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Dekarbonisierung: Kann Wasserstoff energieintensive Industrien klimafreundlich machen?

Wasserstoff birgt als Energieträger großes Potenzial für den Klimaschutz – allerdings nur, wenn er emissionsarm hergestellt wird. Forschung und Industrie suchen nach Lösungen.
Im Stahlwerk von ThyssenKrupp
Ein Arbeiter im Schutzanzug entnimmt eine 1500 Grad heiße Roheisenprobe aus einem Hochofen im Duisburger Stahlwerk von ThyssenKrupp.

Der weiß glühende Strom aus flüssigem Eisen versiegt nie. Zu jeder Tages- und Nachtzeit strömt das Metall in dem Stahlwerk im Norden Schwedens aus einem Loch am Boden eines gewaltigen, 90 Meter hohen Hochofens. Ebenso unaufhaltsam quillt Kohlendioxid (CO2) aus den Schloten des Werks hinaus in die Atmosphäre.

Das CO2 ist ein Abfallprodukt der Kohle, die der Hochofen in rauen Mengen verschlingt. Pro Tonne Eisen, die zur Stahlherstellung verwendet wird, emittiere der Ofen 1,6 Tonnen CO2, sagt Martin Pei, Chief Technology Officer bei SSAB, dem Unternehmen, zu dem das Werk hier im nordschwedischen Luleå gehört. Weltweit gibt es Hunderte ähnlicher Hochöfen, von denen die meisten einen noch höheren Ausstoß haben. Denkt man andere energieintensive Schritte der Industrie mit, wird klar, weswegen die Stahlherstellung sieben Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verursacht. Einigen Schätzungen zufolge entspricht diese Menge den Abgasen aller Autos der Welt zusammengenommen.

Wenige hundert Meter von dem großen Ofen entfernt steht allerdings ein kleinerer Ofen, der Stahl mit deutlich geringeren Emissionen herstellt. Bei dieser Pilottechnologie wird die Kohle durch Wasserstoff ersetzt. Als Abfallprodukt entsteht lediglich Wasserdampf. »Das ist die neue Art der Stahlherstellung, mit der wir im Prinzip das gesamte Kohlendioxid eliminieren können«, sagt Pei.

Auch der Weg vom Wasserstoff zum Stahl ist nicht völlig emissionsfrei; weitere Schritte in der Eisenverarbeitung stoßen noch immer CO2 aus, auch das Eisenerz muss erst abgebaut werden. Trotz allem produzierte dieser Standort im letzten Jahr den ersten »grünen Stahl« der Welt – dank des Wasserstoffs, der mit Hilfe Schwedens reichlich vorhandener CO2-armer Elektrizität Wasser-, Wind- und Atomkraft hergestellt wurde. Die Versuchsanlage gehört HYBRIT, einem Joint Venture, das SSAB im Jahr 2016 zusammen mit dem schwedischen Energieunternehmen Vattenfall und LKAB, dem staatlichen Bergbauunternehmen, gründete.

Die Umstellung auf grünen Stahl ist nur eine von vielen Möglichkeiten, mit denen Wasserstoff zur Dekarbonisierung der Weltwirtschaft beitragen soll. Obwohl einige die Verwendung von Wasserstoff als Kraftstoff für den Individualverkehr anpreisen, ist es unwahrscheinlich, dass er in diesem Sektor oder auch beim Heizen große Auswirkungen haben wird, da Batterien und Strom bereits effizientere kohlenstoffarme Lösungen bieten. Vielmehr wird der größte Beitrag von Wasserstoff darin bestehen, industrielle Prozesse zu reformieren, von der Kunststoff- und Düngemittelherstellung bis hin zur Raffinierung von Kohlenwasserstoffen. Diese Industriezweige galten bisher als schwierig zu dekarbonisieren und wurden von Medien, Investoren und politischen Entscheidungsträgern entsprechend weniger beachtet.

»Wasserstoff ist im Hinblick auf seine Vielseitigkeit wirklich einzigartig«Dharik Mallapragada, Chemieingenieur

Zudem könnte Wasserstoff in der Energieerzeugung Anwendung finden, könnte Flugzeuge und Schiffe antreiben und sogar das Stromnetz CO2-neutral gestalten: Überschüssiger Solar- oder Windstrom würde zur Herstellung des Gases verwendet, das dann in anderen industriellen Prozessen oder einfach zur Energiespeicherung eingesetzt wird. Auf diese Weise soll Wasserstoff als Brücke zwischen vielen verschiedenen Wirtschaftssektoren dienen.

