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Jahresrückblick: Katastrophaler Eindruck

Tsunamis, Erdbeben, Hurrikans - wieder einmal beherrschten Katastrophenmeldungen das geowissenschaftliche Nachrichtenspektrum. Dazu die alten Bekannten Klimawandel und Artensterben, die um nichts grundlegend Neues, aber weitere bedrohliche Details bereichert wurden. John Cleese und Joschka Fischer dürfen sich dafür über Auszeichnungen der besonderen Art freuen, ein Specht sorgt für Hickhack, und wir lernten, wie Eisberge singen.
Die Erde
Wer denkt, der Boden zu unseren Füßen biete doch eigentlich guten Halt, um mit beiden Beinen fest darauf zu stehen, der wurde im ausklingenden Jahr 2005 eindeutig eines Besseren belehrt. Fast drängt sich der Eindruck auf, die Natur wollte dem Menschen einmal demonstrieren, was ihr an Unbill so alles einfallen könnte: Nach dem verheerenden Seebeben des vorangegangenen Jahres erschütterten zahlreiche Nachbeben weiterhin die Region, im Sommer litten die Karibik, Mittel- und Nordamerika unter einer extremen Hurrikan-Saison, und in Kaschmir bebte die Erde wie seit 1905 nicht mehr. Hunderttausende Menschen starben, unzählige wurden obdachlos und verloren ihr gesamtes Hab und Gut. Und mag auch die Spendenbereitschaft direkt nach den Ereignissen groß gewesen sein – in Kaschmir geht es noch immer ums nackte Überleben des Winters in den Bergen, und für die Menschen in den Tsunami- und Hurrikan-Gebieten stellt sich die Frage, wo und wie es weitergehen soll.

Wissenschaft in schweren Zeiten

Hurrikan Katrina | Hurrikan Katrina saugte seine Energie aus einem ungewöhnlich warmen Golf von Mexiko.
Angesichts des Elends scheint es fast zynisch, nach wissenschaftlichen Neuigkeiten rund um die unruhige Mutter Erde zu fragen. Doch wachsen mit jeder Katastrophe auch die Erkenntnisse, wie sich solche Ereignisse wenn schon nicht vermeiden, so doch sicherer vorhersagen lassen. Daher wundert es nicht, dass Analysen rund um das Seebeben im Indischen Ozean vom Dezember 2004 den Weg in die Fachmagazine fanden. Und die Wissenschaftler am Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) dürfen sicher mit Recht ein bisschen stolz sein, dass ihr Frühwarnsystem in Zukunft in der Region wachen wird. Seit November werden die ersten GPS-Bojen ausgebracht, in ein bis drei Jahren soll das insgesamt 25 Stationen umfassende System installiert sein.

Auch an der Erdbebenvorhersage wird fieberhaft gearbeitet. So konnten Forscher klären, warum das bislang heftigste registrierte Beben von Chile im Jahr 1960 diese ungeheure Stärke hatte und wie sich aus den ersten Sekunden bereits Rückschlüsse auf die endgültige Stärke des Bebens ziehen lassen. Auch die Bedeutung kleiner Beben für die Prognosen offenbarte sich. Doch bislang haben nur kalifornische Bürger die Möglichkeit, ähnlich des Wetterberichts das tägliche Erdbebenrisiko online abzurufen.

Während der Mensch an den Beben nun wirklich unschuldig ist, muss er sich im Fall der Hurrikans wohl durchaus an die eigene Nase fassen. Natürlich fallen die alljährlichen Wirbelsturmzeiten jeweils unterschiedlich heftig aus – doch die wärmeren Meerestemperaturen aufgrund der menschgemachten globalen Erwärmung dürften ihr Scherflein zur diesjährigen besonders aktiven Sturmsaison beigetragen haben.

