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Alternde Bevölkerung : Ist die Demenz auf dem Rückzug?

Das Risiko, im Alter an Demenz zu erkranken, sinkt in westlichen Ländern wieder. Die Ausbreitung des Leidens wird das allerdings nicht aufhalten können, sagen Experten. Doch der Trend gibt immerhin Anlass zur Hoffnung, dass man der Krankheit mit einem gesunden Lebensstil entgegenwirken kann.
Splitterndes Gehirn

Ein dramatischer demografischer Strukturwandel steht uns bevor. Die Mehrzahl der Babyboomer in Deutschland ist heute schon über 50, und die Lebenserwartung steigt. Die Bevölkerung altert, die Zahl der über 80-Jährigen nimmt rapide zu. Und damit steigt auch die Rate altersbedingter Erkrankungen wie Demenz. Während im Jahr 2012 in Deutschland etwa 1,4 Millionen Menschen von dem Leiden betroffen waren, wird sich die Zahl laut Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft bis 2050 auf etwa drei Millionen erhöhen – Schätzungen aus den USA rechnen sogar mit einer Verdreifachung der Demenzkranken in diesem Zeitrahmen.

Bei all den trüben Aussichten gibt es nun aber auch gute Nachrichten: Eine Reihe aktueller Studien zeigt einen Rückgang des Demenzrisikos in verschiedenen westlichen Ländern. Die Wahrscheinlichkeit, in einem bestimmten Alter zu erkranken, nimmt ab. Das ist, um das gleich vorwegzunehmen, keine Entwarnung. "Demenz wird ein Problem für die Gesundheit der Bevölkerung bleiben. Und zwar eines der größten", sagt Steffi Riedel-Heller, Direktorin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health an der Universität Leipzig. Gut ist die Nachricht aus einem anderen Grund. Wenn das Erkrankungsrisiko zurückgeht, liegt es vermutlich daran, dass sich an unserem Lebenswandel etwas zum Positiven hin verändert hat. Wir leben gesünder und beugen damit der Demenz vor. Nun gilt es, genauer zu untersuchen, was diesen positiven Effekt ausmacht und wie man ihn weiter ausbauen kann.

Wenn der Geist zerfällt | Menschen, die an einer Demenz erkranken, büßen nach und nach einen Großteil ihrer kognitiven Fähigkeiten ein. Das führt auch zu schweren Beeinträchtigungen im täglichen Leben.

Erste Hinweise auf rückläufige Demenzraten kamen aus den USA. Zwei große Studien, die einen repräsentativen Querschnitt durch die ältere US-amerikanische Bevölkerung untersuchten, zeigten einen Rückgang kognitiver Störungen bei älteren Menschen – die erste zwischen 1982 und 1999, die zweite zwischen 1993 und 2002.

Das Demenzrisiko nimmt ab in Europa

In Europa geht der Trend in dieselbe Richtung. Im Rahmen der Rotterdam Study untersuchten Wissenschaftler zweimal im Abstand von zehn Jahren altersspezifische Neuerkrankungen von Demenz in einem niederländischen Vorort. Zwischen 1990 und 1995 war diese Rate höher als zwischen 2000 und 2005. Darüber hinaus hatten die Probanden der zweiten Gruppe ein größeres Gehirnvolumen und weniger Anzeichen von Hirngefäßerkrankungen.

Eine Untersuchung an über 75-Jährigen aus dem Stadtbezirk von Stockholm zeigte den Rückgang des Demenzrisikos zwischen den späten 1980er und den frühen 2000er Jahren, allerdings eher indirekt. Zwar hatte sich die Krankheitshäufigkeit zwischen den beiden Zeitabschnitten nicht verändert, die Überlebensrate der Demenzkranken war aber gestiegen. Die Wissenschaftler folgerten, dass die Rate der Neuerkrankungen entsprechend zurückgegangen sein muss.

