Katholizismus: Der Papst, der die Unfehlbarkeit erfand
Des Nachts still und heimlich sollte die Umbettung über die Bühne gehen. Drei Jahre lang, seit 1878, hatte der Leichnam von Papst Pius IX. in einer Gruft im Petersdom gelegen. Allerdings eher provisorisch. Erst jetzt wagte es sein Nachfolger Leo XIII., den Toten in eine der Pilgerkirchen Roms zu überführen. Doch kaum hatte der Leichenwagen den Petersplatz überquert, strömten zahlreiche Menschen herbei – und schrien: »Viva l'Italia. Morte al Papa! Morte ai preti! Al fiume il Papa porco! Al Tevere la carogna« – »Es lebe Italien. Tod dem Papst! Tod den Priestern! In den Fluss mit dem Schweinepapst! In den Tiber mit dem Aas!« Einige bewarfen die Pferdedroschke mit Steinen. Andere versuchten, den Sarg zu erreichen, um ihn in den Fluss zu befördern.
Zu Lebzeiten und über den Tod hinaus war Papst Pius IX. eine Hassfigur für die nationalbewussten Italiener. Mit seiner Politik hatte er die Einigung Italiens blockiert. Die Gründung des Königreichs im Jahr 1861 konnte das Kirchenoberhaupt zwar nicht verhindern, aber die Urheber und Anhänger des Nationalstaates exkommunizieren und sie so als Feinde der Kirche brandmarken. Dennoch: Sehr viele Katholiken, auch in Italien, verehrten ihn innig. Für sie war er ein »Identitätspunkt, der ihnen in den Irrungen und Wirrungen der neuen Zeit Orientierung und Sicherheit verlieh«, schreibt der Kirchenhistoriker Hubert Wolf von der Universität Münster. Fühlten sich doch die katholische Kirche und zahlreiche ihrer Gläubigen bedroht von den Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution – Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte galten ihnen als Teufelszeug. In seiner Biografie über Pius IX. schildert Wolf, wie der Mann, der am 13. Mai 1792 im Adriastädtchen Senigallia als Giovanni Maria Mastai Ferretti zur Welt kam, zum römisch-katholischen Kirchenoberhaupt aufstieg und sein Amt in eine Art päpstliche Monarchie umformte. Pius IX. schuf einen Katholizismus, an dessen Spitze ein unfehlbarer Gottesmann steht.
»Heute macht jemand sich selbst zum Gott«
Durch das Unfehlbarkeitsdogma erlangte dieser Papst Berühmtheit. Er hatte es auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 gegen große Widerstände durchgesetzt. Die Erklärung zum Dogma beginnt mit den Worten »Pastor aeternus et episcopus animarum nostrarum«, zu Deutsch: »Der ewige Hirte und Bischof unserer Seelen«. Pius schlug mit diesem Satz ein neues Kapitel der Kirchengeschichte auf: Mit seinen Entscheidungen würde der Papst demnach nie irren. Als Privatperson ist er natürlich nicht unfehlbar. Aber im Sinne der katholischen Kirche, wenn er über grundlegende Glaubens- oder Sittenlehren »ex cathedra« spricht, also kraft seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen.
Die Mehrheit der 535 Bischöfe und Kardinäle, die Konzilsväter, wie sie auch genannt wurden, stimmte bei der entscheidenden Wahl dem Dogma zu. Doch eine Minderheit stellte sich entschieden dagegen. Schon im Vorfeld des Konzils hatten liberale Katholiken gefürchtet, dass eine solche Wende das Ansehen der Kirche verschlechtern würde – bei der gebildeten Oberschicht, in den übrigen europäischen Staaten und bei Christen anderer Konfessionen. Der Münchner Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger (1799–1890) beklagte damals anonym in einem Artikel in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung«, dass von nun an jede theologische Arbeit überflüssig werde, würde doch »ein einziger Ausspruch des untrüglichen Papstes die gewissenhafte theologische Arbeit eines halben Menschenalters wie durch einen Hauch zu zertrümmern« vermögen. Und der kroatische Bischof Josip Stroßmayer (1815–1905) schrieb in einem Brief: »Die römischen Kaiser wurden durch einen servilen Senat zum Gott erhoben; heute macht jemand sich selbst zum Gott, und wir sollen es unterschreiben.«
Das Hauptargument der Kritiker lautete: Weder in der Tradition noch in den Schriften gebe es Belege für ein solches Dogma. Theologische Autoritäten wie Thomas von Aquin (1225–1274) hätten ein derartiges Glaubensmonopol nicht vorgesehen. Denn die katholische Kirche vertraut – anders als die Protestanten – nicht nur auf das Alte und das Neue Testament, sondern auch auf die mündliche Überlieferung, die Schriften der Kirchenlehrer und auf Konzilsbeschlüsse. Zudem verstand sich die Kirche im ersten Jahrtausend ihres Bestehens als Gemeinschaft – als Communio von Ortskirchen, denen Bischöfe vorstanden. Der Papst galt als Bischof von Rom, der nur dann von seinen Standesgenossen konsultiert wurde, wenn sich die Synoden nicht einigen konnten, wie der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück in der »Neuen Zürcher Zeitung« schreibt. Im Lauf des zweiten Jahrtausends gewann das Papsttum dann an politischer Macht und entwickelte sich zu einer Art Monarchie. Aber bis zu Pius IX. war die Vorrangstellung des Kirchenoberhaupts keinesfalls festgeschrieben. Selbst noch auf dem Konzil von Trient (1545–1563), mit dem die katholische Kirche auf die Reformation reagierte und sich erneuern wollte, war nicht festgelegt, ob die Konzilien oder der Papst das letzte Wort haben sollten.
