr sind kein guter Platz für Wale – bereits mehrere Tiere sind durch Kollisionen mit Schiffen umgekommen.

Bis jetzt sind 70 von ihnen auf dem Weg nach Norden gestorben, oft abgemagert und mit leeren Mägen – »als ob ihnen der Treibstoff ausgegangen sei«, meinte Padraig Duignan, der leitende Tierarzt des Marine Mammal Center im kalifornischen Sausalito gegenüber der Presse.

In normalen Jahren stranden zwischen Kalifornien und Alaska etwa 45 Grauwale. Diese Saison scheint das zweitschlimmste Massensterben der gemächlichen Meeresgetüme zu werden – nur 1999/2000 war die Todesrate mit 131 Walleichen noch höher. Und die Wanderung nordwärts läuft noch, stetig werden weitere Grauwale angeschwemmt.

Gibt es zu viele Wale für zu wenig Futter?

Heute gibt es schätzungsweise 27 000 Grauwale im westlichen Pazifik, die Todesrate dieses Sommers ist keine Gefährdung für den Bestand. Bruce Mate, der Direktor des Marine Mammal Institute Oregon State University, befürchtet, dass der Bestand jetzt zu groß ist und das Zooplankton im Beringmeer und der Tschuktschensee nicht für alle Meeresriesen reichen könnte. Dann werden die Wale ihr Beutespektrum oder ihr bevorzugtes Revier ausdehnen müssen – oder teilweise verhungern.

Vieles deutet auch darauf hin, dass die polaren Meere weiterhin schnell wärmer werden und sich das gesamte arktische Ökosystem gerade nachhaltig verändert. Ob die Erwärmung der Arktis oder die Überbevölkerung der Grund für so viele verhungerte Grauwale ist, lässt sich zurzeit noch nicht sicher sagen – die Ursachenforschung fängt erst an. Vermutlich hat beides dazu beigetragen. Gibt es viele hungrige Grauwale, kann ein klimatisch bedingtes geringeres Flohkrebsangebot dazu führen, dass ein Teil der Meeressäuger nicht genug Nahrung findet oder gar stirbt, erklärt Amelia Brower. Bei Walzählungen aus der Luft hat sie beobachtet, dass sich seit einigen Jahren die Nahrungsgründe der Grauwale verschieben. Es bleibt zu hoffen, dass die großen grauen Meereswanderer sich schnell an die neuen Herausforderungen anpassen und rechtzeitig neue, reiche Nahrungsgründe und sichere Kinderstuben finden.

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