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News: Kannibalismus im Meer

Wenn Nahrung knapp wird, sind ungewöhnliche Wege gefragt, um zu überleben. Sogar die eigenen Nachkommen müssen in einem solchen Notfall manchmal als Futter herhalten. So fressen auch Ruderfußkrebse, winzige Zooplankter in den Ozeanen, offenbar ihre eigenen Eier, wenn sie nicht genügend Algen zur Verfügung haben. Das macht Modelle zur Populationsentwicklung der Tiere um einiges komplizierter.
Beinahe täglich sammelten Hans-Jürgen Hirche vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung und seine Kollegen bei Wind und Wetter im norwegischen Meer Ruderfußkrebse oder Copepoda der Art Calanus finmarchicus – millimetergroße Krebstiere, die sich von Phytoplankton ernähren und ihrerseits die Hauptspeise für zahlreiche Fische, Meeressäuger und Seevögel sind. Die Daten schickten sie an Mark Ohmann von der Scripps Institution of Oceanography, der sie mit einer neuen numerischen Methode analysierte, die er eigens für Copepoden entwickelt hatte. Auf diese Weise wollten die Forscher klären, wie sich die Lebensgemeinschaften im Laufe der Zeit und bei unterschiedlichem Nahrungsangebot entwickeln. Dabei konzentrierten sie sich allerdings nicht nur auf den gängigen Parameter Geburtenrate, sondern untersuchten auch die Sterblichkeit. Denn bisher gingen Wissenschaftler davon aus, dass diese einigermaßen konstant ist.

Weit gefehlt, stellten Hirche und Ohmann fest. Bereits Ende März traten die ersten ausgewachsenen Weibchen und auch späte Jugendstadien auf, deren vorangegangene Generationen in den tieferen Regionen überwintert hatten. Damit begann die Fortpflanzungsphase und Eiproduktion schon 40 bis 50 Tage vor der nahrungsspendenen Algenblüte, was den Annahmen in vielen Ökosystemmodellen widerspricht. Von den Eiern jedoch überlebten nur wenige – in den ersten 20 Tagen schlüpften nahezu keine Nauplien, die "Larvenstadien" der Copepoden. Die höchste Mortalität zeigte sich nach 14 bis 15 Tagen. Erst danach stieg die Zahl der Jungkrebse an, und die Population begann zu wachsen.

Was ist der Grund für diese hohe Sterblichkeit in den ersten knapp drei Wochen? Die Strömungsumwälzungen allein können es nicht sein, denn durch sie verliert die Population rein rechnerisch pro Tag nur etwa 20 Prozent der Eier. Deren durchschnittliche Mortalitätsrate beträgt mit 83 Prozent aber das Vierfache davon. Eine weitere Möglichkeit – giftige Stoffwechselprodukte von Kieselalgen – kommt ebenfalls nicht in Betracht, da deren Konzentrationen im Wasser zu diesem Zeitpunkt noch viel zu gering sind. Und auch eine mangelnde Versorgung mit Mikronährstoffen dürfte wohl nicht die Ursache sein, da dann mehr Eier überleben müssten, wenn sich die Nahrungsversorgung bessert. Das ist aber nicht der Fall, obwohl Hirche und Ohmann diesen Faktor nicht ganz ausschließen konnten.

Den Forschern fiel jedoch auf, dass die Sterberate direkt proportional zur Zahl ausgewachsener Weibchen und Vertretern der letzten Juvenilstadien war. Die Geburtenrate blieb davon völlig unberührt. Die ihrer Ansicht nach einfachste Erklärung lautet daher: Kannibalismus. Und Versuche zeigten, dass die nahezu ausgewachsenen und die adulten Tiere sich durchaus Eier von Artgenossen und ähnlich große Zooplankter einverleiben, und das sogar sehr effektiv. Als die Wissenschaftler die im Experiment festgestellten Fressraten auf die Meerespopulation übertrugen, stellten sie fest, dass sie damit – zumindest unter bestimmten Bedingungen – die hohe Eisterblichkeit erklären konnten.

Ein solcher Ei-Kannibalismus spielt besonders in Zeiten mit schlechter Nahrungsversorgung, also vor der Algenblüte, eine wichtige Rolle. Denn wenn schon für die Alten nicht genug da ist, wovon sollte dann der Nachwuchs leben? Womöglich ist es also eine Methode, mit der die Tiere abhängig von der Populationsdichte die Größe ihrer Lebensgemeinschaft kontrollieren.

Dass die Populationsdynamik der Copepoden demnach, was den Tod betrifft, nicht ganz so gleichmäßig verläuft wie bisher angenommen, sondern die Mortalitätsrate im Laufe des Jahres sehr stark schwankt, hat noch weitere Folgen. Schließlich sind die kleinen Krebstiere die Basis für zahlreiche Nahrungsnetze, und das Wissen, wie sich ihre Bestände entwickeln, eine wichtige Grundlage beispielsweise für die Fischerei. Deshalb schlagen die Autoren vor, bei Vorhersagen zur Entwicklung von pelagischen Ökosystemen nicht nur Veränderungen in der Durchmischung und Zirkulation der Ozeane zu berücksichtigen, sondern auch solche Nichtlinearitäten in der Populationsentwicklung.

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