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Hören: Jenseits der Stille

Sind Krankheiten nützlich? Auf den ersten Blick gewiss nicht, auf den zweiten manchmal schon. Ab und an helfen sie, Geheimnisse des menschlichen Körpers zu lüften. Das Hören birgt noch viele, einem kamen französische Forscher nun auf die Spur.
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"Was für ein Geräusch macht die Sonne, wenn sie aufgeht?" – "Wie klingt der Schnee, wenn er auf die Wiese fällt?" Fragen, über die wir uns keine Gedanken machen – anders als die kleine Lara und ihre Eltern im Film "Jenseits der Stille". Denn Laras Eltern sind taub.

Gehörlosigkeit kann unzählige Ursachen haben. Viele Menschen verlieren das Gehör erst im Laufe ihres Lebens, doch fast jedes tausendste Kind kommt schon taub auf die Welt. Die Gründe für angeborene Gehörlosigkeit sind komplex, denn Schuld können Mutationen in rund hundert Genen sein. Bei etwa der Hälfte der taub geborenen Kinder reicht dafür sogar ein einziges mutiertes Gen aus, entdeckte Christine Petit vom Institut Pasteur in Paris schon vor einigen Jahren.

Die molekularen Mechanismen des komplizierten Hörvorgangs waren damals noch ein Geheimnis. Inzwischen hat Petit mit ihrem Team Gene für mehr als zehn verschiedene Formen der angeborenen Taubheit entdeckt und darüber einige der grundlegenden Vorgänge beim Hören aufgeklärt. Gerade entschlüsselten sie auf diese Weise wieder eines der Rätsel.

Coritsches Organ | Aufbau des Cortischen Organs in der Cochlea: Die Haare der äußeren Haarzellen (OHC) und der inneren Haarzellen (IHC) ragen in die Tektorialmembran (grau). Auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich die Bändersynapsen, an denen die Zellen das Hörsignal an die Nervenzellen des Hörnervs weitergeben (gelb und braun dargestellt).
Sobald eine Schallwelle unsere Ohrmuschel erreicht, tritt sie eine spannende Reise an, bei der sie zuerst durch den Gehörgang flitzt, durch das Trommelfell hüpft und dahinter den Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel einen Besuch abstattet. Nach dem Sprung durch das ovale Fenster landet sie in einem Schneckenhaus, der Cochlea. Hier braust die Welle eine dunkle Wasserrutsche hinunter. Die Cochlea ist in mehrere Röhren aufgeteilt: Für den Schall heißt das, zuerst oben den Vorhofgang entlang zu gleiten, nach dem Wendepunkt an der Spitze der Schnecke dann den unten liegenden Paukengang. Die Reise endet für die Welle, nachdem sie die Schnecke durch das runde Fenster verlassen hat.

Ans Eingemachte geht es zwischen dem Vorhofgang und dem Paukengang, wo noch ein dritter Kanal liegt, der Ductus cochlearis. Auf seinem Boden liegt das Cortische Organ, in dem die so genannten Haarzellen eingebettet sind: Drei Reihen äußerer Haarzellen (OHC, outer hair cells) und eine Reihe innerer Haarzellen (IHC, inner hair cells). Die Haarzellen haben, wie der Name unschwer erkennen lässt, Haare – diese ragen in die Tektorialmembran, die sich wie ein Segel über das Cortische Organ ausbreitet. Rutscht nun unsere Welle den Vorhofgang entlang, verschieben sich die darunter liegenden Haarzellen relativ zur Tektorialmembran. Die OHC wirken als Verstärker, wohingegen die IHC letztlich das Signal an Neuronen übertragen, die es zum Gehirn schicken. Die Übertragung findet an einer speziellen Synapsenform, der so genannten Bändersynapse statt.

Otoferlin im Innenohr | Otoferlin-Verteilung (grün) in den äußeren Haarzellen (OHC) und inneren Haarzellen (IHC) einer sehr jungen Maus: Nach dem sechsten Lebenstag fanden Petit und ihr Team Otoferlin jedoch nur noch in den IHC und dort hauptsächlich an den mit Neurotransmittern gefüllten synaptischen Vesikeln.
Für genau diese Stelle interessierten sich Petit und Kollegen in ihrer neuen Studie. Zwar wussten die Forscher schon, dass die Bewegung der Haare auf den IHC dazu führt, dass Kalzium- und Kalium-Kanäle aufgehen, wodurch die Zelle eine positive Ladung bekommt. Daraufhin öffnen sich noch mehr Kalziumkanäle, diesmal spannungsabhängige – die Zelle wird nun praktisch mit Kalzium geflutet. Dadurch verbinden sich kleine, mit Neurotransmittern vollgestopfte Säckchen mit der Zellmembran, so dass sich ihr Inhalt, meist Glutamat, in den Spalt zwischen der IHC und den von dort ableitenden Neuronen ergießt. Diese Säckchen sind übrigens an "Bändern" aufgehängt, daher der Name der Synapse.

Das große Geheimnis war aber, wie das Kalzium die Säckchen dazu bringt, mit der Zellmembran zu fusionieren. Petit und ihre Team untersuchten nun das Protein Otoferlin, das bei einer rezessiv vererbten Form der Gehörlosigkeit Fehler trägt. Ihnen fiel auf, dass es praktisch nur in den IHC vorkommt und sich dort an die vorher erwähnten Säckchen anlagert. Genauso wie Menschen, waren auch Mäuse ohne funktionstüchtiges Otoferlin taub, obwohl eigentlich alles normal abläuft – bis auf die letzte Etappe: Das einströmende Kalzium bringt die Säckchen eben nicht mehr dazu, sich mit der Zellmembran zu verbinden. Petit und Co schließen daraus, dass Otoferlin der Kommissar Spürnase für Kalzium ist, der den Säckchen die Membranfusion anordnet. Macht er das nicht, können sie ihr Glutamat nicht mehr freigeben, das bindet deshalb nicht an die Rezeptoren auf den Neuronen und löst so kein elektrisches Signal mehr aus, das sich bis ins Gehirn fortpflanzt und uns schließlich hören lässt.

Krankheiten sind also tatsächlich manchmal nützlich, um dem Körper neue Geheimnisse zu entlocken. Im Gegenzug kann das aber auch wieder hilfreich für die Menschen sein, die von dieser Krankheit betroffen sind. Bei der Otoferlin-abhängigen Form von Gehörlosigkeit waren sich Mediziner nämlich nicht sicher, ob Cochlea-Implantate helfen können. Nun ist klar: Ja, solche Geräte, die den Job der IHC übernehmen, können diese Menschen in die Lage versetzen, selber zu testen, ob die Sonne ein Geräusch macht, wenn sie aufgeht oder nicht.

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