»Wasserstoff ist im Hinblick auf seine Vielseitigkeit wirklich einzigartig«, sagt Dharik Mallapragada, Chemieingenieur am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. »Das liegt daran, wie er produziert und verwendet werden kann.«

Die politischen Entscheidungsträger, die dringend die vorgegebenen Klimaziele erreichen müssen, haben damit begonnen, Wasserstofftechnologien massiv zu unterstützen, vor allem in den Vereinigten Staaten und in Europa. In manchen Fällen subventionieren sie den Wasserstoff, um die Preise niedrig zu halten; in anderen Fällen geben sie Wasserstoffproduzenten und Industrien, die die Technologie nutzen, Steuernachlässe.

Nicht zuletzt deshalb erleben die Investitionen in Wasserstoffprojekte einen enormen Boom. Der Hydrogen Council, eine Industriegruppe in Brüssel, schätzt, dass hunderte angekündigter Wasserstoff-Großprojekte zusammen bis zum Jahr 2030 ein mögliches Investitionsvolumen von 240 Milliarden US-Dollar ausmachen könnten – auch wenn bisher nur ein Zehntel dieser Projekte abgeschlossen ist. Der Rat erklärt, dass der Markt für Wasserstoff und Wasserstofftechnologien bis 2050 einen Wert von 2,5 Billionen US-Dollar pro Jahr haben könnte.

Analysten gehen heute davon aus, dass sich die weltweite Wasserstoffproduktion bis Mitte des Jahrhunderts verfünf- bis versiebenfachen wird (siehe »Woher kommt der Wasserstoff?«). Dies dürfte dazu beitragen, den weltweiten CO2-Fußabdruck zu verringern – allerdings nur, wenn der Wasserstoff selbst ohne zusätzliche CO2-Emissionen gewonnen wird, wie es im Pilotprojekt in Luleå der Fall ist.

Woher kommt der Wasserstoff? | Erst wenn größere Mengen aus emissionsarmer Herstellung stammen, kann Wasserstoff dabei helfen, den Klimawandel abzubremsen.

Schon früher lag Wasserstoff im Trend. Doch die Summen, die nun im Spiel sind, lassen viele Experten vermuten, dass es diesmal ernst damit ist. Zudem brauche die industrielle Wende keine neuen Technologien: Alles sei bereits erprobt und bewährt, auch wenn wissenschaftliche Fortschritte dabei helfen würden, das Ganze zu beschleunigen. »Die Wasserstoffrevolution kommt – und dieses Mal kommt sie wirklich«, sagt etwa Oleksiy Tatarenko, Ökonom am Rocky Mountain Institute (RMI), einer Denkfabrik für Nachhaltigkeit in Boulder, Colorado.

Wo sollen wir anfangen?

Die Wasserstoffproduktion ist bereits ein nicht unbedeutender – und umweltschädlicher – Industriezweig. Die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt, dass jährlich etwa 94 Millionen Tonnen (Mt) des Gases hergestellt werden. Fast die gesamte Menge stammt aus fossilen Brennstoffen wie Erdgas. Das im Erdgas enthaltene Methan (CH4) reagiert mit Wasserdampf zu Wasserstoff und CO2. Letzteres wird in die Atmosphäre abgegeben – 900 Millionen Tonnen pro Jahr. Das sind mehr als zwei Prozent der weltweiten CO2-Emissionen, vergleichbar mit den jährlichen Gesamtemissionen von Indonesien und dem Vereinigten Königreich zusammen. Experten bezeichnen diesen umweltschädlich produzierten Wasserstoff als »grau«.

