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Paläoanthropologie: Kein erster Chinese

Ein spektakuläres Fossil aus China sollte eigentlich ein reisender Homo habilis gewesen sein. Oder kamen die ersten Menschen doch erst in Form des Homo erectus in die Gegend - und mieden zudem den Dschungellebensraum des mysteriösen Wesens? Vielleicht war der alte Waldbewohner nur ein Affe.
Schädel eines <i>Homo habilis</i>
Manchmal gerät in Vergessenheit, dass zu guter Forschung auch gehört, "Ich weiß es noch nicht" zu sagen. Zugegeben, das ist gar nicht einfach beim Kampf um Reputation und Fördergelder. Manchmal heißt es deswegen etwas zu früh "Ich weiß", wo zwar viele Fakten genau angeschaut wurden, aber nicht alle. Und ganz gelegentlich wird auch schon einmal dem Eindruck nicht widersprochen, fast alles herausgefunden zu haben, obwohl nur ziemlich wenige Belege überhaupt erst gesichtet wurden.

Gerade Fossilforscher mit dem Spezialgebiet Vor- und Frühmenschen scheinen in dieser Hinsicht besonders gefährdet, wie zum Beispiel der Streit um die Menschenart Homo floresiensis lehrt, bei dem sehr feste Meinungen mit sehr wenigen Beweisen belegt werden. Aber schließlich dürfen Paläoanthropologen ja oft nur sehr wenige Fundstücke sehr lange anschauen und werden dabei trotzdem ständig nach endgültigen Schlussfolgerungen gefragt. Darauf immer wieder "Ich weiß es noch nicht" zu antworten, setzt starke Nerven voraus und ist auch etwas langweilig. Und ein wenig spekulieren kann im Prinzip ja nicht schaden. Genau das hat Russell Ciochon von der University of Iowa vor ein paar Jahren gemacht, nachdem er das merkwürdige Unterkieferbruchstück eines Primatenfossils analysiert hatte, das in Longgupo knapp südlich des Jangtse in China gefunden worden war.

Seine gründliche Arbeit mitsamt angehängter Spekulation wurde 1995 publiziert und viel gelesen. Der 1,8 bis 2 Millionen Jahre alte Unterkiefer, so zeigte Ciochon damals, habe sicher nicht einem modernen oder ausgestorbenen Orang-Utan-Verwandten gehört und sei zudem viel jünger als die ziemlich ähnlichen Reste des weit eher in der Gegend heimischen Frühaffen Lufengpithecus. Der Kiefer hätte fast einem Homo erectus gehören können, war aber doch ein wenig anders. Zudem war H. erectus zur fraglichen Zeit gerade erst aus Afrika aufgebrochen, um nach Asien zu gelangen. Am ähnlichsten sah der chinesische Unterkiefer dem eines Vorläufermodells von H. erectus – von Homo habilis [1]. Nur war diese alte Menschenart nach gängiger Lehrmeinung nie aus Afrika herausgekommen.

Vielleicht eben doch, hatte nun Ciochon 1995 spekuliert. Womöglich sei der asiatische H. erectus ja sogar in Asien aus einem dort schon ansässigen H. habilis entstanden, anstatt aus Afrika zuzuwandern? Schon der H. erectus könnte also in verschiedenen Regionen der Welt, "multiregional", mehrfach entstanden sein. Ganz so also wie später der H. sapiens aus den H.-erectus-Gruppen der verschiedenen Kontinente, wie jene multiregionale Denkschule glaubte, die mit der Out-of-Africa-Theorie der Menschenentwicklung nicht zufrieden war. Deren Anhänger gehen davon aus, dass der moderne Mensch aus Afrika kommend frühere Menschenformen verdrängt hat.

Die Spekulation von Ciochon löste auf jeden Fall spannende Diskussionen aus – nicht zuletzt deshalb, weil immer noch einige Forscher nicht einmal die Existenz des "Homo habilis" anerkennen und ihn eher als schlecht beschriebene Australopithecus-Sonderform angesprochen sehen möchten. Die Fähigkeit, Kontinente zu erobern und in China Stammvater einer lokalen H.-erectus-Gruppe zu werden, passte entsprechend noch weniger in ihr Bild der Menschwerdung.

