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Gödelsche Unvollständigkeit: Ist die Frage nach einer Weltformel unentscheidbar?

Manche mathematischen Fragen sind nachweislich unbeweisbar. Auch die Suche nach einer endgültigen Quantengravitationstheorie könnte von dieser Unentscheidbarkeit betroffen sein.
Hintergrund von Ziffern und Raumelementen
Werden wir eine endgültige Theorie erkennen, wenn wir sie sehen?

»Das Ziel der theoretischen Physik könnte in nicht allzu ferner Zukunft erreicht werden, sagen wir, bis zum Ende des Jahrhunderts. Damit meine ich, dass wir eine vollständige, konsistente und einheitliche Theorie der physikalischen Wechselwirkungen haben, die alle möglichen Beobachtungen beschreiben würde.« Das sagte Stephen Hawking bei seiner Antrittsvorlesung an der University of Cambridge im Jahr 1979. Inzwischen wissen wir: Eine solche »Weltformel« war weder im Jahr 2000 in Reichweite, noch ist sie es heute.

Der »Traum einer endgültigen Theorie«, wie es der Physiker Steven Weinberg ausdrückte, wurde noch nicht verwirklicht. Erstaunlicherweise könnte ein mathematisches Ergebnis sogar verhindern, dass er je erfüllt wird. Denn diese Suche nach einer Weltformel könnte von Kurt Gödels so genannten Unvollständigkeitssätzen betroffen sein. In diesem Fall werden wir niemals wissen, ob eine endgültige vereinheitlichte Theorie gefunden wurde, die alle Grundkräfte umfasst.

Themenwoche: Die Jagd nach der Weltformel

Die Gravitation sticht als einzige der vier Grundkräfte heraus: Anders als der Elektromagnetismus und die Kernkräfte scheint sie nicht den seltsamen Regeln der Quantenphysik zu folgen. Viele Physiker sind davon überzeugt, dass eine Theorie der Quantengravitation für ein vollumfängliches Verständnis unserer Welt nötig ist. In dieser Themenwoche beleuchten wir einige Anwärter einer solchen Theorie – und erklären, wie man sie testen könnte.

Wissenschaftsgeschichte: Die 100 Jahre lange Suche nach einer Weltformel
Schleifenquantengravitation: Das Ende der Zeit
Teleparallele Gravitation: Eine neue Raumzeit für eine Weltformel
Nichtkommutative Geometrie: Eine quantenmechanische Struktur des Kosmos
Entropie: Schwarze Löcher als Schlüssel zur Weltformel
Experimente: Folgen Raum und Zeit den Gesetzen der Quantenphysik?
Gödelsche Unvollständigkeit: Ist die Frage nach einer Weltformel unentscheidbar?

Alle Inhalte zur Themenwoche »Die Jagd nach der Weltformel« finden Sie auf unserer Themenseite »Quantengravitation«.

Blickt man in die Geschichte der Physik zurück, erscheint der Versuch, die vier Grundkräfte miteinander zu vereinigen, überaus natürlich. Elektrizität, Magnetismus und die geometrische Optik entpuppten sich im 19. Jahrhundert als Spezialfälle der von James Clerk Maxwell entwickelten Elektrodynamik. Etwa 100 Jahre später ließen sich Elektromagnetismus und die schwache Kernkraft, die für die Radioaktivität verantwortlich ist, zur Theorie der »elektroschwachen Wechselwirkung« verbinden. Gemeinsam mit der starken Kernkraft, welche die Atomkerne zusammenhält, bilden die drei Kräfte seit den 1970er Jahren das Standardmodell der Teilchenphysik. Zahlreiche Experimente haben es mit hoher Genauigkeit bestätigt.

Deshalb erschien Hawkings Optimismus in den 1970er Jahren nicht unrealistisch. Damals glaubten viele Fachleute, eine Vereinheitlichung aller vier Grundkräfte stünde kurz bevor. So wurden Modelle der Supergravitation entwickelt, die auch die durch Einsteins allgemeine Relativitätstheorie beschriebene Gravitation mit den anderen drei Grundkräften verbinden sollte.