Schleichende Katastrophen

Im Schatten dieser plötzlichen Paukenschläge standen die schleichenden Katastrophen. Die WHO meldete, dass die Umweltverschmutzung im pazifischen Raum jährlich eine Million Menschenleben fordert. Sich ausbreitende Wüsten und Dürregebiete bedrohen inzwischen zwei Milliarden Menschen, der Klimawandel fördert die Ausbreitung von Seuchen, und immer mehr Menschen müssen mit immer knapperen Wasserreserven auskommen. Und der Blick in die Zukunft macht bange: Laut letzter Schätzung der Vereinten Nationen werden im Jahr 2050 neun Milliarden Menschen den Blauen Planeten bevölkern. Währenddessen beschäftigten sich Schlagzeilen in Europa mit den – merkwürdig anmutend – gar nicht so üblen Umweltfolgen des GAUs von Tschernobyl und drohenden Fahrverboten wegen zunehmender Feinstaubbelastung in Städten.

See auf Ellesmere Island | Durch den Klimawandel taut das Eis auf arktischen Seen früher ab, und die Gewässer bleiben länger eisfrei als in früheren Zeiten. Die Folge: Bestimmte Algenarten sorgen für reichliche Blüte, während Spezies des Seegrunds, die von langen Eisphasen profitierten, mehr und mehr verschwinden.
Doch zurück zum Klima, jenem komplexen Puzzle, das auch dieses Jahr wieder um so manches entscheidende Teil vervollständigt wurde. So konnten Forscher die Auswirkungen von Aerosolen und Vulkanausbrüchen auf das Klimageschehen genauer bestimmen, tiefere Blicke in die Eisarchive werfen oder höhere Einsichten in den oberen Atmosphärenschichten gewinnen. Ein besonderer Fokus lag auf den arktischen Breiten, und die entstandenen Bilder zeigen leider wenig Erfreuliches. So bestätigte sich der lange gehegte Verdacht, dass Wälder ihre erhoffte Rolle, die globale Erwärmung abzumildern, wohl keineswegs erfüllen werden, im Gegenteil: Wieder zeigten Experimente und Vor-Ort-Messungen, dass sie sogar zur Kohlendioxid-Quelle werden können, und Aufforstung auch aus anderen Umweltbedenken heraus nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss ist. Hinzu kommen die Sorgen um die ungeheuren Kohlenstoff-Reserven, die momentan noch gut gekühlt in den Permafrostböden, Sümpfen und Mooren der Tundra schlummern – der Eisschrank schmilzt allerorten, und der Tundra wird allmählich warm. In arktischen Seen blüht ungeahntes Leben – so ihnen nicht der Eisstöpsel gezogen wurde und sie gleich ganz verschwinden.

Nordatlantische Zirkulation | Eine gigantische Umwälzpumpe sorgt für ausgeglichenes Klima in Europa. Doch Messungen zeigen, dass sich der Golfstrom in den letzten Jahrzehnten verlangsamt habe.
Weiter südlich werden vor allem Bergregionen und der Mittelmeerraum den Wandel spüren, erbrachte eine interdisziplinäre Studie, die nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Experten aus der Praxis an einem Tisch versammelte. Die Erkenntnis, dass der Klimawandel selbst bei sofortigem Nullwachstum der Treibhausgas-Konzentrationen nicht mehr zu stoppen wäre, dämpft doch stark die Freude, dass im Februar durch Putins Unterschrift das Kyoto-Protokoll endlich in Kraft getreten ist. Und auch die vorsichtig optimistische Bilanz der Weltklimakonferenz in Montreal dürfte weit weniger ins Bewusstsein durchdringen als großbuchstabige Schlagzeilen wie "Deutschland vereist" angesichts eines nachweislich verlangsamten Golfstroms – und das nach einem Sommer, der als zweitwärmster seit 1880 rangiert. Interessanterweise hatte der Boulevardjournalismus überhaupt das Klima dieses Jahr als Schlagzeilenthema entdeckt. Klimapionier Charles Keeling, der am 20. Juni des Jahres an einem Herzinfarkt starb, hätte darüber sicherlich nur noch den Kopf geschüttelt. Als er begann, Kohlendioxid-Konzentrationen in der Luft über die Jahre hinweg aufzuzeichnen, sprach noch niemand von globalem Klimawandel. Heute zweifelt daran kaum jemand mehr.