»Bevor wir Wasserstoff als Lösung im Kampf gegen den Klimawandel propagieren, müssen wir uns zunächst darum kümmern, dass er den Klimawandel nicht weiter anheizt«Michael Liebenreich, Energieberater und Geschäftsführer von Liebenreich Associates

Der Wasserstoff, der weltweit bereits produziert wird, kommt größtenteils bei chemischen Verarbeitungsschritten in verschiedenen Schlüsselindustrien zum Einsatz. Er wird mit Stickstoff aus der Luft gemischt, um zum Beispiel Ammoniak (NH3) herzustellen, ein Bestandteil von Düngemitteln. Petrochemische Raffinerien verwenden Wasserstoff, um Schwefel aus Erdöl zu entfernen oder um einige der größeren Kohlenwasserstoffe des Erdöls in kleinere aufzuspalten. In der chemischen Industrie wird Wasserstoff in großen Mengen zur Herstellung von Produkten wie Methanol (CH3OH) verwendet, das wiederum in der Synthese zahlloser anderer chemischer Grundstoffe zum Einsatz kommt.

»Bevor wir Wasserstoff als Lösung im Kampf gegen den Klimawandel propagieren, müssen wir uns zunächst darum kümmern, dass er den Klimawandel nicht weiter anheizt«, sagte Michael Liebenreich, Energieberater und Geschäftsführer von Liebenreich Associates in London, in einer Rede beim World Hydrogen Congress in Rotterdam im Oktober.

Ein Teil des CO2, das bei der Herstellung von Wasserstoff aus fossilen Brennstoffen freigesetzt wird, könnte aufgefangen und unterirdisch in tiefen geologischen Reservoirs gespeichert werden. Der auf diese Weise dekarbonisierte Wasserstoff wird als »blau« bezeichnet. Kritiker des blauen Wasserstoffs weisen jedoch darauf hin, dass damit zum einen nicht alle CO2-Emissionen vermieden werden können und zum anderen die Herstellung von blauem Wasserstoff bedeutet, dass weiterhin Erdgas gefördert wird, was wiederum eigene Umweltprobleme mit sich bringt.

Eine weitere Methode zur Wasserstoffherstellung ist fast völlig kohlenstofffrei. Dabei handelt es sich um die 200 Jahre alte Technik der Wasserelektrolyse: Vorrichtungen, die Elektrolyseure genannt werden, extrahieren den Wasserstoff aus Wasser (H2O), indem sie einen elektrischen Strom zwischen mit Katalysatoren beschichteten Elektroden fließen lassen. Wenn die für diesen Prozess verwendete Energie erneuerbar ist, wird das entstehende Produkt als grüner Wasserstoff bezeichnet. Grüner Wasserstoff hat das Potenzial, emissionsfrei oder zumindest annähernd emissionsfrei zu sein.

Ein entscheidender Faktor für die Geschwindigkeit der Umstellung auf sauberen Wasserstoff werden die Kosten für Elektrolyseure sein. Die IEA, die auf saubere Energie spezialisierten Experten von BloombergNEF sowie andere Organisationen sagen voraus, dass diese Kosten rasch sinken könnten – bis 2030 um mehr als zwei Drittel – da die Elektrolyseure in zunehmend automatisierten Fertigungsstraßen statt von Hand gebaut werden.

Somit könnten die Herstellungskosten für grünen Wasserstoff von etwa fünf Dollar pro Kilogramm auf zukünftig etwa einen Dollar sinken, und das ohne Subventionen. Damit wäre er wettbewerbsfähig mit grauem Wasserstoff, der für weniger als einen Dollar pro Kilogramm hergestellt werden kann (vorausgesetzt, dass kein Krieg den Preis des Erdgases in die Höhe treibt, wie es aktuell in Europa der Fall ist). Dennoch sagen mehrere Studien voraus, dass, solange die Nachfrage hoch ist, diese noch jahrzehntelang zu einem großen Teil mit blauem Wasserstoff gedeckt werden muss.

Für die geplante Umstellung auf grünen Wasserstoff werden riesige Mengen an erneuerbarer Energie benötigt. Wären Elektrolyseure zu 100 Prozent effizient, bräuchte man pro Jahr mehr als 3000 Terawattstunden (TWh) Strom aus erneuerbaren Quellen, nur um den heute verwendeten grauen Wasserstoff durch grünen zu ersetzen. In Wirklichkeit dürfte der Strombedarf eher bei mehr als 4500 TWh liegen. Das ist vergleichbar mit dem, was die Vereinigten Staaten in einem Jahr erzeugen. Darüber hinaus geht die IEA in ihrem Netto-null-Emissionen-Szenario davon aus, dass der jährliche Strombedarf für sauberen Wasserstoff bis Mitte des Jahrhunderts sogar auf 14 800 TWh ansteigen wird.

