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Justinianische Pest: Die Katastrophenepoche

In Ägypten trat sie 541 erstmals auf, ein Jahr später grassierte sie in Konstantinopel: Die Pest wütete und wuchs sich zur ersten historisch verbürgten Pandemie aus. Versetzte sie dem Oströmischen Reich den Todesstoß – und ließ die Welt der Antike jäh enden?

Am 23. März 544 erließ der oströmische Kaiser Justinian I. ein Edikt: Die völlig überhöhten Preise und Löhne müssen reichsweit gesenkt werden – auf das Niveau, auf dem sie vor dem Ausbruch der Pest lagen, zwei Jahre zuvor. Wer gegen den Erlass verstoße, müsse das Dreifache an Steuern zahlen.

Vermutlich bezweckte Justinian (482–565) mit dieser Maßnahme zweierlei: Zum einen wollte er die ramponierte Wirtschaft beleben, zum anderen die Pandemie offiziell für beendet erklären. Damit sein Imperium endlich zu Normalität zurückkehrte. Doch normal sollte es nicht mehr werden. Im Gegenteil – die Pest erwies sich als ein Sargnagel für das gesamte Reich. Mit ihr ging die Weltordnung der römischen Antike endgültig zu Ende.

Es war Yersinia pestis

Heute gilt die »Justinianische Pest« als erste Seuche, die pandemische Ausmaße angenommen hatte und einigermaßen gut mit Schriftzeugnissen dokumentiert ist. Aber um nachzuvollziehen, was damals genau passierte, müssen Historiker mühsam Puzzleteile zusammensetzen. Erst 2013 identifizierten Archäogenetiker zweifelsfrei den Erreger der Krankheit: Sie untersuchten menschliche Knochen aus einem Gräberfeld des 6. Jahrhunderts in Aschheim bei München und entdeckten das Bakterium Yersinia pestis, das rund 800 Jahre später den Schwarzen Tod auslösen sollte – die verheerende Pestpandemie der Jahre 1346 bis 1353. Inzwischen haben Forscher vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena verschiedene Stämme des spätantiken Erregers an 21 Fundplätzen in Westeuropa ausfindig gemacht. Dass sich die Krankheit tatsächlich bis dorthin ausgebreitet hatte, bestätigen die spätantiken Quellen.

Was aber auch diese jüngste Genstudie von 2019 nicht klären konnte: Wo hatte die Pest ihren Ursprung? Die damaligen Schriften geben darüber nur bedingt Auskunft, obwohl es Berichte von Augenzeugen gibt. So erwähnt der Geschichtsschreiber Prokopios von Cäsarea (um 507–nach 555), der die Pandemie in Konstantinopel erlebt hatte, dass die Krankheit erstmals 541 im ägyptischen Pelusium ausgebrochen sei, am nordöstlichen Zipfel des Nildeltas. Doch war der Erreger dort vom Tier auf den Menschen übergegangen, oder war er eingeschleppt worden? Darüber können Historiker bisher nur spekulieren: Einige vermuten den Ursprung in Äthiopien – so behauptet es ein spätantiker Autor. Andere Forscher wiederum gehen davon aus, dass die Pest über den Seeweg aus Indien kam.

Laut Prokopios hat sich die Seuche vom Nildelta schnell in zwei Richtungen ausgebreitet: nach Westen in die Metropole Alexandria und nach Osten in Richtung Palästina und Syrien. Im Frühjahr 542, vielleicht schon Ende 541, erreichte sie Konstantinopel, die Hauptstadt Ostroms. In der Folgezeit hielt sie dann Europa, Nordafrika und Teile Vorderasiens in Atem. Insgesamt mehr als 200 Jahre lang flammten immer wieder neue Infektionsherde auf, nachdem vorhergehende nahezu erloschen waren. Für die Zeit von 541 bis 750 zählt der Historiker Dionysios Stathakopoulos vom King's College London insgesamt 18 unterschiedlich heftige Pandemiewellen.