"Demenz wird ein Problem für die Gesundheit der Bevölkerung bleiben. Und zwar eines der größten"Steffi Riedel-Heller

Auch eine Studie aus England wartet mit ähnlichen Ergebnissen auf. Sie vergleicht die Demenzrate von über 65-jährigen aus verschiedenen Städten zu unterschiedlichen Zeiten. So gab es im Jahr 1991 nach Hochrechnungen dieser Studie im Vereinigten Königreich etwa 664 000 Demenzkranke. Diese Zahl hätte sich bis 2011 auf 884 000 steigern müssen, wenn man nur die Alterung der Bevölkerung berücksichtigt. Tatsächlich lag die Zahl der Demenzkranken im Jahr 2011 aber wesentlich niedriger, bei etwa 670 000. Das individuelle Risiko, an Demenz zu erkranken, ist demnach zurückgegangen.

In Deutschland ist eine derartige Untersuchung im Rahmen der AgeCoDe-Studie noch in Planung. "Es gibt aber gute Gründe anzunehmen, dass das, was zum Beispiel in Rotterdam gilt, auch hier bei uns zutrifft", sagt Wolfgang Maier, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn, Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen und Koordinator der AgeCoDe-Studie.

Eine gute Bildung verzögert den kognitiven Abbau

Warum die altersspezifischen Neuerkrankungen zurückgehen, wurden in keiner der Studien explizit untersucht. Populationsstudien können nur Zusammenhänge aufdecken, aber keine Aussage über Ursache und Wirkung machen. Es gibt allerdings durchaus wohlbegründete Vermutungen. So scheint zum Beispiel eine gute Bildung eine Art "kognitive Reserve" aufbauen, die in frühen Stadien der Demenzerkrankung vor dem geistigen Verfall schützt. Wie die Rotterdam Study zeigt, haben die später Geborenen durchschnittlich ein größeres Gehirnvolumen, was vermutlich auf eine bessere Bildung und eine anspruchsvollere berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist. "Bildung ruft eine bessere Vernetzung der Nervenzellen im Gehirn hervor, die dann, wenn es zum Verlust von Synapsen kommt, Umwege oder Ersatzstrategien in verstärktem Maß möglich machen", erklärt Maier. Es dauert dann länger, bis ein Stadium erreicht wird, in dem die Aktivitäten des täglichen Lebens betroffen sind.

Auch zwischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Demenz besteht ein enger Zusammenhang. Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems sind in den letzten 40 bis 50 Jahren erheblich zurückgegangen, was vermutlich auf eine bessere Kontrolle der Risikofaktoren zurückzuführen ist – die Menschen rauchen weniger, achten besser auf Cholesterinspiegel, Bluthochdruck und Diabetes, sie werden besser behandelt und treiben mehr Sport. "Wenn Sie vor 30 bis 40 Jahren im Park spazieren gegangen sind, waren Sie dort allein. Heute kommt Ihnen im gleichen Park jede Minute ein Jogger entgegen", sagt Maier. Und diese Effekte kommen nicht nur dem Herz, sondern auch dem Gehirn zugute, denn Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen auch das Demenzrisiko. Lang anhaltender Bluthochdruck zum Beispiel kann auf Dauer die Arterien des Gehirns verändern, den Blutfluss beeinträchtigen und so zu einem Abbau von Gehirngewebe führen. Nach der Honolulu Asia Aging Study sind rund 17 Prozent der Demenzerkrankungen auf einen unbehandelten zu hohen Blutdruck in früheren Lebensjahren zurückzuführen.

Ob die zukünftigen 80-jährigen aber so gesund leben wie die jetzigen, steht noch in den Sternen. "Es gibt auch neue Gesundheitsrisiken, wie die Adipositas-Epidemie, die jetzt erst richtig in Gang kommt", sagt Riedel-Heller. Adipositas – krankhaftes Übergewicht – wurde 1997 von der Weltgesundheitsorganisation in die Liste globaler Epidemien aufgenommen. "Man weiß, dass Adipositas in der Lebensmitte mit späterer Demenz verbunden ist", sagt Riedel-Heller. Die sinkende altersspezifische Neuerkrankungsrate ist ihrer Meinung nach daher "nichts, worauf man sich ausruhen kann".