Weiterhin Alarmstufe Rot für die Lebewelt

Zahlreiche neue Erkenntnisse zeigten auch, dass die Lebewelt um uns längst auf den Wandel des Klimas reagiert. Verschiedene Arten dehnen ihre Verbreitungsgebiete aus, andere ziehen sich in letzte Zufluchtsgebiete zurück. Manche kommen mit den neuen Bedingungen prima zurecht, andere kämpfen ums Überleben. Doch nicht nur das Treibhaus macht Tieren und Pflanzen zu schaffen, auch Lebensraumverlust bedroht immer mehr Spezies: Allein bei den Vögeln ist inzwischen mehr als ein Fünftel der Arten in unterschiedlichem Ausmaß in ihrer Existenz gefährdet. Einer umfassenden Analyse zufolge sind in knapp 600 Gebieten weltweit fast 800 Spezies von Säugetieren, Vögeln, Reptilien, Amphibien und Nadelhölzern unmittelbar vom Aussterben bedroht, weil sie nur noch dort vorkommen – doch nur ein Drittel der Gebiete genießt einen Schutzstatus. Und Tropenökologen schlagen Alarm, weil Satellitenaufnahmen des Amazonasbecken Erschreckendes enthüllten: Der als besonders umweltverträglich gepriesene selektive Holzeinschlag, bei dem nur einzelne wertvolle Bäume entnommen werden, vernichtet ebenso viel Wald wie sonstige Rodung und Kahlschlag. Die diesjährige Rekorddürre in der Region wird die Krise in noch ungeahnter Weise verschärfen.Auf die Spur gekommen

Doch wäre es unfair, nur Schreckensmeldungen aufzuzählen. Denn trotz allem gab es auch Grund zu feiern: Der alte Holzhacker – unter Ornithologen besser bekannt als Elfenbeinspecht – scheint tatsächlich noch zu leben in den Sumpfzypressenwäldern der südöstlichen USA. Zwar gab es erheblichen Forscher-Hickhack um unscharfe Beweisfotos und uneindeutige Klopfzeichen, doch beruhigen sich auch erhitzte Wissenschaftlergemüter wieder.

Der neue Lemur Avahi cleesei | Der neue Lemur Avahi cleesei oder Cleeses Wollmaki. Benannt wurde er nach dem britischen Schauspieler und Ex-Monty Python John Cleese.
Tansanias Arteninventar darf sich über einen neuen Affen freuen, Madagaskar bekam Lemurenzuwachs, wobei sich einer der beschreibenden Zoologen als John-Cleese-Fan entpuppte, und in Laos kam gleich eine ganz neue Säugetierfamilie auf die Liste, wenn auch nur anhand eines leider toten Exemplars auf dem lokalen Markt.

Auch die Fossilienwelt bot dieses Jahr Sehenswertes. Allen voran das allererste Schimpansenfossil, auf das Forscher in Kenia stießen und das etwa 550 000 Jahre alt ist. Deutlich mehr auf dem Buckel, vielleicht auch an Bedeutung, hat das zehnte Exemplar eines Archaeopteryx, der schon lange nicht mehr im Boden, sondern in einer Schweizer Privatsammlung schlummerte: Sein außergewöhnlich guter Zustand, insbesondere des Schädels, lieferte wertvolle Hinweise auf die Evolution der Vögel. Dumm nur, dass das Exemplar womöglich wieder in privaten Schränken verschwinden wird. Überhaupt gab es einige Neuigkeiten zur Vogelevolution: In China stießen Paläontologen auf den bislang ältesten Vogel überhaupt – ein früher Kreidezeitler mit seinen 125 Millionen Jahren –, und in einer Tongrube in der Nähe des badischen Wieslochs kam ein weiterer Ur-Kolibri zu Tage, spannenderweise aber mit Federn. Ein Argument mehr für die Debatte, inwieweit Vögel nichts anderes sind als gefiederte Dinosaurier, lieferten Raubsaurier mit Vogellunge.