Wie tödlich war die Pandemie?

Schon bevor der DNA-Beweis vorlag, waren die meisten Geschichtswissenschaftler davon überzeugt, dass es eine Pestpandemie war. Denn die Symptome, die zeitgenössische Autoren beschreiben, entsprechen am ehesten dem Krankheitsbild der Pest – allerdings nicht nur der Beulenpest, sondern wohl auch der durch Tröpfcheninfektion übertragenen Lungenpest und der so genannten Pestsepsis, einer Blutvergiftung mit dem Bakterium. So heißt es bei Prokopios über Erkrankte in Konstantinopel:

»Sie bekamen plötzlich Fieber, entweder beim Erwachen aus dem Schlaf oder beim Umhergehen oder bei irgendwelcher Tätigkeit […] Indessen entstand teils noch am gleichen, teils am darauf folgenden Tage, teils auch wenige Tage später eine Schwellung, und zwar nicht nur dort, wo sich auch der als Leiste benannte Körperteil am Unterleib befindet, sondern auch in der Achselhöhle, bei einigen sogar neben den Ohren und irgendwo an den Schenkeln. Bis zu diesem Stadium erging es allen von der Krankheit Ergriffenen fast gleich […] Verfiel einer aber nicht in Bewusstlosigkeit oder Raserei, dann ging die Schwellung in Brand über, und er musste unter unerträglichen Schmerzen sterben […] Die einen starben sogleich, andere erst nach vielen Tagen; dabei war der Körper bei einigen von linsengroßen, schwarzen Blasen übersät, und diese Kranken lebten keinen einzigen Tag mehr […] Eine Menge bekam auch noch Blutbrechen, was den raschen Tod herbeiführte.«

Justinian I. | Der Kaiser von Ostrom regierte von 527 bis zu seinem Tod 565. Sein Reich erstreckte sich vom Süden der Iberischen Halbinsel über Nordafrika, Ägypten, die Levante, Anatolien bis nach Griechenland und weiter nach Italien. Mosaik in San Vitale in Ravenna, vor 547.

Unklar ist, wie viele Menschen tatsächlich infolge der Epidemie gestorben waren. Prokopios berichtet, dass es an manchen Tagen bis zu 10 000 Tote in Konstantinopel gegeben hat. Vier Monate habe die Seuche gewütet, die Stadt sei wie ausgestorben gewesen, alle Geschäfte geschlossen und die Versorgung mit Lebensmitteln notdürftig. Der zweite Kronzeuge, der den ersten Ausbruch in der Stadt miterlebte – die Pest kehrte 558 zurück –, war der Kirchenhistoriker Johannes von Ephesos (um 507–589). Er war aus Palästina und Syrien in die oströmische Metropole gekommen und praktisch mit der Ausbreitungswelle in die Hauptstadt gereist. Johannes nennt mehr als 300 000 Opfer – bei rund einer halben Million Einwohner. Angeblich seien diejenigen, welche die Toten zählten, sogar nur bis 230 000 gekommen, danach hätten sie auf Grund der überwältigenden Leichenberge aufgegeben. Ob derartige Angaben stimmen, ist fraglich. In antiken Schriften geben Zahlen meist eher grobe Richtwerte wieder. Allerdings »reflektieren sie die Qualität, die dem Unheil beigemessen wurde«, erklärt der Althistoriker und Justinian-Experte Mischa Meier von der Eberhard Karls Universität Tübingen in seinem Buch »Geschichte der Völkerwanderung«.

Über die tatsächliche Zahl der Toten sind sich Altertumswissenschaftler daher nicht einig. Die heutigen Schätzungen schwanken zwischen 20 und 60 Prozent der Bevölkerung. Oder es heißt, in den betroffenen Gebieten seien zirka 15 bis 100 Millionen Menschen an der Pest gestorben. Als Richtschnur dienen oftmals Vergleiche mit der zweiten großen Pestpandemie am Ende des Mittelalters, die weitaus besser dokumentiert ist. Ob die beiden Ereignisse wirklich vergleichbar sind, ist aber unklar.

