Juden in der Diaspora: Roms ältestes Ritualbad

Die Regeln sind klar: mehrere hundert Liter Wasser in einem Becken, das tief genug ist, damit ein Mensch vollständig untertauchen kann. Das ist nötig für ein jüdisches Ritualbad. Allerdings darf nicht jedwedes Wasser in das Becken fließen, nur solches aus Quellen oder Flüssen, ferner dürfen Regen- und Grundwasser eine Mikwe speisen. Es muss »lebendiges« Wasser sein, das sich bewegt, besagen die jüdischen Regeln. Die Mikwen (oder Mikwaot) sollen für rituelle Reinheit sorgen – demnach können sich Frauen nach der Menstruation reinwaschen, Männer vor dem Sabbat oder wer zum Judentum übertreten möchte. Zum Duschen, Baden oder Waschen ist die Mikwe nicht gedacht.
Viele dieser Gebote bestehen schon lange. Die ältesten Mikwen sind gut 2000 Jahre alt und kamen im heutigen Israel zum Vorschein. Dort, im jüdischen Kerngebiet, kennen Archäologen inzwischen die Überreste von mehreren Hundert solcher Tauchbäder, die sich meist in den Resten von Wohnhäusern fanden. Stoßen Fachleute in Israel auf eine antike Mikwe, schlagen solche Entdeckungen also keine hohen Wellen mehr. Das Gegenteil gilt für einen Fund außerhalb der Region im östlichen Mittelmeerraum, in der Diaspora.
Eine solche Mikwe – noch dazu die wohl älteste bislang bekannte außerhalb des alten Israel – fand sich in Ostia antica, der antiken Hafenstadt Roms. Bereits im Sommer 2024 legten Archäologen in einem großen Bau die Überreste des jüdisches Ritualbads frei, wie der Archäologische Park von Ostia antica Mitte März 2025 in einer Pressenachricht mitteilt. Bei den Grabungen geborgene Funde, Öllampen, Skulpturenfragmente und ein Glasbecher, stammen laut den Fachleuten aus der Zeit vom 4. bis 6. Jahrhundert.
Menora auf der Lampe
Gerade die Tonlampen liefern den Forscherinnen und Forschern um Alessandro D’Alessio, den Direktor des Archäologischen Parks, deutliche Hinweise darauf, dass es sich bei ihrem Fund tatsächlich um ein jüdisches Ritualbad handelt. So ist eine Lampe mit dem Bild einer Menora dekoriert. Der siebenarmige Leuchter zählt zu den wichtigsten Symbolen des Judentums. Aber auch die Architekturreste machen es sehr wahrscheinlich, dass in dem großen Gebäude inmitten der antiken Stadt Ostia eine Mikwe verbaut war.
Im Stadtviertel »regio II«, unweit des alten Laufs des Tibers, gruben die Archäologen in einem Bereich, den sie bisher noch nicht genau untersucht hatten. Dort entdeckten sie den großen Bau und darin einen kleinen, tiefer liegenden Raum: Von einer Schwelle aus Marmor gehen Stufen hinab in einen schmalen, mit wasserfestem Mörtel verputzten Beckenbereich. Dort führt ein brunnenartiger Schacht in den Untergrund. Die Öffnung ist zirka einen Meter breit und weist in einem Meter Tiefe einen Absatz auf – vermutlich war hier einst ein Gitter oder ein Holzboden eingelassen, sagen die Archäologen.
In dem Schacht sammelt sich Grundwasser. Damit war eine wichtige Bedingung für eine Mikwe erfüllt. Auch die gesamte Anlage mit raumbreiten Stufen, die in einen tiefer liegenden, rechteckigen und verputzten Badbereich führen, seien typisch für Mikwen, heißt es in der Pressemitteilung. Zudem: Eine Leitung, die in der Wand über dem Becken verlegt war, versorgte die Mikwe wohl zusätzlich mit Wasser, vielleicht sollte es Regenwasser sein. Und die Öllampe mit dem Bild einer Menora fischten die Archäologen vom Grund des mit Wasser gefüllten Schachts.
Die älteste Synagoge im westlichen Mittelmeerraum
Die Mikwe ist nicht das einzige Zeugnis jüdischen Lebens in Ostia antica. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre deckten Archäologen die Überreste einer Synagoge in der Hafenstadt auf. Die Gläubigen trafen sich in dem Bau vermutlich seit dem frühen 3. Jahrhundert, bis sie ihn dann im 7. Jahrhundert aufgegeben hatten. Es ist die älteste Synagoge im westlichen Mittelmeerraum und die einzige, die sich in und um Rom aus der Antike erhalten hat. Juden lebten aber bereits seit dem frühen 1. Jahrhundert in Ostia. Das bezeugt eine Grabinschrift aus einer Nekropole, die südlich der Stadt entdeckt wurde, und die »Iudaei« nennt.