»Ich, ich bin die Tradition – ich, ich bin die Kirche«
Den Widerstand einiger Bischöfe auf dem Ersten Vatikanischen Konzil von 1870 erboste Papst Pius IX. Ihre Kritik kratzte am Selbstverständnis des Kirchenmanns. Wie sehr, das offenbart ein Gespräch zwischen ihm und dem Kardinal Filippo Maria Guidi. Dieser hatte sich ebenfalls mit Verweis auf Thomas von Aquin dagegen ausgesprochen, dass der Papst alleinig an den Grundfesten des katholischen Glaubens rütteln könne. Er müsse zuvor die Bischöfe konsultieren und sei verpflichtet, »für die unfehlbaren Dekrete die Traditionen der Kirchen zu befragen«. In den Augen von Pius sei dies ein Irrtum. Der Kardinal widersprach. Darauf der Papst: »Doch, es ist ein Irrtum, denn ich, ich bin die Tradition, ich, ich bin die Kirche«. »Io, io sono la tradizione«, soll Pius gesagt haben. »Io, io sono la Chiesa!«
Auch die deutschen Bischöfe sprachen sich zum großen Teil gegen das neue Dogma aus, doch sie konnten sich auf dem Konzil nicht durchsetzen. Noch vor der entscheidenden Schlussabstimmung reisten sie aus Rom ab. Nach und nach erlahmte ihr Widerstand. Zu stark war der Druck von Seiten konservativer Kreise und der römischen Kurie. Übrig blieb ein kleines Häuflein Oppositioneller, das Pius kurzerhand exkommunizierte. Die Gruppe galt damit innerhalb der römisch-katholischen Kirche als rechtlos. Bald danach baute sie eigene Gemeinden auf und firmierte unter dem Namen Altkatholiken, Angehörige der Alten Kirche.
Das Primat des Papa
Fast unbemerkt fügte Pius IX. der Konstitution »Pastor aeternus«, dem Gesetzeswerk zur Unfehlbarkeit, noch eine weitere Erklärung hinzu, die es in sich hatte: das Jurisdiktionsprimat des römischen Bischofs. Damit erklärte Pius, dass »Hirten und Gläubige, unabhängig von Rang und Ritus, (…) zur hierarchischen Unterordnung und zu echtem Gehorsam verpflichtet sind«, schreibt Kirchenhistoriker Wolf. Das Primat degradierte die Bischöfe laut Wolf »endgültig zu Oberministranten des Papstes«. Und in der Zukunft entwickelte sich hieraus die besondere Macht des römisch-katholischen Kirchenoberhaupts. Die Vormachtstellung des Papstes war und ist viel bedeutender als das Unfehlbarkeitsdogma. Letzteres kam bisher nur ein einziges Mal zur Anwendung: 1950 verkündete Papst Pius XII. (1876–1958) das Dogma von der »leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel«. Nach ihrem Tod sei die Gottesmutter Maria also mit Leib und Seele in den Himmel entrückt, lautete die päpstliche Verlautbarung.
Doch mit dem Jurisdiktionsprimat kann der Papst seinen Bischöfen und Gläubigen Anweisungen erteilen, die sie befolgen müssen. Dieses Dogma ist selbst kritischen Katholiken in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn sie über Reformen oder Forderungen diskutieren, fragen sie sich immer auch: Was wird der Papst dazu sagen? »Pastor aeternus«, schlussfolgert Wolf, »stellt den Gläubigen ihren obersten Hirten als absoluten Monarchen vor Augen. Es handelt sich um eine unumschränkte Vollmacht, die sich manche Päpste des Hochmittelalters wie Gregor VII. oder Innonenz III. gewünscht, aber faktisch nie besessen hatten.«
Vom Seelsorger zum erzkonservativen Pontifex
Dass aus dem jungen Giovanni Maria Mastai Ferretti einmal ein Papst werden würde, darauf hätte Anfang des 19. Jahrhunderts wohl keiner seiner Zeitgenossen gewettet. Er selbst vermutlich auch nicht. Noch als 22-Jähriger schrieb der Sohn einer wohlhabenden Grafenfamilie an einen Freund: »Das Beste wäre, die Soutane anzuziehen und das Kollar zu nehmen. Aber unglücklicherweise fehlt mir jede Berufung.« Dabei war er wie sehr viele Menschen jener Zeit durchaus fromm und inniger Marienverehrer. Konkrete Zukunftspläne scheint er jedoch nicht geschmiedet zu haben. Die standesgemäßen Beschäftigungen wie Ausritte zu Pferd, Konzerte und Musik fand er auf Dauer langweilig. Giovanni versuchte daher, in ein napoleonisches Regiment einzutreten – und wurde ausgemustert. Auch sein Versuch im Jahr 1815, in die päpstlichen Garden aufgenommen zu werden, scheiterte. Der Grund: Schon als Kind hatte er unter epileptischen Anfällen gelitten, die erst mit Mitte 20 allmählich verschwanden.