»Die Sonne warf das ganze Jahr hindurch ihre Helligkeit ohne Strahlen aus. Seitdem hörten weder Krieg noch Hungersnot noch andere tödliche Plagen für die Menschheit auf«
Prokopios von Cäsarea, 536 n. Chr.

Die Beulenpest dürfte sich in der Spätantike nicht nur in den Städten, sondern auch im ländlichen Raum ausgebreitet haben. Denn Yersinia pestis kann zwar von Mensch zu Mensch überspringen, vor allem aber erfolgt bei der Beulenpest die Ansteckung durch infizierte Flöhe, die auf Ratten hausen und auf den Menschen übergehen. Wie tödlich die Justinianische Pest insgesamt war, lässt sich indes so ebenfalls nicht bemessen – ebenso wenig eine konkrete Opferzahl. Einig sind sich Forscher nur darin, dass wohl Millionen Menschen von Westeuropa bis Vorderasien ihr Leben verloren.

Die Krux mit den Quellen

Jüngst zweifelte ein Forscherteam selbst diesen vagen Konsens an. Genauer gesagt zogen Lee Mordechai von der Hebräischen Universität von Jerusalem und seine Kollegen gegen die angeblich überwiegende Meinung zu Felde, dass es sehr viele Opfer gegeben hätte. Die Historiker um Mordechai werteten 2019 verschiedene Quellen aus, prüften spätantike Schriften, archäologische Befunde und Pollendiagramme. Sie verglichen, wie häufig die zeitgenössischen Autoren in ihren Büchern die Pest erwähnten und wie oft sie etwa von anderen Katastrophen wie Erdbeben berichteten. Deutlich häufiger sei etwa von zerstörerischen Naturereignissen die Rede als von der tödlichen Seuche. »Innerhalb der historischen Texte wird der Pest nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt«, lautet das Fazit der Forscher. »Prokopios, der Autor der einflussreichsten Passage über die Justinianische Pest, erörtert sie in weniger als einem Prozent seines Werks.« Ebenso prüfte Mordechais Team die Daten von Pollenanalysen, die für einige wenige Regionen in Südosteuropa und Anatolien vorliegen. Das Ergebnis: Die Äcker waren offenbar durchgängig bestellt worden. Von einem radikalen Bevölkerungseinbruch zeugen die Pollendiagramme daher nicht. Das verheerende Ausmaß der Pandemie sei übertrieben.

Mordechais Ergebnisse blieben nicht unwidersprochen. Mitnichten würden die maximalen Opferzahlen der Lehrmeinung entsprechen, kritisiert im Juni 2020 Mischa Meier. Er bemängelt, dass die Kollegen aus Israel die Quellen nur quantitativ ausgewertet hätten. Die überlieferten Schriften würden aber lediglich einen Bruchteil der damaligen Textproduktion abbilden. Welche Werke die Zeiten überdauert haben, entschied nicht nur der Zufall, sondern spätere Gelehrte wählten bestimmte Bücher aus, die sie für wichtig hielten. Zudem sei nicht zu erwarten, so Meier, dass in allen literarischen Gattungen Hinweise auf die Pest zu finden sind. Er vergleicht: »Hatte die Covid-19-Pandemie von 2020 etwa nur sehr geringe Auswirkungen, weil sie in der riesigen Menge an esoterischer Literatur, Kochbüchern, Liebes- und Kriminalromanen, die in dieser Zeit produziert wurden, keine Rolle spielte?« Alle spätantiken Chronisten, von denen zu erwarten sei, dass sie ein Wort über die Pest verlieren, hätten auch davon berichtet – und sie beschreiben die Pandemie als Grauen erregendes Ereignis. Und die Pollenanalysen? Mit diesen Daten betrat Mordechais Team Neuland in der historischen Pestforschung, doch nur für sehr wenige Regionen könne es ein Urteil fällen, meint Meier. Der Disput zwischen Mordechai und Meier ist noch nicht ausgestanden. Die israelischen Forscher reagierten jüngst im September 2020 auf die Kritik des Tübinger Althistorikers. Unter Fachleuten hat Mordechais Studie jedoch noch keine breite Akzeptanz erhalten.