Dennoch wächst der Sektor der erneuerbaren Energien in einem bemerkenswerten Tempo. BloombergNEF prognostiziert beispielsweise, dass weltweit ab 2024 jedes Jahr Fotovoltaikmodule mit fast einem TW Leistung hergestellt werden können: Das allein würde ein Siebtel des heutigen jährlichen Strombedarfs decken. Insgesamt wird sich die weltweite emissionsarme Stromversorgung laut IEA bis zur Mitte des Jahrhunderts mehr als verdreifachen – für eine Netto-null-Welt im Jahr 2050 allerdings wäre ein noch schnellerer Ausbau erforderlich.

Stählt euch!

Von allen CO2-intensiven Industrien ist die Stahlindustrie eine der größten – und sie ist auch jene, in dem Wasserstoff die größten Auswirkungen haben könnte. Jahrelang habe man versucht, Wasserstoff in diesen Prozessen einzusetzen, sagt Martin Pei von SSAB, aber es sei nicht gelungen, das Verfahren in größerem Maßstab einzusetzen. Im Jahr 2016 jedoch, als die meisten Länder das Pariser Klimaabkommen unterzeichneten, in dem sie sich verpflichteten, die globale Erwärmung auf weniger als 2 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu halten, begann Pei, die Wasserstoffforschung bei SSAB einzuführen. Es war klar, dass die Dekarbonisierung von Stahl für Schweden von entscheidender Bedeutung sein würde, um die Verpflichtungen des Abkommens zu erfüllen. SSAB ist kein großer Stahlproduzent, allein aber bereits für zehn Prozent des schwedischen CO2-Ausstoßes verantwortlich. »Jeder wusste, dass Schweden seine Ziele nicht erreichen würde, wenn es SSAB nicht gelänge, die Emissionen zu reduzieren«, sagt Unternehmenssprecherin Mia Widell.

Das größte Problem bei der Stahlherstellung ist, dass Eisen aus Eisenerz gewonnen werden muss, das im Wesentlichen aus Rost besteht und somit Eisen in oxidierter Form enthält. In einem Hochofen werden dem Erz die Sauerstoffatome entzogen, so dass reines, flüssiges Eisen übrig bleibt. Hierfür wird das Erz zusammen mit Koks (einem Derivat der Kohle) oder mit Holzkohle geschmolzen. Die hauptsächliche Funktion dieses Brennstoffs besteht nicht darin, das Erz zu schmelzen, sondern ihm Sauerstoffatome zu entziehen, und zwar in einem chemischen Reduktionsprozess, dessen thermodynamische Kosten mehr als sechsmal so hoch sind wie die der Gesteinsschmelze. Dieser Prozess führt zur Freisetzung großer Mengen Kohlendioxid.

SSAB zog Ideen wie die Abscheidung des freigesetzten CO2 und deren unterirdische Lagerung in Betracht, kam aber zu dem Schluss, dass dies zu teuer wäre. Stattdessen entschied sich das Unternehmen für den Wasserstoff. Dieser kann in das Innere der Pellets aus festem Eisenerz diffundieren und dort den Sauerstoff entfernen. Das geschieht in einem Prozess, der als Direktreduktion von Eisen bezeichnet wird und bei 600 °C statt bei den mehr als 1500 °C eines Hochofens stattfindet (siehe »Grüner Stahl«).

Wie entsteht Stahl? | Der CO2-Ausstoß der Stahlindustrie könnte massiv reduziert werden, wenn statt Kohle Wasserstoff oder Strom aus erneuerbaren Quellen genutzt würde.

Die Direktreduktion gab es schon lange, bevor HYBRIT begann, Wasserstoff für diesen Prozess zu verwenden: Ein Teil des heutigen Stahls wird auf diese Weise mit Erdgas hergestellt. Das jedoch führt zu Emissionen, die durch die Verwendung von sauberem Wasserstoff vermieden werden könnten.

Die Versuche von HYBRIT in Luleå seien so erfolgreich gewesen, sagt Pei, dass SSAB beschloss, den Termin für die Stilllegung seiner Hochöfen von 2045 auf 2030 vorzuverlegen. HYBRIT baut nun das erste vollwertige Werk in Gällivare, einer Stadt 200 Kilometer nördlich von Luleå, und hat die Ergebnisse seiner Forschung öffentlich zugänglich gemacht, in der Hoffnung, der gesamten Branche einen Impuls zu geben. Eine halbe Autostunde von Luleå entfernt hat ein in Stockholm ansässiges Start-up-Unternehmen namens H2 Green Steel den Grundstein für eine noch größere Anlage gelegt und nach eigenen Angaben bereits 1,5 Millionen Tonnen seines Produkts im Voraus verkauft.

