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Covid-19: Kann die Welt genügend Impfstoff herstellen?

Selbst wenn es bald einen Sars-Cov-2-Impfstoff gäbe: Womöglich ließe sich nicht genug herstellen. Und dann ist da noch die Frage, wie sich die Mittel fair verteilen lassen.
Impfstoffe müssen in sterile Ampullen abgefüllt werden

Im Versuch, die Coronavirus-Pandemie zu beenden, ist der Wettlauf um einen Impfstoff und dessen Herstellung in vollem Gang. Optimistische Prognosen deuten darauf hin, dass eine solche Vakzine in 12 bis 18 Monaten verfügbar sein könnte. Doch Forscher befürchten, es könnte nicht gelingen, genügend Impfstoff für alle Menschen herzustellen. Eine weitere Sorge: Reiche Länder legen sich Vorräte an.

Welche Produktionsanlagen benötigt werden, hängt davon ab, welche Art von Impfstoff am wirksamsten ist. Manche Forscher sind dafür, dass Regierungen und private Investoren Impfstoffherstellern schon im Voraus Geld geben, um deren Produktionskapazitäten zu erhöhen – selbst wenn die Anlagen am Ende gar nicht genutzt werden. Obwohl bereits Gelder zugesagt wurden, liegen die Versprechen weit unter dem Milliardenbetrag, der nach Ansicht von Gesundheitsexperten nötig wäre.

Nicht nur solche gegen das Coronavirus Sars-CoV-2, auch andere Impfstoffe werden benötigt. Darum gilt es, die Ressourcen sorgfältig aufzuteilen. Jedes Jahr stellen Produktionsanlagen auf der ganzen Welt hunderte Millionen Dosen Grippeimpfstoff her. Die Unternehmen sind es gewohnt, ihre Produktion hochzufahren, wenn eine hohe Nachfrage herrscht.

Wie viele Menschen haben sich neu angesteckt? | Die »Sieben-Tage-Inzidenz« gibt an, wie viele Neuinfektionen es in den letzten 7 Tagen pro 100.000 Einwohner gab. Stecken sich zu viele Menschen an, sollen die Landkreise Schutzmaßnahmen ergreifen.

Wenn aber plötzlich Milliarden von Menschen einen neuen Impfstoff gegen das Coronavirus brauchen und Firmen weiterhin die üblichen Impfungen gegen Grippe, Masern, Mumps, Röteln und andere Krankheiten durchführen, könnte es zu einem Produktionsengpass kommen, sagt David Heymann. Er ist Spezialist für Infektionskrankheiten an der London School of Hygiene and Tropical Medicine und leitet ein Gremium, das die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Notlagen wie der Covid-19-Pandemie berät.

Die WHO sagt, sie arbeite an einem Plan, um die gerechte Verteilung von Impfstoffen sicherzustellen. Wie das in der Praxis funktionieren soll, ist unklar. »Im Fall einer Pandemie ist das Letzte, was wir wollen, dass Impfstoffe nicht universell verfügbar sind, sondern ausschließlich den Ländern zur Verfügung stehen, die sie produzieren«, sagt Mariana Mazzucato. Die Wirtschaftswissenschaftlerin leitet das Institut für Innovation and Public Purpose am University College London.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Lieferengpässe – sowohl technische als auch politische – seien eine »große Sorge«, stimmt Seth Berkley zu. Er leitet die GAVI (englisch: Global Alliance for Vaccines and Immunisation), eine öffentlich-private gemeinnützige Organisation mit Sitz in Genf, die sich zum Ziel gesetzt hat, den weltweiten Zugang zu Impfungen zu verbessern.

»Lieferengpässe – sowohl technische als auch politische – sind eine große Sorge«
Seth Berkley, CEO der GAVI

Welcher Impfstoff ist am wirksamsten?

Ein Impfstoff kann aus einer geschwächten oder inaktivierten Version des Coronavirus bestehen. Er kann auch einen Teil von dessen Oberflächenproteinen enthalten. Oder man spritzt eine RNA- oder DNA-Sequenz in den Körper, die in einen Nanopartikel oder ein anderes Virus verpackt ist, zum Beispiel in Masernviren. Unter Umständen muss der Impfstoff von Zellen, die in großen Tanks wachsen, hergestellt werden. RNA oder DNA können von einer Maschine synthetisiert werden. Andere Stoffe werden hingegen in Tabakpflanzen gezüchtet.