Auf Erfolg folgte Misserfolg

Wertlos sind die Schriftquellen – unabhängig davon, ob man sie nun qualitativ oder quantitativ liest – natürlich nicht. Sie liefern eine valide Übersicht, in welchen Regionen die Pest umging. Offenbar gelangte sie bis nach Syrien, Nordafrika, Griechenland, Italien, Gallien sowie Britannien und Irland.

Besonders gut ist die Überlieferung für das Oströmische Reich, vor allem für die Hauptstadt Konstantinopel. Kaiser Justinian I. präsentierte sich seit seiner Thronbesteigung 527 als mächtiger Regent, der das Römische Reich zu alter Stärke führen wollte. In der Tat war es ihm gelungen, 532 zeitweise Frieden mit dem persischen Königshaus der Sassaniden zu schließen und somit eine Bedrohung der östlichen Grenzen einzudämmen. Seine Heerführer eroberten große Teile der ehemaligen westlichen Einflusssphäre zurück – 534 Nordafrika und 540 Italien. Mit dem »Codex iuris civilis« ließ er das Rechtssystem des Reichs grundlegend reformieren. Das Gesetzeswerk trat 533 in Kraft. Zudem initiierte Justinian ein ambitioniertes Bauprogramm – darunter die Hagia Sophia in Konstantinopel.

»Das Aufkommen von Yersinia pestis war eine Zäsur in der Geschichte der menschlichen Spezies«
Kyle Harper, Althistoriker, University of Oklahoma

Doch dann erschütterte eine Reihe von Katastrophen die kaiserliche Erfolgsserie. Zahlreiche Erdbeben, Wetterextreme und Überflutungen gingen dem Pestausbruch von 542 voraus. Wissenschaftler führen die Katastrophen auf mindestens zwei gewaltige Vulkanausbrüche in Mittelamerika oder Südostasien um das Jahr 536 zurück. Riesige Staubwolken verdunkelten in der Folge die Atmosphäre. »Die Sonne warf das ganze Jahr hindurch ihre Helligkeit ohne Strahlen aus – so wie der Mond – und hatte die meiste Zeit das Ansehen einer Verfinsterung […]«, schreibt Prokopios. »Seitdem sich dies ereignete, hörten weder Krieg noch Hungersnot noch andere tödliche Plagen für die Menschheit auf.« Eine weitere Folge: Es wurde kälter. Gegenden von Mitteleuropa bis Mittelasien mündeten in die so genannte Kleine Eiszeit der Spätantike. Sie dauerte bis ans Ende des 7. Jahrhunderts und hinterließ überall auf der Nordhalbkugel ihre Spuren.

Die Pest zerschlug wohl endgültig Justinians politische Ambitionen. Wie sehr, zeigt die Zahl seiner Edikte: Vor 542 hatte er durchschnittlich mehr als 14 Verordnungen pro Jahr erlassen, nach 543 bis zu seinem Tod 565 waren es gerade einmal noch etwas mehr als eine jährlich, wie es der Historiker Kyle Harper von der University of Oklahoma in seinem 2020 auf Deutsch erschienenen Buch »Fatum – Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches« zeigt. Justinian erkrankte sogar selbst an der Seuche. Er überlebte.

Wider die Obigen

Doch Konstantinopel war im Ausnahmezustand, die Lage angespannt. Und die Regierenden bekamen es zu spüren. Sie büßten enorm an Autorität ein. Aus Angst, sich anzustecken, aber auch um nicht den Unmut der Bevölkerung zu wecken, ließen sich kaum noch Beamte in den Straßen blicken. Überhaupt kam das öffentliche Leben zum Erliegen. Die Menschen blieben die meiste Zeit zu Hause, heißt es in den Schriftquellen. Leichen stapelten sich auf den Plätzen und Straßen. Familien hätten ihre toten Angehörigen nur noch selten regulär bestattet, wie Prokopios erwähnt. Stattdessen würde man die Verstorbenen in Massengräber legen oder kurzerhand ins Meer werfen. Aus der fraglichen Zeit haben Archäologen im Ostmittelmeerraum Massengräber entdeckt, punktuell dokumentierten sie zudem einen Anstieg an Grabinschriften.