Da Schmelzöfen jahrzehntelang in Betrieb sind, sollte die Stahlindustrie nach Ansicht von Energieanalysten den Bau neuer Hochöfen sofort einstellen und stattdessen mit der Inbetriebnahme wasserstofftauglicher Direktreduktionsanlagen beginnen, wenn die Länder die Ziele des Pariser Abkommens erreichen wollen. Selbst wenn die meisten von ihnen zunächst Erdgas verwenden, können sie ihren Kohlenstoff-Fußabdruck allmählich verringern, während die Wasserstoffversorgung in den nächsten drei Jahrzehnten verbessert wird.

»Grüner« Stahl | Eine Mitarbeiterin der HYBRIT-Initiative in Luleå in Nordschweden zeigt fossilfrei hergestellten Eisenschwamm, das Rohmaterial, aus dem Stahl hergestellt wird.

»Im Kohlenstoffbudget ist kein Platz für neue Hochöfen«, sagt Rebecca Dell, Leiterin des Industrieprogramms bei der ClimateWorks Foundation, einer Förderorganisation in San Francisco, Kalifornien.

Viele Stahlhersteller entscheiden sich für den Weg der Direktreduktion, wenngleich in China und Indien noch immer neue Hochöfen geplant sind, wie die Nichtregierungsorganisation Global Energy Monitor berichtet. Die Aufgabe ist jedoch so gewaltig, dass einige Organisationen, darunter BloombergNEF, prognostizieren, dass einige Hochöfen zur Mitte des Jahrhunderts noch in Betrieb sein werden und dass die Kohlenstoffdioxidabscheidung eingesetzt werden muss, um die Emissionen zu reduzieren.

Im Prinzip könne die Stahlproduktion sogar vollständig elektrifiziert werden, so dass kein Wasserstoff mehr hergestellt werden müsse, was wiederum die Effizienz weiter steigern könnte, sagt Dell. Mittels Elektrolyse kann Eisenoxid direkt aufgespalten werden. Start-ups wie Boston Metal in Woburn, Massachusetts, versuchen, dies für die Stahlherstellung zu nutzen. Im Moment ist Wasserstoff jedoch noch der Spitzenreiter. »Der Hauptvorteil des Wasserstoffkonzepts ist, dass es weniger neue Technologie erfordert, um eine wirklich saubere Stahlerzeugung zu erreichen«, sagt Dell.

Eine Brücke aus Wasserstoff

Langfristig könnte der größte Beitrag von Wasserstoff zur Verlangsamung der globalen Erwärmung darin bestehen, dass er eine Brücke zwischen den verschiedenen Bereichen – Elektrizität, Bauwesen, Fertigung und Verkehr – schlägt, wodurch es billiger wäre, alle Bereiche gemeinsam vollständig CO2-neutral zu gestalten, als wenn jeder Sektor für sich versucht, die Dekarbonisierung vorzunehmen, sagt Christian Breyer, ein Energiesystemanalytiker von der Technischen Universität Lappeenranta-Lahti in Finnland.

Der entscheidende Knotenpunkt in diesem vernetzten System wird die Stromerzeugung sein. Hier könnte Wasserstoff dazu beitragen, einen bekannten Nachteil der erneuerbaren Energien zu beheben: Sie sind zwar reichlich vorhanden, aber ungleichmäßig über die Tages- und Jahreszeiten verteilt sowie oft unberechenbar. Das macht es für die verschiedenen Regionen schwierig, längere Zeiträume ohne sie vorauszuplanen.

Forscher, die an Simulationen zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage in künftigen Stromnetzen arbeiten, müssen zum Beispiel planen, wie die Stromversorgung sichergestellt werden kann, wenn in einem kalten, dunklen Winter in Europa eine Woche lang kein Wind weht. Die Wissenschaftler haben einen Namen für dieses Phänomen: Dunkelflaute, ein deutsches Wort, das auch im Englischen verwendet wird und diesen windfreien, dunklen Zustand beschreibt.