Falls sich Vakzine aus einer inaktivierten Form von Sars-CoV-2 als am wirksamsten herausstellen, wäre es wohl einfacher abzuschätzen, wie viel es kosten würde, sie am Fließband zu produzieren. Diese industrielle Technologie gibt es schon mindestens seit den 1950er Jahren, sagt Felipe Tapia, der am Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg auf dem Gebiet der Bioverfahrenstechnik forscht. Werden hierbei hochkonzentrierte, vollständige Sars-CoV-2-Viren hergestellt und aufgereinigt, müsste man die Arbeiten aber möglicherweise in Einrichtungen der Biosicherheitsstufe 3 durchführen. Diese seien knapp, sagt Tapia. Ein möglicher Grund dafür, dass nur wenige Unternehmen diesen Ansatz in Erwägung ziehen.

Mindestens ein Dutzend Unternehmen verfolgen die Idee, RNA- oder DNA-Stränge in den Körper zu spritzen. Sie sollen Zellen dazu bringen, eines der von Sars-CoV-2 verwendeten Proteine herzustellen. »Die Prozesse, über die man RNA- und DNA-basierte Wirkstoffe herstellt, sind deutlich simpler. Das macht ist es wahrscheinlich einfacher, ihre Produktion hochzuskalieren«, sagt Charlie Weller, Leiter des Impfstoffprogramms bei Wellcome, einer in London ansässigen Stiftung, die biomedizinische Forschung unterstützt. Bislang wurde jedoch noch kein Impfstoff gegen Krankheiten bei Menschen zugelassen, der diesem Ansatz folgt.

Die Suche nach Impfstoffen läuft auf Hochtouren | Impfstoffforschung bei der CureVac GmbH in Tübingen-Reutlingen.

Eine Firma, die das versucht, ist Moderna mit Sitz im US-amerikanischen Cambridge. Mitte März verabreichte sie Freiwilligen zum ersten Mal ihren RNA-basierten Coronavirus-Impfstoff. Auch CureVac aus Tübingen macht mit. Nach eigenen Angaben verfügt das Unternehmen über die notwendigen Voraussetzungen, um pro Jahr bis zu 400 Millionen Dosen seines RNA-basierten Impfstoffs herzustellen. Beide Firmen haben Geld von der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) erhalten. Der Fond mit Sitz in Oslo wurde 2017 ins Leben gerufen und soll helfen, bei Krankheitsausbrüchen weltweit Impfstoffprojekte zu finanzieren und zu koordinieren.

Die CEPI hat angekündigt, sechs weitere Impfstoff-Forschungsteams unterstützen zu wollen. Eines davon will einen Masern-Impfstoff so umgestalten, dass er den Körper dazu bringt, ein Sars-CoV-2-Protein zu produzieren, das eine Immunantwort auslöst. Wenn das funktioniert, könnte man Anlagen, die normalerweise Masernimpfstoffe herstellen, möglicherweise auf Covid-19-Impfstoffe umrüsten, sagt Marie-Paule Kieny, Virologin und Forschungsdirektorin am INSERM (französisch: Institut national de la santé et de la recherche médicale) in Paris. Um den bisherigen Produktionszielen weiterhin nachkommen zu können, müssten die Kapazitäten der Firmen wahrscheinlich erhöht werden.

Auch bestimmte Aspekte des Herstellungsprozesses können Engpässe verursachen. Impfstoffe, die aus einem Sars-CoV-2-Protein oder einem Fragment davon bestehen, benötigen oft ein Adjuvans. Das sind Moleküle, die dem Impfstoff beigemischt werden, um die Immunantwort zu verstärken. Ein Teil dieser Inhaltsstoffe könnte während der Pandemie knapp werden, sagt Jaap Venema, Chief Science Officer der US Pharmacopeia (USP), einer Nichtregierungsorganisation in Rockville, Maryland, die bei der Festlegung von Qualitätsstandards für Arzneimittel hilft. Zum Beispiel spezielle Lipide.