Die Verzweiflung dürfte damals groß gewesen sein. Man erhoffte sich sogar Hilfe durch seltsame Sitten: So kursierte das Gerücht, dass sich die Pest vertreiben ließe, wenn man nur Geschirr aus den oberen Stockwerken der Häuser werfen würde. Also flogen drei Tage lang Teller, Tassen und Töpfe auf die Straße – eine Wirkung hatte das Gepolter aber wohl nicht.

Die Pest sorgte sehr wahrscheinlich für einen erheblichen und abrupten Bevölkerungsrückgang. Und da immer wieder Infektionswellen aufbrandeten, dürfte sich daran nicht so schnell etwas geändert haben. Kyle Harper urteilt: »Das Aufkommen von Yersinia pestis war eine Zäsur in der Geschichte der menschlichen Spezies.«

Für die Händler, Handwerker und Bauern waren die Folgen katastrophal. Es fehlte an Arbeitskräften. Immer weniger Menschen waren bereit, die Leichen zu bestatten. Nur gegen viel Geld ließ sich überhaupt jemand für diese Aufgabe finden. Doch bessere Bezahlung allein reichte nicht aus, um Konstantinopel ausreichend zu versorgen. Dabei war die oströmische Kapitale ja bereits in einer misslichen Lage gewesen, bevor die Pandemie losbrach, wie Meier in seinen Schriften betont: »Die Seuche war keineswegs eine einzige Katastrophe in einer sonst ruhigen Zeit, sondern in diesem Moment verdichtete sich eine außergewöhnliche Serie von Katastrophen, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte.« Auch Harper sieht darin einen entscheidenden Faktor, weshalb die Pest die spätantike Welt besonders hart traf: »Die Besorgnis erregenden Klimaanomalien der Jahre vor der Justinianischen Pest hatten die Versorgung mit Nahrungsmitteln beeinträchtigt.« Prokopios beschreibt die Lage während der Pestzeit wie folgt: »Daher trat in der Stadt, die in allen Vorräten sonst einen Überfluss hatte, eine starke Hungersnot ein.« Die wenigen Arbeiter ließen sich deshalb ihre Dienste gut bezahlen. Und aus diesem Grund sah sich Justinian 544 veranlasst, durch die eingangs beschriebene Verordnung einzuschreiten.

Ikone der Gottesmutter | In der Mitte thront Maria mit dem Jesuskind, umgeben von den Erzengeln Michael und Gabriel. Darüber ist der von zwei Engeln getragene Jesus Christus dargestellt. Der ägyptische Wandteppich stammt aus dem 6. Jahrhundert. Auf Grund der Pesterlebnisse verehrten die Menschen zunehmend Maria und solche Ikonenbilder.

Die Pest bedeutete auch für die Staatsfinanzen ein Fiasko, da nun deutlich weniger Menschen Steuern zahlten. Eine Staatskrise drohte. Justinian reagierte: Er ließ 543 kleinere Goldmünzen ausgeben. Wie Numismatiker feststellten, verloren auch die Bronzeprägungen an Gewicht. Der britische Historiker Peter Sarris von der University of Cambridge sieht in den verminderten Steuereinnahmen einen Hinweis auf eine geschrumpfte Landbevölkerung, die damals die meisten Abgaben zahlte. Dementsprechend drückend musste die Steuerlast für die Überlebenden gewesen sein, die die Einnahmeverluste ausgleichen sollten. Landbesitzer waren per Gesetz sogar gezwungen, die Steuern ihrer verstorbenen Nachbarn zu übernehmen.