Die Zahl der Erkrankten wird weiter steigen

Wie sich die Demenzrate weiterentwickeln wird, ist schwer vorherzusagen. "Dass sich die Zahl der Demenzkranken bis 2050 um den Faktor drei erhöht, wie manche Prognosen sagen, könnte eine deutliche Überschätzung sein. Diese Schätzungen lassen völlig außer Acht, dass zunehmend die Risikofaktoren für die Demenz besser kontrolliert werden können und dass in der Zukunft wirksame Therapiestrategien entwickelt werden", sagt Maier. Aber dennoch "ist es unwahrscheinlich, dass die absolute Häufigkeit der Erkrankung fällt, denn auf Grund der steigenden Lebenserwartung wird es immer mehr ältere Menschen geben". Die Zahl der über 80-jährigen wird steigen und damit die Zahl derjenigen, die das höchste Risiko haben, an Demenz zu erkranken. Auch leben Menschen mit einer Demenz inzwischen länger – so zeigte die Schwedische Studie –, und auch das schlägt sich in der Zahl der Erkrankten nieder. "Veränderungen in der Neuerkrankungsrate werden durch die demografischen Faktoren bei Weitem wieder aufgefangen", sagt Riedel-Heller.

"Eine medizinische Präventionsmaßnahme, die eine Neuerkrankungsrate um 20 bis 30 Prozent reduziert, wäre ein Knüller"Wolfgang Maier

Noch gibt es kein Mittel gegen Demenz. Aber die Studien geben Hinweise, wie der Anstieg der Demenzrate zumindest einzudämmen wäre. "Die Studien sind extrem interessant, weil sie zeigen, dass Präventionsmaßnahmen einen deutlichen Effekt haben können", so Riedel-Heller. Nach der englischen Studie ist die Demenzrate in 20 Jahren um erstaunliche 24 Prozent niedriger ausgefallen, als man hätte annehmen müssen, wenn man nur die Alterung der Bevölkerung berücksichtigt. "Eine spezifische medizinische Präventionsmaßnahme, die eine Neuerkrankungsrate um 20 bis 30 Prozent reduziert, wäre ein Knüller", sagt Maier. "Aber Veränderungen im globalen Lebensstil und den Bildungsvoraussetzungen können offenbar einen solchen Effekt hervorrufen."

"Demenz ist eine multifaktorielle Erkrankung. Es gibt viele Gründe, an Demenz zu erkranken, und viele verschiedene Risikofaktoren", erklärt Riedel-Heller. Wie viel würde es bringen, wenn verschiedene solcher Faktoren gezielt und gleichzeitig angegangen werden? Wenn zum Beispiel Bluthochdruck noch besser kontrolliert würde, Menschen dazu angeregt würden, Sport zu treiben, sich gesund zu ernähren und an kognitives Training herangeführt würden? Solche Fragen werden nun in drei großen europäischen Interventionsstudien untersucht, die unter dem Dach der European Dementia Prevention Initiative zusammengefasst sind. Die Studien werden Empfehlungen zur Senkung des Demenzrisikos durch einen gesunden Lebensstil liefern. Auch wenn solche Interventionen eine Demenzerkrankung nicht heilen können, so können sie doch die Erkrankung verzögern und für den Einzelnen einen Zugewinn von gesunden Lebensjahren mit sich bringen. Mit 106 Millionen Demenzkranken weltweit rechnet Ron Brookmeyer von der Johns Hopkins University in Baltimore im Jahr 2050. Aber wenn Interventionen das Eintreten der Krankheit um auch nur ein Jahr hinauszögern könnten, wären es nach seinen Berechnungen 9,2 Millionen Erkrankte weniger.

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