Doch der Ansatz scheiterte – und bis heute entzieht sich die Schwerkraft einer solchen Vereinigung. Das liegt unter anderem daran, dass die allgemeine Relativitätstheorie fundamental anders aufgebaut ist als die Modelle, welche die drei übrigen Grundkräfte beschreiben. In seiner 1915 vollendeten Theorie interpretiert Albert Einstein die Gravitation als Ausdruck der Geometrie von Raum und Zeit. Demnach verformt Materie das Gefüge der Raumzeit, welches wiederum die Bewegung der Materie vorgibt. Die allgemeine Relativitätstheorie arbeitet dabei mit kontinuierlichen Größen und Symmetrien.

Mathematik als Grundlage

Es ist erstaunlich, dass sich die Welt um uns herum so gut durch Mathematik beschreiben lässt. Schon Galileo Galilei stellte sich vor, das Universum sei in einer mathematischen Sprache geschrieben. Die moderne Physik geht auf Isaac Newton zurück, der entdeckte, dass sich die Naturgesetze durch Differenzialgleichungen in Raum und Zeit einteilen lassen. Sie lassen daher Platz für Anfangsbedingungen, die durch diese Gesetze nicht festgelegt werden und die somit auswechselbare Merkmale unseres Universums darstellen. Doch auch der Nobelpreisträger Eugene Wigner wunderte sich in einem 1960 erschienenen Artikel, warum es anscheinend eine überschaubare Anzahl von einfachen Formeln gibt, wie die einsteinschen Gleichungen, die maxwellschen Gleichungen oder die Schrödingergleichung, welche die Grundlage dieser Beschreibung bilden.

Woher rührt diese Wirksamkeit der Mathematik? Eine vollständige Antwort ist schwer zu finden. Eine Teilantwort könnte in der Rolle liegen, die Symmetrien auf einer fundamentalen Ebene spielen. So ist zum Beispiel die mathematische Struktur des Standardmodells durch so genannte Eichsymmetrien bestimmt. Dabei handelt es sich um innere Symmetrien, die auf alle Teilchenarten wirken und diese dadurch verknüpfen.

Die Schwerkraft ist hingegen nicht im Standardmodell enthalten. Sie wird durch die einsteinschen Feldgleichungen beschrieben, die eine andere Art von Symmetrie aufweisen – die unter beliebigen Koordinatentransformationen.

Grundsätzlich anders ist es beim Elektromagnetismus und den zwei Kernkräften. Diese werden durch Quantentheorien beschrieben. Der Name rührt daher, dass viele Größen, zum Beispiel die Energie von Atomen oder das Licht, nur häppchenweise (»quantisiert«) auftreten. Von zentraler Bedeutung in der Quantentheorie ist die Möglichkeit der Verschränkung. Auch weit voneinander entfernte Systeme können in diesen Fällen nur durch einen einzelnen Zustand (Wellenfunktion) charakterisiert werden.

Die Quantentheorien, welche die elektroschwache und die starke Wechselwirkung beschreiben, beruhen – anders als Einsteins Theorie – auf einer festen, nicht dynamischen Raumzeit. Diese beiden unterschiedlichen Sichtweisen der Raumzeit miteinander zu verbinden, ist eine der größten Herausforderungen der theoretischen Physik.

Eine endgültige Lösung

Wenn man über eine Theorie spekuliert, die alle vier Grundkräfte miteinander vereinigt, geht man meist von einer endgültigen Lösung aus. Das bedeutet, dass es keine umfassendere physikalische Theorie mehr gibt. Alle in der Natur beobachtbaren Phänomene sollten sich daraus ableiten lassen. Heute wird, insbesondere in der Teilchenphysik, eine solche ersehnte Theorie oft als »Theorie von allem« oder knapp als Weltformel bezeichnet. Sie soll demnach nicht nur die Physik, sondern auch – zumindest im Prinzip – alle möglichen Effekte in der Chemie, Biologie und vielleicht sogar darüber hinaus erklären können, etwa das Bewusstsein.

