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Selbstinteraktion: Kann Dunkle Materie doch mehr als nur Schwerkraft?

Ein Haufen Dunkler Materie hinkt ein kleines Stück hinter seiner Galaxie her. Hat er sich etwa selbst ausgebremst? Die Folgen für die Forschung wären immens.
Abell 3827

Sie ist schwer genug, um ganze Galaxien zusammenzuhalten, bleibt selbst aber unsichtbar. Sie kann das Licht ferner Sterne ablenken, aber sie leuchtet nicht. Woraus die seltsame Dunkle Materie besteht und welchen Wechselwirkungen sie unterliegt, ist noch völlig unbekannt. Das Einzige, was Forscher bisher über diese entscheidende und schwer zu untersuchende Materieform herausgefunden haben: Dunkle Materie wirkt auf normale Materie ausschließlich über ihre Schwerkraft. Weder kann sie Licht aussenden oder absorbieren noch irgendeine andere nichtgravitative Verbindung mit normaler Materie eingehen.

Trotzdem ist sie eine der dominierenden Faktoren im Universum: Rund fünfmal so viel Dunkle wie normale Materie gibt es im Universum. Die meisten Galaxien können ihre Form ausschließlich deshalb halten, weil sie von einer großen Wolke Dunkler Materie eingehüllt sind. Ohne sie wäre es womöglich nicht einmal zur Bildung von Galaxien gekommen.

Präzise astronomische Beobachtungen sollen Wissenschaftlern helfen, zwischen den konkurrierenden Annahmen über Art und Zusammensetzung Dunkler Materie zu entscheiden, so zum Beispiel durch Vermessung des Galaxienhaufens Abell 3827. Diese Ansammlung elliptischer Galaxien ist für ihre große Masse bekannt und eignet sich deshalb besonders gut für die Analyse Dunkler Materie. Abell 3827 liegt in rund 1,4 Milliarden Lichtjahren Entfernung. Auf engem Raum kollidieren dort gleich vier Galaxien miteinander.

Messungen an einem wahren galaktischen Schwergewicht

In den letzten Jahren haben Astronomen mit Hilfe des Gemini South Telescope das Sternenlicht von Galaxien aufgefangen, die weit hinter Abell 3827 liegen. Dessen gesamte Materie, also sowohl die normale als auch die Dunkle, verzerrt das Licht dabei wie eine gewaltige Linse; Wissenschaftler sprechen vom "Gravitationslinseneffekt". Aus der Verzerrung lässt sich dann wiederum darauf zurückrechnen, wie viel Materie im Bereich von Abell 3827 konzentriert ist. Ergebnis: Der Galaxienhaufen birgt Dutzende Billionen Sonnenmassen in sich und ist damit eines der derzeit größten bekannten galaktischen Schwergewichte – rund 50-mal schwerer als die Milchstraße.

Der Galaxienhaufen Abell 3872 | Die vier Galaxien dieses Haufens kollidieren auf engem Raum miteinander. Durch die riesige Masseansammlung wird das Licht dahinterliegender Galaxien zu einem bläulichen Band verzerrt. Die Konturlinien geben die errechnete Verteilung Dunkler Materie an.

Bei einer solchen Ansammlung normaler und Dunkler Materie könnte es sich lohnen, auch einmal nach ungewöhnlichem Verhalten zu suchen: Vielleicht ist die Dunkle Materie ja doch anderen Kräften als der Gravitation unterworfen? Wenn ja, würde sie vermutlich mit sich selbst wechselwirken und bei einer Kollision etwa abgebremst oder abgelenkt werden – so wie Elektronen oder andere geladene Teilchen, die aufeinander zufliegen und sich wegen der elektromagnetischen Kraft zur Seite lenken.

Irgendetwas hat die Dunkle Materie abgebremst

Bei einer der vier Galaxien hatten die Forscher Glück: Sie lag so genau vor einer anderen Galaxie im Hintergrund, dass das Team die Verteilung der sichtbaren, vor allem auch der Dunklen Materie mit hoher Präzision bestimmen konnte. Dazu mussten sie die Position des Massenschwerpunkts dieser Galaxie – wo sich der Hauptteil der Dunklen Materie befindet – und die Position der hellen Sterne aus normaler Materie auseinanderhalten.

Nun zeigt ihre Auswertung: Irgendetwas scheint die Dunkle Materie abgebremst zu haben. Während die eigentliche Galaxie in ihrem Tanz mit den drei anderen vorauseilt, hinkt ihre Dunkle Materie offenbar rund 5000 Lichtjahre weit hinterher. Bei den anderen Galaxien waren diese Messungen nicht mit ausreichender Genauigkeit möglich. Aber auch dort könnte die Dunkle Materie verlangsamt worden sein.

Noch sind die Fehler bei dieser Art von Messung nicht gering. Der Abstand zwischen Dunkler und normaler Materie war jedoch auffällig. Ein wunder Punkt beim Verständnis dieser Abläufe ist die Zeitspanne, die ein solcher Crash in Anspruch nimmt: Sowohl eine extrem schwache Kraft, die über eine Milliarde Jahre wirkt, wie eine entsprechende stärkere Kraft, die rund 100 Millionen Jahre wirkt, können zu ähnlichen Effekten auf die Dunkle Materie führen.

Eine bestätigte Wechselwirkung käme einer Sensation gleich

Die räumliche Distanz zwischen Galaxie und Dunkler Materie spricht nach Ansicht der Forscher jedoch für "dunkle" Kräfte. "Unsere Beobachtungen legen nahe, dass Dunkle Materie auch andere Kräfte als die Gravitation für Wechselwirkungen nutzen könnte. Wenn dem tatsächlich so wäre, könnten wir einige bedeutende Theorien ausschließen, die beschreiben, um was es sich bei Dunkler Materie handeln könnte", sagt die an den Forschungen beteiligte Liliya Williams von der University of Minnesota.

Sollten sich diese Beobachtungen bestätigen, käme das einer Sensation gleich: Es wäre der erste Nachweis, dass das "Dunkle Universum" eine reichere Struktur an Wechselwirkungen aufweist, als der heutigen Physik bekannt ist. Das Standardmodell der Teilchenphysik, das gerade erst mit der Entdeckung des Higgs-Bosons seinen krönenden Abschluss gefunden hat, müsste umgeschrieben werden.

Erst kürzlich haben Astronomen mit Hilfe einer statistischen Analyse von gleich 72 Galaxienkollisionen herausgefunden, dass Dunkle Materie höchstens sehr schwach mit sich selbst wechselwirken kann. Bei dem Objekt Abell 3827 dürfte sich die Kollision nach Meinung der Forscher aber über einen längeren Zeitraum hingezogen haben als bei den anderen Zusammenstößen. Auch schwache Wechselwirkungen der Dunklen Materie mit sich selbst hätten dann mehr Zeit gehabt, sich zu messbaren Effekten zu akkumulieren.

Doch auch wenn die Studie wichtige Hinweise liefert, bleibt immer noch einige Arbeit zu tun: Die Statistik reicht noch nicht für eine einwandfreie Bestätigung dafür, dass Dunkle Materie auch nichtgravitativ wechselwirkt. Die Studienautoren können andere astrophysikalische Effekte noch nicht ganz ausschließen. Wie sie in ihrer Studie anführen, benötigt man zum Vergleich noch präzisere Simulationen zur Gasdynamik bei solch massiven Galaxienkollisionen.

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