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Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz: Milliarden für ein »Zeitalter der Renaturierung«

Mehr Wälder, mehr Moore und mehr hochwertige Ökosysteme: Ein heute auf den Weg gebrachtes, ambitioniertes Aktionsprogramm des Bundes investiert massiv in natürlichen Klimaschutz.
Emsdettener Venn
Aus trockengelegten Mooren entweichen enorme Mengen an Klimagasen. Sie wiederzuvernässen, stoppt diese Emissionen und schafft gleichzeitig Landschaften, die bedrohten Arten ein Zuhause bieten.

Von solchen finanziellen Dimensionen konnte der Naturschutz in Deutschland bisher nur träumen. Vier Milliarden Euro umfasst das Budget des am 29. März 2023 vom Bundeskabinett verabschiedeten »Aktionsprogramms Natürlicher Klimaschutz« (ANK). Das ist doppelt so viel Geld, wie das Umweltministerium für alle seine Aufgaben zusammengenommen im Jahr 2022 zur Verfügung hatte – von der Lagerung radioaktiven Abfalls über den Verbraucherschutz bis zum Haushalt der zwei angeschlossenen Bundesämter. »Wir sind fast noch besoffen«, sagte wenige Tage zuvor der für das Programm zuständige Fachmann im Ministerium, Helmut Alda, in einer Veranstaltung der Deutschen Umwelthilfe. »Das ist wahnsinnig viel Geld für uns.«

Mit dem vielen Geld muss allerdings auch eine Mammutaufgabe bewältigt werden: Überall in Deutschland sollen künftig Ökosysteme wieder in einen naturnahen Zustand gebracht werden, damit sie widerstandsfähiger gegen den Klimawandel werden. Gleichzeitig sollen sie dadurch als Refugien für bedrohte Tier- und Pflanzenarten dienen. »Es geht jetzt darum, nach Jahrzehnten der Naturzerstörung ein Zeitalter der Renaturierung einzuläuten«, sagte Bundesumweltministerin Steffi Lemke bei der Vorstellung des Programms im Bundestag. »Wir investieren in unsere Ökosysteme, damit sie uns schützen können vor den Folgen der Klimakrise, vor Hochwasser, vor Dürre, vor Hitzeereignissen.«

Natur- und Klimaschutz solcherart zu verzahnen, gewinnt auch international immer mehr Anhänger. Das Schlagwort lautet »naturbasierte Lösungen« für die Doppelkrise von Klima und Biodiversität. Im Zentrum stehen Wälder, Moore, Flüsse und Auen, aber auch Seegraswiesen im Wattenmeer, intakte Böden in der Agrarlandschaft oder Parks in Städten. Sie können zum einen Kohlenstoff besonders effektiv speichern, zum anderen sind sie wertvolle Lebensräume.

Ökologische Verbesserungen in all diesen Bereichen sind entsprechend auch Bestandteile der jetzt beschlossenen ANK-Förderung. Fast 70 einzelne Fördermaßnahmen enthält das Programm. So können Landwirte bei der Wiedervernässung ihrer Moorböden oder beim Pflanzen von Hecken ebenso auf Unterstützung hoffen wie Waldbesitzer, die auf einen ökologischen und klimaresilienten »Umbau« ihrer Wälder mit einheimischen Arten setzen, oder Kommunen, die Grünflächen naturnah umgestalten und Stadtbäume pflanzen.

Kühe im Wasser | Auch wenn Wiesen unter Wasser gesetzt werden, können sie noch wirtschaftlich genutzt werden. Zum Beispiel durch die Beweidung mit angepassten Rinderrassen.

Die Lage der deutschen Ökosysteme ist desaströs

»Mit dem ANK will die Bundesregierung entscheidend dazu beitragen, den allgemeinen Zustand der Ökosysteme in Deutschland deutlich zu verbessern und ihre Klimaschutzleistung zu stärken«, lautet die Philosophie hinter dem Programm. Das ist auch bitter nötig. Einer Bilanz der Bundesregierung zufolge ist der Zustand der meisten Ökosysteme desaströs. Weniger als zehn Prozent der Flüsse, Seen und Küstengewässer sind in einem guten ökologischen Zustand. Dagegen hat jeder fünfte Grundwasserkörper in Deutschland wegen Düngereintrags viel zu hohe Nitratgehalte. »Besonders ungünstig ist der Zustand bei den Lebensräumen des Grünlands, bei marinen und Küstenlebensräumen, Binnengewässern, aber auch bei Mooren und Sümpfen«, heißt es in der Bewertung der Bundesregierung zur Lage der Lebensräume in Deutschland. »Überwiegend positiv fallen nur die Felsen und Schutthalden auf.«

Einen Mangel an förderwürdigen Projekten für das ANK dürfte es also nicht geben. Konkrete Förderrichtlinien gibt es zwar noch nicht. Bis zum Sommer soll aber ein Kompetenzzentrum für Natürlichen Klimaschutz eingerichtet werden, in dem sich Interessierte über Fördermöglichkeiten informieren können.