Batterien helfen dabei, Angebot und Nachfrage von einer Stunde zur nächsten auszugleichen, aber sobald der Anteil von Wind und Sonne über 80 Prozent des Strommixes eines Netzes steigt, wird es einigen Studien zufolge extrem teuer, die Netze resistent gegen Dunkelflauten zu machen. Eine mögliche Lösung besteht darin, genügend zusätzliche Windturbinen zu bauen, um ein Stromnetz auch durch die stillsten Winter zu bringen, und diese dann den größten Teil des Jahres zur Herstellung von Wasserstoff zu nutzen. Dieser Wasserstoff könnte dann an Industriekunden verkauft werden – an Stahlwerke oder als Flüssigbrennstoff für Transport, Schifffahrt und Export.

In besonders ungünstigen Jahreszeiten könnte Wasserstoff zur Stromerzeugung verwendet werden, indem er in Kraftwerken verbrannt wird, ähnlich denen, die mit Erdgas betrieben werden. Dies wäre allerdings sehr ineffizient: Das Netz würde nur ein Drittel oder weniger des ursprünglich für die Herstellung des Wasserstoffs eingesetzten Stroms zurückerhalten.

Es ist nicht klar, ob dies der kosteneffizienteste Weg ist, um die letzten 20 Prozent des Stroms zu dekarbonisieren, besonders im Vergleich zum Bau von Kernkraftwerken oder dem Ausbau der Geothermie. Der optimale Mix wird wahrscheinlich von Land zu Land unterschiedlich sein. Das legen regionenspezifische Studien von Organisationen wie der Internationalen Organisation für erneuerbare Energien der UN nahe.

Mythen und falsche Vorstellungen

Obwohl Wasserstoff unzählige Anwendungsmöglichkeiten hat, ist er nicht immer die beste Lösung. Bei Personenkraftwagen haben Batterien bereits weitgehend das Rennen gemacht, da sie eine effizientere und kostengünstigere Lösung darstellen als das Mitführen eines Wasserstofftanks und die Rückverwandlung der Energie in Strom.

Ein weiterer Bereich, in dem die Verwendung von Wasserstoff wahrscheinlich nicht sinnvoll ist, ist das Beheizen von Häusern. Wenn es sich um grauen Wasserstoff handelt, der aus Erdgas hergestellt wird, dann trage er einfach nur zur globalen Erwärmung bei, sagt Rebecca Lunn, Bauingenieurin an der University of Strathclyde in Glasgow, Großbritannien. Sie und andere haben in einer Studie des britischen National Engineering Policy Centre (NEPC), die im September veröffentlicht wurde, die Verwendung von Wasserstoff zum Heizen von Häusern als problematisch bezeichnet.

Aber selbst wenn der Wasserstoff grün ist – also mit Strom aus erneuerbaren Energien hergestellt wird – ist es bis zu sechsmal effizienter, diesen Strom direkt zum Heizen von Häusern zu verwenden, etwa mit Wärmepumpen, die einen Wirkungsgrad von weit über 100 Prozent erreichen, indem sie die Wärme von außen ansaugen.

Um die Emissionen schnellstmöglich zu senken, solle die Politik zunächst die Verbesserung der Isolierung von Häusern in den Fokus nehmen, wodurch der Bedarf an Heizenergie unabhängig von ihrer Quelle gesenkt werden könne, sagt Nilay Shah, Professor für Verfahrenssystemtechnik am Imperial College London, der die NEPC-Studie leitete.

Die Zukunft des Wasserstoffs

Die Investitionen in CO2-armen Wasserstoff waren in den letzten Jahren bereits stark angestiegen, aber die Ereignisse dieses Jahres haben einen regelrechten Boom ausgelöst.

In den Vereinigten Staaten etwa wurde mit dem Inflation Reduction Act eine Steuererleichterung von drei Dollar für jedes Kilogramm grünen Wasserstoff eingeführt, zusätzlich zu einer Reihe anderer Maßnahmen und Fördertöpfe für das Gas. In Europa hat der russische Angriff auf die Ukraine ein neues Gefühl der Dringlichkeit hervorgerufen. Im März legte die Europäische Kommission das Ziel fest, bis zum Jahr 2030 jährlich zehn Millionen Tonnen H2 zu produzieren und weitere zehn Millionen Tonnen zu importieren. Viele andere große Volkswirtschaften haben nationale Strategien zum Aufbau von Wasserstoffkapazitäten aufgestellt.