Schönheit einer Theorie

Es gibt nicht wenige theoretische Physiker, die die grundlegenden mathematischen Gleichungen als »schön« betrachten. Dieser Sinn für Schönheit ist mit den Symmetrien dieser Gleichungen verbunden. Das gilt nur für die Gleichungen selbst; ihre Lösungen sowie die daraus folgenden Näherungen können vertrackt und hässlich sein. So sagte Steven Weinberg 1993: »Erst wenn wir wirklich grundlegende Probleme untersuchen, erwarten wir, dass wir schöne Lösungen finden.«

Der Physiker Paul Dirac ging sogar noch weiter und behauptete, die Schönheit der Gleichungen sei wichtiger als die Vereinbarkeit mit dem Experiment. Die meisten Physiker würden diese Ansicht nicht unterstützen. Dirac selbst stellte 1931 eine symmetrischere Version der maxwellschen Gleichungen vor, die zusätzlich zu den üblichen elektrischen Ladungen auch magnetische Monopole enthält. Solche Monopole wurden aber nie beobachtet, und es ist denkbar, dass sie gar nicht existieren. Dennoch bleibt die Frage, welche Struktur die Gleichungen einer einheitlichen und endgültigen Theorie haben. Die String- oder M-Theorie weist in ihrem gegenwärtigen Zustand weder »schöne« Gleichungen auf noch ruht sie auf einem ästhetisch ansprechenden Grundprinzip.

Aber können wir etwas über die mögliche mathematische Struktur einer endgültigen Theorie und ihre Ästhetik sagen? Der Mathematiker Kurt Gödel drückte diese Idee wie folgt aus: »Das Schöne an der Darstellung einer Sache ist, zunächst allgemeine Begriffe (abstrakte) und eventuell ihre Theorie zu geben und dann die Anwendung auf die Empirie. Dasselbe ist der Grund dafür, dass das Schöne an der Physik die Erklärung der alltäglichen Erscheinungen ist. Daher auch der Name ›Erkennen‹.« Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch der Mathematiker David Hilbert bei seiner Suche nach Vereinheitlichung in der Mathematik und der Physik von einem Schönheitsbegriff geleitet wurde.

Das wird allerdings nur rein theoretisch der Fall sein. Denn schon jetzt lassen sich viele Effekte selbst innerhalb der Physik nicht aus der zuständigen Theorie ableiten. So ist die Kernphysik ein Grenzfall der Quantenchromodynamik (QCD), die Theorie der starken Kernkraft. Deren Formalismus ist aber derart kompliziert, dass sie sich kaum praktisch anwenden lässt. Daher greifen Fachleute meist auf einfachere Modelle zurück, um kernphysikalische Vorgänge zu untersuchen. Diese Einschränkung gilt noch stärker für die Biologie mit ihren weitaus komplexeren Systemen.

Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob eine Theorie von allem überhaupt existiert. Und: Werden wir entscheiden können, ob wir so eine Theorie gefunden haben?

Eine Grundlage für die Mathematik

Physikalische Theorien werden in der Sprache der Mathematik formuliert, weshalb die Frage der Vereinheitlichung der Physik auch ein mathematisches Problem ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Mathematiker David Hilbert versucht, eine vereinheitlichte mathematische Sprache zu formulieren. Er suchte nach einer Grundlage für das gesamte Fach.

Zwei wichtige Eigenschaften schränken die Wahl eines solchen mathematischen Fundaments ein: Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit. Ersteres bedeutet, dass jede Aussage, die sich formulieren lässt, beweisbar oder widerlegbar ist. Und die Widerspruchsfreiheit garantiert, dass verschiedene Aussagen logisch miteinander zu vereinbaren sind. Hilbert war optimistisch, dass sich eine Grundlage finden lässt, die beide Anforderungen erfüllt.