Wie aus der Endzeitstimmung tiefe Religiosität wurde

Die Löcher im Staatshaushalt brachten auch den Bauboom der vorhergehenden Jahre zum Erliegen. Private Geldgeber finanzierten nur noch Kirchen und Klöster. Das Geld dafür saß locker, da man die Pest gemeinhin als Strafe Gottes wähnte. Die Katastrophendichte zur Mitte des 6. Jahrhunderts ließ die Christengemeinde in eine Art Endzeitstimmung verfallen. Johannes von Ephesos etwa verknüpft seine Pestschilderungen von Konstantinopel mit apokalyptischen Szenarien der Bibel. So beschreibt er, wie Totengräber, um Platz zu schaffen, in einem Massengrab vor den Toren Konstantinopels die Leichen ausgetreten hätten wie verdorbene Trauben. »Wie und mit welchen Äußerungen, mit welchen Hymnen, mit welchen Klagen und Seufzern sollte jemand trauern, der diese Weinpresse der Wut des Zorns Gottes über- und miterlebt hat?«, fragt der Chronist und nimmt damit Bezug auf die Offenbarung des Johannes. Dort heißt es: »Da schleuderte der Engel seine Sichel auf die Erde, erntete den Weinstock auf der Erde ab und warf die Trauben in die große Kelter des Zorns Gottes. Die Kelter wurde draußen vor der Stadt getreten und Blut strömte aus der Kelter.«

Solidus des Justinian I. | Im Jahr 309 führte Kaiser Konstantin I. die später wichtigste Münze der Spätantike ein. Der Solidus aus Gold hatte seither ein Gewicht von zirka 4,5 Gramm. Justinian I. brachte eine leichtere Version heraus – vielleicht als Reaktion auf den durch die Pest geschwächten Reichshaushalt.

Nicht nur unter der Bevölkerung, auch beim Kaiser höchstpersönlich verstärkte sich seit dem Pestjahr 542 ein gottgefälliger Habitus. Wie Mischa Meier darlegt, erhofften sich die Menschen Hilfe vor allem von der Mutter Gottes. In Konstantinopel erhob man sie zur Stadtpatronin. Justinian huldigte ihr durch den Bau von Marienkirchen. Zudem führte er Festtage ein: Mariae Verkündigung am 25. März, und er verlegte die eigentlich zu Ehren von Jesus begangene Mariae Lichtmess vom 14. auf den 2. Februar und machte es zu einem Marienfest. Parallel setzte eine tief greifende Entwicklung ein: die Verehrung von Heiligenbildern, über die wundersame Geschichten kursierten. So würden die Ikonen Menschen heilen und ganze Städte vor Unheil bewahren.

Das Ende einer Vision

Weniger Menschen im Reich bedeuteten weniger Soldaten für Kriegszüge. Seit die Pandemie ausgebrochen war, hatte der Kaiser erhebliche Schwierigkeiten, Nachschub zu rekrutieren. Ausbleibender Sold und gekürzte Privilegien schwächten zudem die Moral des Heeres. Die Zahl der militärischen Einsätze verringerte sich hingegen nicht. Immer größerer Aufwand war nötig, um die Grenzen in allen Landesteilen zu sichern.

Spätestens nach Justinians Tod im Jahr 565 war die Vision vom wieder erstarkten Imperium Romanum geplatzt. Im Westen drangen 568 die Langobarden in Italien ein und eroberten rasch weite Teile der Halbinsel. Im Osten flammten 572 die Kämpfe mit den Sassaniden erneut auf. Awaren und Slawen überfielen immer wieder Illyrien und Thrakien, Gebiete auf dem Balkan. Und trotz der brutalen Steuerpolitik hatten sich während der Regierungszeit Justinians die Staatsfinanzen nicht erholt – zumal neue Pestwellen wohl jegliche Zuversicht tilgten. Der Übergang von der Antike ins Mittelalter war in vollem Gange.

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