»Alles hat sich geändert – die gesamte Gleichung sieht nun anders aus«, sagt RMI-Wirtschaftsexperte Patrick Molloy. Vor allem die Steuererleichterungen in den USA haben die Kosten für grünen Wasserstoff dort, je nach Standort, auf die Kosten für grauen Wasserstoff von etwa einem Dollar pro Kilogramm oder weniger gesenkt (siehe »Die Kosten sauberen Wasserstoffs«). Damit sind wasserstoffbasierter Stahl, Ammoniak und flüssige Kraftstoffe nach Berechnungen des RMI bereits wettbewerbsfähig gegenüber ihren Pendants aus fossilen Brennstoffen.

Kosten für sauberen Wasserstoff | Noch ist »grüner« Wasserstoff deutlich teurer als »grauer« oder »blauer«. Mit Hilfe entsprechender Maßnahmen, lässt sich sauberer Wasserstoff aber zunehmend wettbewerbsfähig herstellen.

Ohne Subventionen wären Produkte, die mit sauberem Wasserstoff hergestellt wurden noch immer teurer als ihre umweltschädlichen Pendants. HYBRIT und H2 Green Steel etwa geben nicht an, wie hoch ihre Produktionskosten voraussichtlich liegen. Eine Möglichkeit ist, dass Regierungen Maßnahmen zum Kauf von grünem Stahl ergreifen, wie es US-Präsident Joe Biden im Rahmen der Buy-Clean-Bestimmung im Dezember 2021 zugesagt hat.

Die IEA geht davon aus, dass die weltweite Wasserstoffnachfrage bis 2030 um 20 bis 30 Prozent steigen könnte. Die bisher geplanten kohlenstoffarmen Wasserstoffprojekte werden nur etwa ein Viertel davon abdecken können. Das deutet darauf hin, dass die Pläne für den Ausbau der Wasserstoffproduktion noch nicht ehrgeizig genug sind: Um die Welt bis Mitte des Jahrhunderts auf den Weg zu Netto-null-Emissionen zu bringen, müssen bis 2030 etwa 180 Millionen Tonnen Wasserstoff produziert werden, die Hälfte davon emissionsarm.

Ökonom Oleksiy Tatarenko jedoch weist darauf hin, dass es nicht unmöglich sei, dass die weltweite grüne Wasserstoffproduktion bis 2030 das benötigte Level erreicht. »Wir sollten extrem ambitioniert sein«, sagt er.

»Dieser Wandel liegt sowohl in den Ländern mit hohem Einkommen als auch in den Schwellenländern voll und ganz im Rahmen unserer technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten«Rebecca Dell, Leiterin des Industrieprogramms bei der ClimateWorks Foundation

Andere Experten warnen davor, dass die Subventionierung von Wasserstoff dazu führen könnte, dass auch die nicht grüne Variante gefördert wird und die CO2-Emissionen deshalb tragischerweise steigen statt sinken. Eine umstrittene Maßnahme, die derzeit von der Europäischen Kommission geprüft wird, würde die EU-Definition von grünem Wasserstoff verwässern, so dass er teilweise mit Strom, der aus fossilen Brennstoffen erzeugt wurde, hergestellt werden könnte.

Die Umstellung der Wirtschaft auf Wasserstoff wird auch soziale Auswirkungen haben. Selbst mit Subventionen und massiven Investitionen wird die Schwerindustrie in einigen Regionen immer noch einen Wettbewerbsnachteil haben. Da Wasserstoff teurer und technisch schwieriger zu transportieren ist als Kohle, könnten Industrien wie die Stahlindustrie gezwungen sein, näher an Standorte zu ziehen, an denen Wasserstoff billig produziert werden kann, sagt Rebecca Dell von ClimateWorks. »Diese Orte könnten dann auch in anderen Ländern liegen.«

Obwohl diese und andere politische Fragen das Tempo der Umstellung verlangsamten, gebe es keine unlösbaren Herausforderungen mehr, fügt sie hinzu. »Dieser Wandel liegt sowohl in den Ländern mit hohem Einkommen als auch in den Schwellenländern voll und ganz im Rahmen unserer technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten«, sagt Dell.

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