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100 Jahre Homo heidelbergensis: Jäger der Vorzeit

Der 21. Oktober 1907 beginnt für Daniel Hartmann wie ein normaler Arbeitstag. Hartmann nimmt seinen Spaten, steigt hinab in die Sandgrube Grafenrain nahe der Gemeinde Mauer (Baden-Württemberg) und schaufelt Kies. Doch etwas ist diesmal anders als sonst. Als die Schippe wieder einmal in den Boden rammt und eine Ladung Sand heraus reißt, liegt ein menschlicher Unterkiefer darin. Hartmann ahnt wohl, dass er etwas Wichtiges entdeckt hat, denn als auf dem Heimweg in ein Gasthaus einkehrt, ruft er „Heit haw ich de Adam gefunne“.

Am nächsten Tag eilt der Heidelberger Gelehrte Otto Schoetensack herbei. Für ihn kommt der Fund nicht unerwartet. 1887 haben Arbeiter hier den Schädel eines urzeitlichen Waldelefanten ausgegraben – und vieles spricht dafür, dass dort, wo solche Rüsseltiere vorkamen, auch Frühmenschen lebten. Schoetensack ist deshalb immer wieder zu der Kiesgrube gefahren und hat die Arbeiter darum gebeten, beim Graben auf menschliche Knochen zu achten.

In folgenden Monaten untersucht der Gelehrte den Kiefer ausgiebig, wobei er auch andere Experten hinzuzieht. Es zeigt sich, dass Daniel Hartmann, der Sandgräber, das älteste Leichenteil Europas ausgebuddelt hat. Der Unterkiefer stammt von einer unbekannten Menschenart, die in grauer Vorzeit lebte. Schoetensack gibt dieser Spezies den Namen Homo heidelbergensis.

Heute, im Jahr 2007, jährt sich der Fund zum hundertsten Mal. Und immer noch hält der „Urmensch von Heidelberg“ die Forscher in Atem. Vieles haben sie über ihn herausgefunden, manches ist nach wie vor rätselhaft. Wo kam Homo heidelbergensis her? Wo siedelte er? Wie sah sein Alltag aus? Der Besitzer (oder die Besitzerin) des Unterkiefers lebte wahrscheinlich vor 500.000 bis 600.000 Jahren in einer Warmzeit. Die Temperaturen waren höher als heute, es gab milde Winter und feuchte Sommer. In den Tälern und an den Hängen wuchsen dichte Wälder, auf den Höhen wehte der Wind durch eher offene Landschaften. Der Urmensch teilte sich sein Revier mit Waldelefanten, Nashörnern, Flusspferden, Elchen, Rothirschen, Wildschweinen und Pferden. Außerdem musste er sich vor gefährlichen Raubtieren in Acht nehmen, darunter Hyänen, Löwen, Leoparden und Säbelzahnkatzen.

Homo heidelbergensis war etwa 1,60 Meter groß und sehr, sehr kräftig“, sagt Dietrich Wegner, Spezialist für Altsteinzeit vom Verein „Homo heidelbergensis von Mauer“. Bisher habe man in der Nähe des Kiefers etwa vierzig behauene Steine gefunden. „Das beweist, dass die Menschen damals massenhaft Steinwerkzeuge benutzten“, sagt Wegner, „wahrscheinlich warfen sie diese nach einmaliger Benutzung weg und machten sich neue“.

Der Urmensch von Heidelberg sammelte Geröllbrocken und schlug Teile davon ab, so dass spitze oder scharfkantige Bruchstücke entstanden. Je nach ihrer Form benutzte er die Splitter als Klingen, Kratzer, Schaber oder Bohrer. Er brauchte sie, um Beutetiere zu zerlegen. „Wir haben Tierknochen aus dieser Zeit gefunden, die eindeutig mit Steinwerkzeugen traktiert wurden“, erzählt Wegner. Die Frühmenschen schabten das Fleisch von den Knochen und spalteten sie, um an das Mark zu kommen.

Nicht schlecht staunten die Wissenschaftler, als sie herausfanden, dass die vorzeitlichen Jäger bereits hocheffiziente Schleuderwaffen benutzten. 1996 bargen Forscher im Harzvorland acht Holzspeere und zwei Wurfhölzer, die etwa 375.000 Jahre alt sind und aus der Ära des Homo heidelbergensis stammen. Versuche haben gezeigt, dass diese Geräte den heutigen Wurfspeeren aus dem Leistungssport durchaus ebenbürtig waren. „Sie hatten sehr gute Flugeigenschaften, drangen etwa zwanzig Zentimeter tief in die getroffenen Tiere ein und eigneten sich hervorragend zur Jagd“, sagt Wegner.

Mittlerweile sind die Forscher auch in anderen Gegenden auf die Spuren des Homo heidelbergensis gestoßen. Sie fanden seine Überreste in Frankreich, Spanien, Griechenland, Äthopien, Simbabwe und Südafrika. „Der Heidelberger“ hatte sich offenbar über große Teile Afrikas und Europas verbreitet.

Aber woher stammte er – und was wurde aus ihm? Darüber sind sich die Forscher noch nicht einig. „Es gibt aber eine Theorie, die sich in letzter Zeit immer mehr durchsetzt“, so Wegner. Diese Theorie besagt, dass Homo heidelbergensis vor ungefähr einer Million Jahren auf der Bühne erschien. Wahrscheinlich entwickelte er sich in Afrika aus der Frühmenschenart Homo ergaster. Irgendwann – der genaue Zeitpunkt ist unbekannt – wanderten Homo heidelbergensis-Gruppen nach Europa. Sie bevölkerten Mitteleuropa vor 600.000 bis ungefähr 250.000 Jahren.

Dann verliert sich ihre Spur. Denn der europäische Homo heidelbergensis, so die Theorie, wandelte sich vor 250.000 bis 200.000 Jahren zum Neandertaler. Etwa zur gleichen Zeit ging aus dem afrikanischen Homo heidelbergensis der moderne Mensch Homo sapiens hervor, der schließlich alle Kontinente eroberte.

Doch damit ist die Geschichte des Heidelberger Urmenschen nicht zu Ende erzählt. Der Unterkiefer von Mauer birgt noch manches Geheimnis. „Wir haben ihn kürzlich computertomografisch untersuchen lassen“, sagt Wegner, „dabei entdeckten wir mehrere Risse im Knochen.“ Nun rätseln die Forscher: Hatte sich der Besitzer einen Kieferbruch zugezogen? Verheilte die Wunde wieder? „Die Zähne auf der rechten Mundseite sind stärker abgenutzt als die auf der linken – vielleicht, weil der Urmensch mit dem gebrochenen Kiefer nicht mehr richtig kauen konnte“, vermutet Wegner. Der Knochen, den Daniel Hartmann vor hundert Jahren ausgrub, könnte noch für einige Überraschungen sorgen.

Frank Schubert

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