Kopf eines ausgewachsenen Dinosauriers und Embryo | Skelett eines etwa 15 Zentimeter langen Massaspondylus-Embryos im Ei im Vergleich zum Schädel des größten bekannten ausgewachsenen Massospondylus carinatus.
Überhaupt Dinos: Ein wahrer Fossilienregen prasselte da im ausklingenden Jahr auf die Forscher nieder. Am nettesten dabei sicherlich die ältesten Dinosaurierbabys der Welt: 190 Millionen Jahre alt sind die Funde aus Südafrika. Sie sind damit gleichzeitig auch die ältesten bekannten Landwirbeltier-Embryonen überhaupt. Durch detaillierte Analysen des Körperbaus von Ichthyostega-Fossilien klärten Forscher außerdem die anatomischen Voraussetzungen für den ersten Wirbeltier-Landgang. Apropos älteste: An lebende Luftmatratzen erinnernde Fossilien mal wieder aus China bieten womöglich detaillierte Ansichten, wie Mensch sich den Bauplan der urtümlichen Ediacara-Fauna vorzustellen hat – jenen obskuren Kreaturen, die vor der Kambrischen Explosion die frühen Weltmeere besiedelten. Und apropos Schubladen: In einer solchen kamen im Pariser Museum für Naturgeschichte Überreste eines sieben Meter langen und wohl 350 Millionen Jahre alten Riesenlurchs ans Licht. In Schottland zeigten sich Fußspuren eines ähnlich alten, fast mannsgroßen Urskorpions – war Nessie etwa schon damals unterwegs? Und Jurassic Park direkt entstiegen scheint das Fossil eines bislang noch unbekannten kurzschnäuzigen Krokodils aus Patagonien, das sich wohl auf große marine Wirbeltiere spezialisiert hatte. Ob es wie eine in der Grube Messel gefundene fossile Schlange einst einen berühmten Namen tragen wird, muss sich noch zeigen. Durch Palaopython fischeri jedenfalls ist unser ehemaliger Außenminister nun auch in der Zoologie verewigt.

Kernfragen

Zurück zur "harten" Geowissenschaft, und von der Oberfläche in die Tiefe: Auch über das Innere unseres Planeten, direkten Blicken leider nicht zugänglich, lernten Wissenschaftler viel Neues. Mager zwar sind bislang noch die Ergebnisse der Neutrino-Durchleuchtung, doch gibt es erste Ergebnisse zur Wärmeenergie. Zum Erdmantel gibt es Widersprüchliches – zum einen deuten Resultate aus Isotopenanalysen an, dass er im Ganzen umgewälzt wird und demnach keine Schichtung aufweist, dieselben Methoden erbringen in anderen Studien, dass sich die Zwischenlage sehr wohl und das auch sehr schnell in zwei Schichten getrennt haben soll. Während es hier also weiter Diskussionen geben wird, scheint eine andere beendet: Der feste innere Erdkern rotiert tatsächlich schneller als die Erdkruste und -mantel. Und außerdem enthält er offenbar nicht nur Eisen und Nickel, sondern auch leichtere Elemente wie Schwefel, Sauerstoff und Silizium.

15. April 2005 | In den Aufnahmen vom 15. April zeigt sich die zerstörerische Kraft: Während der Eisberg B-15A selbst unbeschadet blieb, verliert die Drygalski-Eiszunge ein fünf Kilometer langes Stück ihrer Spitze.
Zum Schluss noch in die Antarktis – Eisberge lieferten hier spektakuläre Bilder und Töne. Im April riss ein treibender Koloss von der Größe Luxemburgs eine ganze Eiszunge ab und versperrte Schiffen und Pinguinen den Weg. Und im November konnten Forscher des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung endlich klären, was ihren Unterwassermikrofonen im Jahr 2000 die technischen Ohren vollgedröhnt hatte: Die Klänge, die teilweise an dumpfe Schläge, Wimmern und Schreien erinnerten, stammten schlicht von kollidierenden Eisbergen. So viel Musikalität hätte ihnen wohl niemand zugetraut. Ob sich aber die Ergebnisse, wie geplant, auch zur Vorhersage von Vulkanausbrüchen nutzen lassen, wird sich frühestens im nächsten Jahr klären.

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