Das Paris-Abkommen ist nur mit natürlichem Klimaschutz noch zu erreichen

Politisch sollen die Fördermilliarden dazu beitragen, dass Deutschland internationale Verpflichtungen zum Schutz von Klima und Biodiversität einlösen kann. Beim Weltnaturgipfel in Montreal hatte sich auch die Bundesregierung verpflichtet, den weiteren Verlust von Artenvielfalt und Ökosystemen bis 2030 zu stoppen und die Natur auf einen Pfad der Erholung zu bringen. Neben dem Ziel, jeweils 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche bis dahin unter wirksamen Schutz zu stellen, gehört auch die Vorgabe zu den Vereinbarungen von Montreal, 30 Prozent zerstörter Ökosysteme zu renaturieren.

Auch das im Pariser Klimaabkommen vereinbarte Ziel, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen, lässt sich nach Überzeugung des Weltklimarats IPCC nur erreichen, wenn der Beitrag natürlicher Ökosysteme voll ausgeschöpft wird.

»Wir brauchen praktisch Renaturierung im Fließbandmodus«, fasst es der Vorsitzende des BUND, Olaf Bandt, zusammen.

Derzeit absorbieren Ökosysteme laut IPCC mehr als die Hälfte des vom Menschen verursachten Treibhausgasausstoßes. Doch diese »Ökosystemleistung« ist in Gefahr. Werden Wälder weiter abgeholzt, Moore und Flussauen trockengelegt und Seegraswiesen durch zu hohe Stickstoffeinträge aus der Landwirtschaft geschädigt, verlieren nicht nur Arten ihren Lebensraum – auch für das Klima tritt ein doppelt negativer Effekt ein: Ge- oder zerstörte Ökosysteme nehmen Treibhausgase aus der Luft weniger effizient auf, im schlimmsten Fall setzen sie die in ihrer Biomasse über lange Zeiträume gespeicherten Mengen an Kohlenstoff sogar wieder frei.

»Wenn wir akzeptieren, dass wir starke Ökosysteme auch für den Klimaschutz brauchen, dann müssen wir diesen auch den Raum geben, damit sie ihre Artenvielfalt entfalten können«, betont der Klimaforscher Hans-Otto Pörtner vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, der in führender Position am jüngsten Sachstandsbericht des IPCC mitgearbeitet hat. »Nur dann können sie die Leistungen erbringen, von denen auch wir Menschen abhängig sind – etwa Kohlenstoff speichern oder abbauen.«

Besonders gut kann man das am Beispiel der zerstörten Moore sehen. Weltweit sind sie heute für mehr Treibhausgasausstoß verantwortlich als alle Emissionen des Flugverkehrs zusammen. In Deutschland wurden mehr als 90 Prozent der ursprünglichen Nasslebensräume entwässert und zu Wiesen oder sogar Äckern verwandelt, denen man ihr einstiges Selbst kaum noch ansieht. In der Folge sind sie für die Artenvielfalt weitgehend verloren, und sie steuern noch Jahr für Jahr rund 7,5 Prozent der gesamten nationalen Treibhausgasemissionen bei. In den moorreichen norddeutschen Bundesländern ist die Klimabilanz durch Trockenlegungen noch weitaus verheerender. 40 Prozent aller Treibhausgasemissionen Mecklenburg-Vorpommerns stammen aus seinen zerstörten Moorböden. Das hat das Greifswald Moor Centrum berechnet.

Toter Wald | Durch Dürre, Stürme und den Borkenkäfer sind große Teile des deutschen Waldes in Mitleidenschaft gezogen worden. Mit dem Aktionsprogramm soll auch ein widerstandsfähigerer Wald der Zukunft aufgeforstet werden.

Als wahrscheinlich gilt also, dass die Moorwiedervernässung einen großen Anteil der Finanzmittel des ANK beanspruchen wird. Ein noch größerer Batzen der Fördermilliarden aber dürfte auf den Umbau der Wälder entfallen. Sie nehmen einen viel größeren Teil der Landesfläche ein. Und auch die geschädigte Fläche ist enorm. Gerade einmal ein knappes Drittel der Waldfläche in Deutschland gilt derzeit als naturnah und damit einigermaßen artenreich und klimastabil. Der Wald leidet unter den lang anhaltenden Dürreperioden, die der Klimawandel mitverursacht hat, er leidet unter den Attacken der Borkenkäfer, die über den geschwächten Baumbestand herfallen, und er leidet unter den immer häufiger werdenden Stürmen. All das hat zuletzt in Deutschland für eine Rekordentwaldung gesorgt. Rund 500 000 Hektar Waldfläche müssen nach Schätzung von Fachleuten in den nächsten Jahren aufgeforstet werden.

Der Neustart im Wald birgt zugleich Chancen: Der Wald der Zukunft könnte naturnäher und gleichzeitig klimaresistenter werden – das nötige Geld dafür wird auch der ANK beisteuern. Zum Ziel, mehr und natürlichere Wälder zu schaffen, hat sich Deutschland bereits im Zuge der EU-Biodiversitätsstrategie 2030 bekannt, nach der in ganz Europa drei Milliarden Bäume zusätzlich gepflanzt werden müssen.