Ein anderer Ansatz: Impfstoffe auf Pflanzenbasis. Der große Zigarettenhersteller British American Tobacco (BAT) sagte im April, er wolle Mittel, die von seiner Tochtergesellschaft Kentucky BioProcessing entwickelt werden, in schnell wachsenden Tabakpflanzen anbauen. Solche Vakzine hätten jedoch zusätzliche regulatorische Hürden zu überwinden, sagt Venema. Denn sie müssen unter Einhaltung der Vorschriften für gentechnisch veränderte Organismen hergestellt werden. Das macht es möglicherweise sehr schwer, den Prozess zu beschleunigen.

Per Vorkasse finanziert

Es ist noch unklar, wie sich sicherstellen lässt, dass Regierungen und Unternehmen weltweit jetzt genügend Geld bereitstellen, um im Jahr 2021 schnell Impfstoffe herstellen zu können. Nach Angaben der CEPI sind globale Finanzmittel von mindestens zwei Milliarden US-Dollar notwendig, um die Entwicklung von Impfstoffkandidaten zu unterstützen und sie im Testformat herzustellen. Eine Summe von insgesamt 690 Millionen US-Dollar haben Regierungen bereits zugesagt. Für die Herstellung und weltweite Verteilung eines erfolgreichen Sars-CoV-2-Impfstoffs wird laut der CEPI jedoch eine weitere Milliarde US-Dollar benötigt. Damit Unternehmen ihre Produktionskapazitäten ausbauen – auch wenn diese letztlich gar nicht genutzt werden –, könnten noch viele weitere Milliarden erforderlich sein, sagte CEPI-Chef Richard Hatchett gegenüber dem US-amerikanischen Medienhaus STAT.

Auch Milliardär und Förderer Bill Gates, der die Bill & Melinda Gates Foundation in Seattle mitverwaltet, ist der Meinung, dass die Kapazitäten im Voraus ausgebaut werden sollten. »Damit wir keine Zeit verlieren«, werde seine Stiftung dabei helfen, dies zu finanzieren, sagte er gegenüber US-amerikanischen Medien. Als sie im Rahmen der Recherche zu diesem Artikel kontaktiert wurde, gab die Stiftung jedoch keine weiteren Einzelheiten bekannt.

Das Unternehmen Johnson & Johnson will groß investieren. Im März schloss die Arzneimittel-Firma eine eine Milliarde Dollar schwere Partnerschaft mit der Biomedical Advanced Research and Development Authority der US-Regierung. Das Ziel: die Entwicklung eines Impfstoffs auf Basis eines veränderten Adenovirus. Zu den Plänen gehört ein rascher Ausbau der Produktionskapazitäten mit dem Ziel, »weltweit mehr als eine Milliarde Dosen eines Impfstoffs zur Verfügung zu stellen«. (In einer frühen Äußerung zur Preisgestaltung hat Paul Stoffels, der Chief Scientific Officer des Unternehmens, einen theoretischen Preis von etwa 10 Dollar oder 10 Euro pro Impfdosis veranschlagt.)

Ein Techniker bei der Arbeit | Der Impfstoff-Hersteller CanSino Biologics in Tianjin, China, hat bereits begonnen, seinen Coronavirus-Impfstoff an Freiwilligen zu testen.

Regierungen könnten den Impfstoffherstellern bei der Planung helfen, sagt Ohid Yaqub. Er forscht im Bereich Gesundheitspolitik an der University of Sussex im britischen Brighton. Sie könnten sie zum Beispiel wissen lassen, welchem Teil der Bevölkerung sie die Impfung empfehlen und wie viel Impfstoff sie vermutlich kaufen werden.

Ein weiterer Schritt wäre, fortgeschrittene Marktverpflichtungen einzuführen. Diese legen den Preis eines Medikaments bereits vor seiner Zulassung fest. Das geschah beispielsweise bei der Verteilung des Pneumokokken-Impfstoffs an Kinder durch die GAVI.

Berkley und andere schlagen vor, dass die Produktionsländer Anleihen an Investoren verkaufen könnten, um Impfstoffe auch für Bevölkerungen zu finanzieren, die sie sich nicht leisten können. Dieser Ansatz wurde bereits erfolgreich angewendet: Die International Finance Facility for Immunisation (IFFIm) hat beispielsweise Geld für Impfstoffe gesammelt, die die GAVI Kindern zur Verfügung gestellt hat.