Damit war er ein Gegenspieler des Arztes Emil du Bois-Reymond, der »Ignoramus et ignorabimus« (wir wissen nicht und werden nicht wissen) in seiner Grundsatzrede »Über die Grenzen des Naturerkennens« von 1872 formuliert hatte. Du Bois-Reymond war davon überzeugt, dass unserem Wissen über die Natur Grenzen gesetzt sind. Hilbert hingegen behauptete 1900 auf einer internationalen mathematischen Tagung in Paris, dass es seiner Meinung nach in der Mathematik keinen Ignorabimus gebe. 30 Jahre später betonte er seinen Standpunkt in einer Rundfunkansprache mit folgenden Worten: »Wir dürfen nicht denen glauben, die heute mit philosophischer Miene und überlegenem Tone den Kulturuntergang prophezeien und sich in dem Ignorabimus gefallen. Für uns gibt es kein Ignorabimus, und meiner Meinung nach auch für die Naturwissenschaft überhaupt nicht. Statt des törichten Ignorabimus heiße im Gegenteil unsere Lösung: Wir müssen wissen, wir werden wissen.«

Hilberts vereinheitlichte Physik

Hilberts Traum der Vereinheitlichung beschränkte sich nicht auf die Mathematik. Er beabsichtigte, ihn auch für die Physik zu erfüllen. Daher suchte er nach einer einheitlichen mathematischen Sprache für alle physikalischen Grundkräfte. Damals waren nur die Gravitation und die Elektrodynamik bekannt. Letztere wurde durch die maxwellschen Gleichungen beschrieben, während es bei Ersteren gerade einen Durchbruch gegeben hatte.

Die große Errungenschaft war Einsteins im November 1915 endgültig ausgestaltete allgemeine Relativitätstheorie. Ihre zentralen Gleichungen, die einsteinschen Feldgleichungen, beschreiben alle bisher bekannten Erscheinungen der Gravitation. Hilbert leitete die Feldgleichungen durch ein geometrisches Prinzip etwa zur gleichen Zeit ab wie Einstein. Aber im Gegensatz zu Einstein wollte er alle Feldgleichungen der Physik durch ein solches geometrisches Prinzip herleiten. Deshalb trägt seine Veröffentlichung, nicht sehr bescheiden, den Titel »Die Grundlagen der Physik«.

Das angestrebte Ziel, die Schwerkraft mit der Elektrodynamik durch eine geometrische Theorie im Sinn der allgemeinen Relativitätstheorie zu vereinigen, erreichte Hilbert nicht. Auch Einstein, der später eine einheitliche Feldtheorie konstruieren wollte, scheiterte.

Rückblickend gab es dafür vor allem zwei Gründe. Erstens berücksichtigten weder Hilbert noch Einstein die Kernkräfte, die Anfang der 1930er Jahre entdeckt wurden. Und zweitens – was vielleicht noch wichtiger ist – ließen sie die Quantentheorie außen vor, eine Theorie, die zwar zur Zeit von Hilberts Artikel noch nicht vollendet war, aber Einstein in den 1940er und 1950er Jahren kannte. Damit stellt sich die Frage nach der Gestalt der Raumzeit. Einstein ging von einem Kontinuum aus. In einer Theorie der Quantengravitation könnte das aber ganz anders aussehen.

Doch bereits ein Jahr später musste Hilbert feststellen, dass er falschlag. 1931 stellte der Mathematiker Kurt Gödel zwei Unentscheidbarkeitssätze vor. Der erste Satz besagt, dass es in der Mathematik immer Aussagen geben wird, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen. Mit seinem zweiten Satz zeigte er, dass es unmöglich ist, innerhalb eines mathematischen Systems zu beweisen, dass es frei von Widersprüchen ist. Damit war Hilberts ehrgeiziges Programm gescheitert.