In dieser Zeit entschied er sich dann doch für eine geistliche Laufbahn, wie so manche Adlige, die damals in der Kirche Karrierechancen witterten. Ende 1819 wurde Giovanni Maria Mastai Ferretti zum Priester geweiht. In den folgenden Jahrzehnten erklomm er langsam, aber stetig die kirchliche Karriereleiter. Dabei erwarb sich der Grafensohn einen guten Ruf, zunächst als Armen- und Krankenhausseelsorger, später als umsichtiger, den Menschen zugewandter Bischof und Kardinal. 1846 wurde er zum Papst gewählt. Politisch galt er als gemäßigt und liberal – zumindest am Anfang. Alle vermeintlich fortschrittlichen Ansichten waren nach 1848 jedoch vergessen.
In diesem Jahr musste Pius IX. vor den italienischen Revolutionären aus seinem Kirchenstaat in Rom fliehen. Ganz Europa stand an einem Wendepunkt. In zahlreichen Ländern gingen die Menschen auf die Straße, sie forderten ein Ende monarchischer Strukturen, strebten nach der Gründung von Nationalstaaten. Nicht einmal ein Jahr nach Pius' Flucht stellten Truppen des katholischen Österreich, Frankreich und Spanien die alte Ordnung wieder her, zumindest für einige Jahre. Doch die traumatische Erfahrung der Flucht hatte Papst Pius IX. verändert. Er entwickelte eine streng konservative Haltung. Exemplarisch zeigt sich dies in seiner Enzyklika »Quanta cura«. In einem Anhang führte er darin eine Liste von 80 Irrtümern auf, den berühmt-berüchtigten »Syllabus errorum«. Er verdammte unter anderem die Idee der Religionsfreiheit, der Trennung von Staat und Kirche, der Demokratie und der Menschenrechte. Sein harter Kurs machte ihn bei vielen nationalbewussten Italienern und Revolutionären zu einem verhassten Akteur. Der Unmut brach sich selbst noch nach seinem Tod Bahn, als der Leichnam des Pontifex umgebettet wurde.
Pius IX. war 1878 gestorben, nach dem bisher längsten Pontifikat der Geschichte. Fast 32 Jahre stand er der römisch-katholischen Kirche vor. Zwar hatte er den Kirchenstaat verloren, als im September 1870 italienische Truppen Rom besetzten und eine Volksabstimmung sich für die Vereinigung des Kirchenstaates mit Italien aussprach. Aber die geistliche Herrschaft der Päpste hatte er neu erfunden.
Der Papst entdeckt sein Charisma
Pius IX. setzte in vielerlei Hinsicht Maßstäbe. Unter anderem hat er, so betont es sein Biograf Wolf, die charismatische Herrschaft des Papsttums etabliert. Der Soziologe Max Weber benannte sie als eine der drei Typen der Herrschaftslegitimation. Bei der charismatischen Form ist ein Amt ganz auf eine Person fixiert. Entscheidend sind dabei Charakter, individuelle Eigenschaften und besondere Begabungen, die einem Menschen zugeschrieben werden. Charisma hat Pius wohl besessen. Berichte von persönlichen Begegnungen mit dem Papst speisten den Ruf, er habe eine außergewöhnliche Ausstrahlung. Bewunderer schwärmten von seinem sonnigen Gemüt, seiner Sanftmut und der »unbefleckten Reinheit seines Charakters«. Ein französischer Journalist schrieb über eine Privataudienz: »Ich warf mich vor dem Unsterblichen, vor dem Statthalter Jesu Christi, vor dem Statthalter der Liebe nieder und nannte ihn meinen Vater.«
Es gab auch andere Stimmen, die ein gegensätzliches Bild von der Persönlichkeit des Papstes zeichneten. Launenhaft, impulsiv und leicht zu beeindrucken sei er gewesen. Einige Beobachter sprachen von Größenwahnsinn. Für einen französischen Bischof galt er sogar als notorischer Täuscher und Lügner. Auf dem Konzil soll er Bischöfe Esel und Verräter genannt haben.
Der Verehrung des Papstes in der katholischen Öffentlichkeit schadeten die Berichte nicht. Doch das charismatische Papsttum hat seine Schattenseite, schreibt Wolf. Sobald es Zweifel an der Persönlichkeit des Papstes gibt, schwindet auch die Autorität seines Amtes. Pius IX. prägt allerdings noch immer das Gesicht der katholischen Kirche. Auch das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965 bestätigte das Unfehlbarkeitsdogma und das Jurisdiktionsprimat. Die Folge: Kirche und Moderne sind bis heute nur schwer vereinbar.
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