Wie verhindert man das Hamstern?

Aber selbst wenn große Mengen an Impfstoffen hergestellt werden, kann man Länder offenbar nicht dazu zwingen, sie mit anderen zu teilen. Während der H1N1-Grippe-Pandemie 2009 gehörte Australien zu den Ersten, die einen Impfstoff herstellten. Das Land exportierte ihn aber nicht sofort, weil es zunächst seine eigenen Bürger impfen wollte, sagt Amesh Adalja vom Johns Hopkins Center for Health Security in Baltimore. »In den meisten Ländern gibt es Gesetze, die es der Regierung erlauben, Hersteller dazu zu zwingen, im Inland zu verkaufen. Bisher sehe ich kein Anzeichen dafür, dass sich das ändert«, sagt er.

Laut der CEPI gibt es noch keine einheitlichen Prinzipien oder Regeln für ein faires Verteilungssystem, die in Verträgen verankert sind und konsequent angewendet werden können. Es gibt auch keine übergeordnete Institution, die die Herstellung von Impfstoffen auf globaler Ebene veranlasst und dafür bezahlt.

»Das ist eine Herausforderung, die Regierungen, Vertreter der globalen Gesundheit und Regulierungsbehörden dringend und gemeinsam angehen müssen«
Mario Christodoulou, Kommunikationsmanager bei CEPI

»Das ist eine Herausforderung, die Regierungen, Vertreter der globalen Gesundheit und Regulierungsbehörden dringend und gemeinsam angehen müssen, während die Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19 weitergeht«, sagt Mario Christodoulou, Kommunikationsmanager bei CEPI.

Bereits früher habe die WHO versucht einzugreifen, um sicherzustellen, dass die Impfstoffvorräte gerecht aufgeteilt werden, sagt Alexandra Phelan vom Georgetown University's Center for Global Health Science and Security in Washington. Nach dem Ausbruch des Grippevirus H5N1 in Ländern wie China, Ägypten und Indonesien verabschiedeten die Mitgliedstaaten der WHO ein Abkommen, das unter dem Namen Pandemic Influenza Preparedness (PIP) Framework bekannt ist. Für PIP stellen die Länder einem von der WHO koordinierten Netzwerk von Laboren Virusproben zur Verfügung. Im Fall einer Grippepandemie werden diese Länder berücksichtigt und aus dem WHO-Lagerbestand an Impfstoffen, Diagnostika und Medikamenten versorgt. Aber PIP ist für Grippe konzipiert und gilt nicht für den aktuellen Coronavirus-Ausbruch.

Die Länder könnten sich für die gegenwärtige Pandemie auf ein ähnliches Vorgehen einigen. Doch es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein Entwurf des Abkommens rechtzeitig fertig wäre, bevor die für Mai geplante World Health Assembly stattfindet. Auf dieser Versammlung müssten die Mitgliedstaaten darüber abstimmen. Da bereits so viele Viren im Umlauf sind, ist außerdem unklar, ob eine solche Vereinbarung überhaupt funktionieren würde. Impfstoffhersteller könnten genauso gut auf Sars-CoV-2-Proben aus privaten Labors zugreifen, sagt Phelan.

»Die Frage danach, wie wir Impfstoffe effizient, zuverlässig und sicher herstellen können, wird es immer geben«
Ohid Yaqub, University of Sussex

Möglicherweise hat sich bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Impfstoff verfügbar ist, bereits ein Großteil der Welt mit dem neuen Coronavirus infiziert. Viele Menschen wollen sich vielleicht trotzdem noch impfen lassen, um ihre Immunität zu stärken. Nach wie vor sei es wichtig, vorauszudenken, um sicherzustellen, dass bei einer weiteren Epidemie genügend Produktionskapazitäten für Impfstoffe vorhanden sind, sagt Yaqub.

»Die Frage danach, wie wir Impfstoffe effizient, zuverlässig und sicher herstellen können, wird es immer geben«, sagt er, »auch wenn wir keinen Coronavirus-Impfstoff bekommen oder es uns gelungen ist, andere Wege zu finden, mit dem Coronavirus umzugehen«.

Dieser Artikel erschien im Original unter dem Titel »If a coronavirus vaccine arrives, can the world make enough?« in »Nature«.

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