Schnell fanden sich erste Beispiele für unentscheidbare Aussagen. Eine ist das Halteproblem. Dieses beschäftigt sich mit der Frage, ob ein gegebenes Computerprogramm nach einer bestimmten Anzahl von Schritten endet. 1936 bewies Alan Turing, dass diese Frage unentscheidbar ist. Es gibt keinen Algorithmus, der diese Aufgabe für jede Art von Computerprogramm beantworten kann. Ein anderes berühmtes Beispiel betrifft Unendlichkeiten. So hat bereits Georg Cantor im 19. Jahrhundert bewiesen, dass es unterschiedlich große Unendlichkeiten gibt; die Menge der reellen Zahlen ist beispielsweise größer als die der natürlichen. Aber es lässt sich nicht entscheiden, ob die reellen Zahlen die nächstgrößere Menge nach den natürlichen Zahlen sind (was als Kontinuumshypothese bekannt ist) oder ob es Mengen gibt, die dazwischen liegen.

Kontinuumshypothese | Gibt es eine Menge, die größer als die natürlichen Zahlen, aber kleiner als die reellen Zahlen ist? Diese Frage ist nachweislich unentscheidbar: Unser mathematisches Fundament reicht nicht aus, um sie zu beantworten.

Es gibt inzwischen viele weitere Beispiele für unentscheidbare Probleme. Aber wie sieht es mit der Weltformel aus? Lässt sich entscheiden, wann eine endgültige physikalische Theorie vorliegt?

Bei allen Überlegungen zu Unentscheidbarkeiten spielt der Begriff der Unendlichkeit eine wichtige Rolle. Und da die Physik auf reellen (beziehungsweise komplexen) Zahlen beruht, enthält auch sie Unendlichkeiten. Hierbei muss man zwischen zwei verschiedenen Fällen unterscheiden. Eine Theorie kann beispielsweise kontinuierlich sein wie in der klassischen Physik; in diesem Fall steckt die Unendlichkeit in jedem Winkel: Man kann beispielsweise unendlich nahe an einen Ort heranzoomen. Eine Theorie könnte aber auch diskret sein. In diesem Fall ist das Zoomen beschränkt, es gibt eine natürliche Auflösungsgrenze. Trotzdem kann sie unendliche Größen wie unbegrenzt viele Gitterpunkte enthalten.

Allgemein geht man davon aus, dass eine vereinheitlichte Theorie eine Quantentheorie ist. Deshalb ist es wichtig, die Rolle der Quantenmechanik im Zusammenhang mit Unendlichkeiten und den Unentscheidbarkeitssätzen zu beleuchten.

Quantentheorien und Unentscheidbarkeiten

Die Quantenmechanik, welche die klassische Theorie der Mechanik ersetzt, wurde zwischen 1925 und 1927 vollendet. Schnell war klar, dass man relativistische Aspekte miteinbeziehen muss, um auch die elektromagnetische Kraft durch eine Quantentheorie auszudrücken. So entstand die Quantenfeldtheorie. Diese beschreibt eine Welt mit unterschiedlichen Quantenfeldern auf einer kontinuierlichen, festen Raumzeit; Elementarteilchen sind in diesem Bild Anregungen dieser Felder. Aus mathematischer Sicht sind diese Theorien extrem kompliziert und forderten die Fachleute stark heraus: Überall begegnet man Unendlichkeiten, die clevere Tricks wie »Regularisierungen« und »Renormierungen« erfordern.

Bereits 1964 erkannte der Physiker Arthur Komar einen Zusammenhang zwischen Quantenfeldern und der gödelschen Unentscheidbarkeit. Demnach ist die Frage unentscheidbar, ob sich zwei Zustände in der Quantenfeldtheorie auf makroskopischer Ebene unterscheiden. Komars Argumente funktionieren für Systeme mit unendlich vielen Freiheitsgraden, setzen also ein Raumzeitkontinuum voraus.