Lob für Lemke – und Kritik

Das Programm ist das bei Weitem ambitionierteste Naturschutzvorhaben in dieser Legislaturperiode. Es könnte Ministerin Lemke helfen, nach Monaten der Zumutungen wieder mehr naturschutzpolitisches Profil in der Koalition zu zeigen. Zuletzt hat ihr Ministerium im Zuge des Ausbaus der erneuerbaren Energien zahlreiche gravierende Verschlechterungen für den Natur- und Artenschutz schlucken müssen, da käme ein erfolgreich gestartetes ANK gerade recht. Das gilt umso mehr, als die Grünen-Politikerin das Konzept maßgeblich selbst entwickelt hat. Schon als Abgeordnete in der vergangenen Wahlperiode hat sie die Eckpunkte dafür formuliert.

Umweltverbände und Wissenschaftler begrüßen das ANK als Meilenstein für mehr Naturschutz in der Ampelkoalition. Gleichzeitig üben sie aber auch Kritik. NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger mahnt zu einer strikt an ökologische Kriterien gebundenen Verwendung der Mittel. Man dürfe nicht riesige Summen in den Wäldern dafür ausgeben, dass am Ende ein paar Prozent weniger ökologisch wertlose Douglasien aufgeforstet würden. Großes Potenzial für Natur- und Klimaschutz sieht er vor allem in Maßnahmen in der Agrarlandschaft, diese würden oft quer durch alle Gesellschaftsschichten unterstützt: »Hecken sind ein Gewinnerthema.«

Heckenlandschaft in Wales | Landwirtschaftlich genutzte Flächen, die von Hecken eingerahmt sind, haben eine höhere Artenvielfalt. Die »wilden Zäune« gelten als regelrechte Alleskönner im Naturschutz.

Der Deutsche Bauernverband hingegen kritisiert am Aktionsprogramm, dass der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirte zu wenig Rechnung getragen werde. »Das Aktionsprogramm muss für uns Bauern auch Geschäftsmodelle für natürlichen Klimaschutz bieten«, sagte Bauernpräsident Joachim Rukwied der Deutschen Presse-Agentur. Nur bei der Moornutzung sei das bislang der Fall. Dort wird unter dem Stichwort Paludikultur gezielt nach Ansätzen gesucht, wie sich auf den geschützten, wiedervernässten Flächen Erträge generieren lassen, zum Beispiel durch den Anbau von Schilf als Material für die Wärmedämmung.

Von wissenschaftlicher Seite wird bemängelt, dass die Zielvorgaben für die Reduktion des CO2-Ausstoßes aus Mooren bei Weitem nicht ausreichten. Die Expertinnen und Experten aus Greifswald haben errechnet, dass in Deutschland in jedem Jahr eigentlich Moore in einer Größenordnung von 50 000 Hektar wiedervernässt werden müssten, um die Pariser Klimaziele einzuhalten. Das entspricht fast der Fläche des Bodensees.

Bislang noch keine gesetzliche Verankerung

Auch vor dem Hintergrund solcher Dimensionen zweifeln Umweltverbände daran, dass sich allein mit finanziellen Anreizen und Freiwilligkeit genügend Flächen für Renaturierungen im notwendigen Umfang finden lassen. Konkurrenz um die Flächen mit Land- und Forstwirtschaft seien vorprogrammiert, fürchtet der BUND-Vorsitzende Bandt. Allein mit Freiwilligkeit sei das nicht realistisch. »Es muss die Möglichkeit für ein Enteignungsverfahren geben, wie es bei anderen Infrastrukturprojekten wie Straßen oder Kraftwerken gang und gäbe ist«, fordert Bandt.

In eine ähnliche Richtung äußert sich der umweltpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Jan-Niclas Gesenhues. Das Aktionsprogramm müsse durch Gesetzgebung flankiert werden. Gesenhues will etwa für klimarelevante Lebensräume eine rechtliche Privilegierung festschreiben, wie sie seit Kurzem auch für Windräder gelte. Dadurch bekämen sie in Genehmigungsverfahren Vorrang vor anderen Belangen. »Wenn Klimaschutz und erneuerbare Energien im überragenden öffentlichen Interesse liegen, liegt auch der Schutz von überlebenswichtigen Ökosystemen wie Mooren, Auen und Feuchtgebieten im überragenden öffentlichen Interesse«, argumentiert Gesenhues. Mit Geld allein ließen sich die Naturschutzziele nicht erreichen. »Wir brauchen das juristische Rüstzeug, um an die Flächen zu kommen und um sicherzustellen, dass der Artenschutz in diesen besonders wertvollen Flächen Vorrang hat.«

Das Umweltministerium setzt indes zumindest vorerst strikt auf Freiwilligkeit. Erweise sich das als nicht ausreichend, müsse neu nachgedacht werden, räumt aber auch Ministeriumsvertreter Alda ein. »Da müssen wir uns auch ehrlich machen.«

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