Jetzt, mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Veröffentlichung, habe er "etwas mehr Abstand zum Thema" gewonnen und es deshalb unter neuen Gesichtspunkten noch einmal genauer anschauen können, schreibt Ciochon nun [2]. Seit seiner ersten Untersuchung vervollständigten unter anderem eine Reihe von fossilen Zähnen aus verschiedenen Regionen das Gesamtbild – Zeit für eine Neubewertung. Ciochon sichtete diese Erkenntnisse, untersuchte viele Zähne selbst erneut, half bei der Datierung und ordnete sie mit chinesischen Wissenschaftlern verschiedensten Arten zu: dem riesigen ausgestorbenen Affen Giganthopithecus etwa, auch dem chinesischen H. erectus.

"Über ein Jahrzehnt später, mit etwas mehr Abstand zum Thema, sehen die Zähne für mich deutlich affenähnlicher aus"
(Russell Ciochon)
Viele Zähne – solche, die früher Australopithecus oder dem großen Affen Meganthropus zugeordnet wurden – gehörten wohl eher einem bislang nicht genauer beschriebenen mittelgroßen Affen, der in den dicht bewaldeten Dschungelregionen des mittleren Chinas umhergestreift war. Dieser Primat war offenbar ein typisches Mitglied der dortigen "Stegodon-Ailuropoda-Fauna". Sie erhielt ihren Namen von den ausgestorbenen Stegodon-Rüsseltieren und den bärenähnlichen Ailuropoda-Riesenpandas. Ciochon warf sogar einen genauen Blick auf jene chinesischen Zähne, die den legendären Fossilforscher Ralph von Königswald in den 1950er Jahren zur Beschreibung der Gattung Hemanthropus gebracht hatten – vermeintlich einer asiatischen Variante des Australopithecus. Später hatte man sie allerdings mitsamt dem Gattungsnamen als untypische Orang-Utan-Zähne zur Seite gelegt. Tatsächlich, so Ciochon nun, sind sie ebenfalls Teil einer unbekannten alten Affenart.

All das, so Ciochon, wirft seine alte Spekulation nun wohl über den Haufen: Wahrscheinlich gehört auch der vermeintliche H.-habilis-Unterkiefer zu diesem Affentypus, der den Fundorten zufolge in den Waldgebieten Asiens vor rund zwei Millionen Jahren recht häufig war. Auffällig auch, dass aus den alten Dschungelregionen nie fossile Überreste des H. erectus geborgen wurden: Der später einwandernde Mensch hat die Waldgebiete wohl gemieden. Stattdessen habe er sich vor etwa 1,6 Millionen Jahren jagend ausschließlich entlang den Savannen und Grasländern ausgebreitet. Für menschliche Vorgängerarten, aus denen er vor Ort entstanden sein könnte, fehle hingegen jeder Beleg.

Alles in allem: "Es gab keine Prä-Homo-erectus-Art in Südostasien", korrigiert Ciochon ganz offen seine alte Meinung, obwohl "ich jahrelang [den Longgupo-Unterkiefer] als Beleg für eine H.-erectus-Vorläuferform herangezogen habe." Nun müsse man weiter forschen, um die fossilen Fundstücke unbekannter Affen ins Stammbaum-Puzzle der asiatischen Affenfamilie einzupassen. Wie das ausgeht, weiß Ciochon noch nicht und freut sich auf neue Erkenntnisse – die Grundvoraussetzung für gute Forschung. Und spannend wie jede gute Spekulation – wenn man bereit ist, sie ehrlich durch eine bessere zu ersetzten, sobald sie sich als nur fast richtig entpuppt.

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  • Quellen
[1] Huang, W. et al.: Early Homo and associated artefacts from Asia. In: Nature 378, S. 275–278, 1995.
[2] Ciochon, R.: The mystery ape of Pleistocene Asia. In: Nature 459, S. 910–911, 2009.

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