Die Synagoge von Ostia befand sich nahe der Meeresküste, die heute jedoch verlandet ist – im Viertel »regio IV« der antiken Hafenstadt. Die Mikwe und die Synagoge lagen demnach nicht in nächster Nachbarschaft. Dennoch gehen die Fachleute davon aus, dass es sich bei dem Bau mit der Mikwe um eine Art jüdisches Gemeindezentrum gehandelt hat. Vermutlich werden jedoch erst weitere Ausgrabungen zeigen, welchen Zweck genau der große Bau erfüllte.
Sicher ist: Die neu entdeckte Mikwe von Ostia antica ist nicht der erste Fund eines antiken Ritualbads in der römischen Diaspora. Sie ist allerdings erst der zweite Fund dieser Art. Zuvor hatte man 1989 in Syrakus im Osten Siziliens jüdische Ritualbäder entdeckt, die in einem unterirdischen, in den Fels gehauenen Raum liegen. Sie stammen vermutlich aus der Zeit vom 6. bis 7. Jahrhundert.
Vor mehr als 2000 Jahren waren Juden nach Rom gelangt
Lange davor waren die ersten Juden nach Rom gekommen. Wie aus Schriftquellen hervorgeht, dürften sie erstaunlich früh seit zirka 150 v. Chr. in der Ewigen Stadt gelebt haben. Allerdings waren nicht alle freiwillig dorthin ausgewandert, schreibt der Archäologe Leonard Rutgers von der Universität Utrecht in der Fachzeitschrift »Classical Antiquity«. Ein Teil jener Juden wurde als Sklaven nach Rom verschifft. Ein weiterer Teil strömte zwar als Freie nach Italien, besaß aber dort kein römisches Bürgerrecht. Und ein Teil lebte als Bürger mit allen dazugehörigen Rechten.
Das Römische Reich war riesig und im Grunde ein globalisierter Raum für Wirtschaft und Militär. Die Menschen legten damals weite Strecken zurück. Wenig verwunderlich also, dass gerade in Roms Hafenstadt Menschen aus anderen Teilen des Imperiums ansässig waren. Die Mikwe bestätige demnach die Bedeutung von Ostia antica »als Roms Hafen und Tor zum Mittelmeer«, das »aus diesem Grund ein ethnischer, sprachlicher, religiöser und kultureller Schmelztiegel« war. So formuliert es Alfonsina Russo, Archäologin und Leiterin der Abteilung zur Aufwertung des Kulturerbes in der Pressemitteilung.
Italiens Kulturminister Alessandro Giuli geht noch einen Schritt weiter. Die Entdeckung zeige, dass Ostia antica ein »wahrer Kreuzungspunkt des Zusammenlebens und des Austauschs der Kulturen« und eine »Wiege der Toleranz zwischen verschiedenen Völkern« gewesen sei. Ob Fachleute dieser Einschätzung zustimmen würden, ist fraglich. Archäologe Rutgers, Experte für das Judentum im Römischen Reich, hält den Begriff der Toleranz für unpassend, jedenfalls für die antiken Verhältnisse.
Waren die Römer tolerant?
Überliefert ist, dass die Römer in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. den Juden mehrfach freie Religionsausübung zusicherten. Doch dann geschah auch wieder das völlige Gegenteil: Kaiser Tiberius ließ im Jahr 19 n. Chr. Juden aus Rom vertreiben. Damals traf es ebenso die Anhänger des Isis-Kults.
Derartige Strafaktionen führten die Römer häufiger durch. Unbestritten ist auch, dass sie im Jahr 70 n. Chr. den jüdischen Aufstand brutal niederschlugen, den Tempel in Jerusalem und die Stadt selbst dem Erdboden gleichmachten. Damals dürften tausende Juden getötet, versklavt und vertrieben worden sein. Zahlreiche Juden gerieten so im Römischen Reich in die Diaspora.
Die Haltung der römischen Kaiser und ihrer Beamten gegenüber der jüdischen Religion änderte sich deshalb nicht, sagt Rutgers. Für ihn zeugen die Ereignisse weder von Toleranz noch Intoleranz, sondern von römischem Pragmatismus, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Römer sahen es als probates Mittel, in unruhigen Zeiten diejenigen zu vertreiben, »die auf Grund ihrer unrömischen Rituale und Praktiken leicht als Bedrohung« für die römische Gesellschaft hingestellt werden konnten. Darunter fielen zahlreiche religiöse Gruppen, zu denen auch Juden zählten.
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