Die Bestimmung einer Energielücke ist für manche physikalischen Systeme unentscheidbar

Auch die Quantenfeldtheorie der starken Kernkraft, die Quantenchromodynamik, könnte von den Unentscheidbarkeitssätzen betroffen sein. Experimente zeigen, dass Quarks und Gluonen in den Nukleonen (Protonen und Neutronen) eingesperrt sind. Dieses Eingesperrtsein ließ sich bisher allerdings nicht aus der Theorie heraus beweisen – und es wird vielleicht niemals möglich sein. Denn tatsächlich deutet immer mehr darauf hin, dass auch dieses Problem unentscheidbar ist. Das Eingesperrtsein lässt sich in mathematischer Sprache auf die Frage reduzieren, ob es eine Energielücke zwischen der Grundzustandsenergie eines gegebenen Systems und dem ersten angeregten Zustand gibt oder nicht. Der Quanteninformationstheoretiker Toby Cubitt und seine Kollegen konnten ein solches Problem (wenn auch nicht exakt das der QCD) 2015 mit Turings Halteproblem in Verbindung bringen. Damit ist die Bestimmung einer Energielücke für manche physikalischen Systeme unentscheidbar.

Solche Untersuchungen sind auch für Zugänge der Quantengravitation bedeutsam. So ergibt die zentrale Gleichung in der Quantengeometrodynamik (ein Kandidat für eine Quantengravitationstheorie) nur dann einen unmittelbaren Sinn, wenn es eine Lücke zwischen dem Energiewert null und anderen Energiewerten gibt. Cubitts Ergebnisse deuten darauf hin, dass auch diese Frage unentscheidbar ist.

In der allgemeinen Relativitätstheorie ist die Raumzeit kontinuierlich und umfasst daher die Unendlichkeit der reellen Zahlen. Auch manche Zugänge zur Quantengravitation setzen zunächst kontinuierliche Größen voraus, etwa die Quantengeometrodynamik oder die Stringtheorie. Da die reellen Zahlen von der Unentscheidbarkeit der Kontinuumshypothese betroffen sind, könnten sich dies in der mathematischen Formulierung der Kandidatentheorien fortsetzen. Solange wir den Begriff des Kontinuums auf fundamentaler Ebene verwenden, gelten Gödels Unentscheidbarkeitssätze, und wir werden wohl niemals die genaue Mikrostruktur der Raumzeit kennen.

Unentscheidbarkeit hängt von der Theorie der Quantengravitation ab

Ob unsere Welt aus einer kontinuierlichen oder einer diskreten Raumzeit aufgebaut ist, lässt sich nur empirisch entscheiden. Das erinnert an die antike Debatte zwischen den Atomisten und der Stoa. Wolfgang Pauli schrieb 1957 in einem Brief an seinen Kollegen Markus Fierz: »Ich habe keinen Zweifel, dass die klassische Feldphysik ziemlich direkt von der Stoa ›abstammt‹ in einer kontinuierlichen, über die Ideen der Renaissance und des 17. Jahrhunderts führenden Entwicklung. Insofern die Synthese von Quantentheorie und allgemeiner Relativitätstheorie (und Feldquantisierung überhaupt) ein offenes Problem ist, setzt sich der alte (antike) Konflikt zwischen den Atomisten und den Stoikern heute fort.«

Dass es in unserer realen Welt keine Unendlichkeiten geben sollte, hat schon Hilbert vermutet. Auch der Physiker George Ellis, Krzysztof Meissner und Hermann Nicolai machten sich 2018 diese Sichtweise zu eigen und argumentierten, dass Unendlichkeiten in der Physik immer nur extrem große Zahlen bedeuten und dass tatsächlich nichts wirklich grenzenlos ist. In diesem Fall verschwinden alle Antinomien und Paradoxien, die mit Unendlichkeiten verbunden sind – und wohl auch die Unvollständigkeitssätze. Mathematische Verfahren wie die Regularisierung und Renormierung von Quantenfeldern wären demnach in einer endgültigen Theorie überflüssig. Theorien wie Carl Friedrich von Weizsäckers Urtheorie, John Wheelers It from Bit, die Schleifenquantengravitation oder die nichtkommutative Geometrie setzen eine diskrete Raumzeit voraus.

