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News: Kannibalismus unter Kristallen

Die Großen fressen die Kleinen. Das gilt für Tiere, Seifenblasen - und Kristalle. Denn wenn sich die ersten Kristallkörnchen im nahezu schwerelosen Raum frei bewegen dürfen, dann stillen die umfangreicheren Exemplare ihren Hunger offenbar an den kleineren Nachbarn, wenn sie ihnen nur nahe genug kommen.
Ganz still und heimlich fängt es an. Noch ist das Wasser in der Pfütze flüssig, doch an manchen Stellen lagern sich die Moleküle in einer geordneten Struktur an – sie bilden erste, winzige Kristallite. Sie wachsen und wachsen, stecken immer mehr Moleküle an, sich ihnen anzuschließen – bis der ganze Wasserkörper durch und durch erstarrt, gefroren ist, gefangen in einer regelmäßigen Kristallstruktur.

Viele Punkte des Kristallisationsprozesses sind noch unklar, da er sehr schnell ablaufen kann. Physiker weichen daher häufig auf ein Modellsystem mit winzigen Kunststoffkugeln von weniger als einem Mikrometer Durchmesser in öligen Flüssigkeiten aus. Unter geeigneten Bedingungen kristallisieren diese Kolloide langsam, wobei sie ebenfalls zunächst winzige Kristallite bilden. Wissenschaftler können sie dabei mit sichtbarem Licht beobachten, anstatt wie bei richtigen Kristallen aufwändige Röntgenbeugungsverfahren verwenden zu müssen.

Doch bei Experimenten auf der Erde hat zudem die Schwerkraft störende Finger im Spiel. Sie verschleiert oder verhindert sogar manchen Vorgang, da die beteiligten Teilchen in dem Öl absinken oder aufschwimmen, was den Kristallisationsprozess unterbricht. Also verlagerten Paul Chaikin von der Princeton University und seine Kollegen ihre Versuche in eine gravitationsarme Gegend – das Space Shuttle auf einem Raumausflug.

Zwei Wochen lang ließen sie eine Videokamera darüber wachen, wie acht Kolloidproben an Bord des Raumfahrzeugs kristallisierten. Die Ergebnisse sind verblüffend, denn sie widersprechen den bisher gängigen Vorstellungen über diesen Prozess. Zunächst verlief alles noch wie erwartet: Winzige Kristallkeime bildeten sich überall in den Gefäßen. Nach etwa 150 Sekunden jedoch vergrößerten sich zwar die Kristallite auch weiterhin linear, doch die Kristallinität der Lösung nahm nicht in gleichem Umfang zu. Somit musste also die Zahl der Kristallite insgesamt sinken.

Und zwar schwinden die Kleinen auf Kosten der Großen, vermuten die Wissenschaftler. Verantwortlich dafür sind die unterschiedlich stark gekrümmten Oberflächen und damit das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen der Kristallite. Denn bei den kleineren Exemplaren stehen im Vergleich mehr oberflächliche Teilchen mit der umgebenden Flüssigkeit in Verbindung als bei den größeren Nachbarn. Die Außenschicht löst sich somit bei ihnen eher ab.

Dieser Vorgang ist aus späteren Stadien einer Kristallisation durchaus bekannt, doch dass er bereits so früh, bei noch weit auseinander liegenden Kristalliten auftritt, ist neu. Die Forscher vermuten daher, dass es womöglich nur wenigen der großen Exemplare gelingt, sich derart an den kleineren zu bereichern – wenn sie nahe genug aneinander vorbei driften.

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