Große endliche Welt

Selbst für eine endliche Welt kann die Zahl der Freiheitsgrade sehr groß sein. Seth Lloyd hat die Menge an Informationen abgeschätzt, die im beobachtbaren Teil des Universums registriert werden kann und kam dabei auf die riesige Zahl von 10120 Bits. Diese Zahl gibt eine Obergrenze für mögliche Rechenschritte an, von der wir bei jeder praktischen Anwendung weit entfernt bleiben. Zahlen in dieser Größenordnung sind in der Kosmologie weit verbreitet und ergeben sich aus der Annahme einer kleinsten räumlichen Skala von der Größenordnung der Plancklänge. Die Plancklänge folgt aus der Kombination von Gravitationskonstante, Lichtgeschwindigkeit und Wirkungsquantum und ist von der Größenordnung 10−35 Meter. Die Kleinheit dieser Zahl ermöglicht es selbst bei einer fundamental diskreten Struktur der Raumzeit, physikalische Theorien mit einem Raumzeitkontinuum auf zugänglichen Skalen konsistent zu formulieren.

Allerdings gibt es auch Kandidaten für eine Weltformel, die ein kontinuierliches Bild der Raumzeit nutzen. Bislang haben diese Ideen nicht zu einer Theorie geführt, die sowohl vollständig als auch empirisch überprüfbar ist. Aber es ist vorstellbar, dass eine solche endgültige Theorie kontinuierliche Strukturen verwenden wird.

Es scheint also, dass wir zumindest im Prinzip entscheiden können, ob eine bestimmte Theorie final ist oder nicht, wenn die Welt auf kleinen und großen Skalen endlich ist. Bernhard Riemann hat bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Vermutungen in dieser Richtung angestellt – obwohl er von den späteren Entwicklungen der Physik und Mathematik nichts ahnen konnte. In seiner Habilitationsschrift schrieb er: »Die Frage über die Gültigkeit der Voraussetzungen der Geometrie im unendlich Kleinen hängt mit der Frage nach dem inneren Grunde der Massverhältnisse des Raumes zusammen. Es muss also entweder das dem Raume zu Grunde liegende Wirkliche eine discrete Mannigfaltigkeit bilden, oder der Grund der Massverhältnisse ausserhalb, in darauf wirkenden bindenden Kräften, gesucht werden.«

Falls die Struktur von Raum und Zeit nicht grundlegend diskret und die Gesamtzahl der Freiheitsgrade in der Welt nicht begrenzt ist, wird die Frage, ob eine Theorie die endgültige ist oder nicht, wohl unentscheidbar bleiben. Dann wird für immer ein Ignorabimus bestehen.

Bei diesem Aufsatz handelt es sich um eine überarbeitete Version eines englischsprachigen Essays, der 2023 einen Preis des Kurt Gödel Freundeskreises Berlin mit Unterstützung der Bergischen Universität Wuppertal gewann. Dieser frei zugängliche Essay wurde leicht überarbeitet in Kiefer (2024) veröffentlicht.

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  • Quellen

Cubitt, T. S. et al.: Undecidability of the spectral gap. Nature 528, 2015

Ellis, G. F. R. at al.: The physics of infinity. Nature Physics 14, 2018

Kiefer, C. : Gödel’s undecidability theorems and the search for a theory of everything. International Journal of Theoretical Physics 63, 2024

Tegmark, M.: Our Mathematical Universe, New York. Deutsche Übersetzung von Hubert Mania: Unser mathematisches Universum, Berlin, 2015

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